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Die Annahme eines unabwendbaren Ereignisses im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG für einen nach links abbiegenden Schlepperfahrer ist bereits dann ausgeschlossen, wenn sein linker Rückspiegel entgegen § 23 Abs. 1 Satz 1 StVO verschmutzt ist und nicht auszuschließen ist, dass der Schlepperfahrer einen überholenden Motorradfahrer ohne Verschmutzung gesehen hätte.
Ein Verstoß des überholenden Motorradfahrers gegen § 5 Abs. 7 Satz 1 StVO kann nicht in die Abwägung der Verursachungsbeiträge eingestellt werden, wenn schon nicht feststeht, dass der Abbiegende seinen linken Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hat, und zudem Zweifel bestehen, ob die Erkennbarkeit des Fahrtrichtungsanzeigers im Hinblick auf seine Verschmutzung (Verstoß gegen § 54 Abs. 1 Satz 3 StVZO) gewährleistet war.
Der Überholende ist nach § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO nicht verpflichtet, seine Geschwindigkeit bei Annäherung an ein zu überholendes Fahrzeug zu ermäßigen, vielmehr muss er den Überholungsvorgang mit möglichster Beschleunigung durchführen (im Anschluss an BGH Urt. v. 19.1.1956 – 4 StR 427/55, BeckRS 1956, 103580 = beck 5).
Der Überholende ist nicht verpflichtet, möglichst frühzeitig einen Spurwechsel vorzunehmen, sondern nach § 2 Abs. 2 StVO gehalten, möglichst lange möglichst weit rechts zu fahren.
Biegt ein Schlepper in einem Wirtschaftsweg ein, hat er nicht nur zuvor rechtzeitig den Fahrtrichtungsanzeiger nach § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO zu setzen und doppelte Rückschau nach § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO zu halten, sondern im Einzelfall – wie hier – trotz fehlenden Abbiegens in ein Grundstück nach § 1 Abs. 2 StVO in entsprechender Anwendung des § 9 Abs. 5 StVO eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen (in Anlehnung an BGH Urt. v. 17.1.2023 – VI ZR 203/22, r+s 2023, 265 Rn. 25, 30; im Anschluss an OLG Naumburg Urt. v. 12.12.2008 – 6 U 106/08, NJW-RR 2009, 744 = juris Rn. 19; OLG Stuttgart Beschl. v. 8.4.2011 – 13 U 2/11, BeckRS 2011, 14283 = juris Rn. 16).
Die Revision ist nicht zugelassen worden. Das Urteil ist nicht zulassungsbeschwerdefähig.
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 16.05.2023 verkündete Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Arnsberg (2 O 239/22) abgeändert:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.
Dieses Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Gründe:
2(abgekürzt gemäß § 540 Abs. 2, § 313a Abs. 1 Satz 1, § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO)
3I.
4Die zulässige Berufung der Beklagten hat Erfolg. Sie ist begründet, da die zulässige Klage unbegründet ist.
51.
6Der Kläger hat gegen die Beklagte wegen der Beschädigungen an seinem Ackerschlepper durch den streitgegenständlichen Verkehrsunfall keinen Anspruch auf Schadensersatz. Ein solcher Anspruch folgt insbesondere nicht aus § 7 Abs. 1 StVG, § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG, § 1 PflVG.
7Zwar sind die Beschädigungen am klägerischen Ackerschlepper bei Betrieb des bei der Beklagten versicherten Motorrades entstanden. Der Anspruch des Klägers ist aber nach § 17 Abs. 2 und 1 StVG ausgeschlossen, weil der Unfall jedenfalls weit überwiegend durch den Führer des klägerischen Ackerschleppers, den Zeugen A, verursacht worden ist.
8a)
9Eine Abwägung der Verursachungsbeiträge ist nicht nach § 17 Abs. 3 Satz 1 und 2 StVG zugunsten des Klägers ausgeschlossen, da sich der Unfall – wie auch das Landgericht festgestellt hat – aus dessen Sicht nicht als unabwendbares Ereignis darstellt. Das Landgericht hat die Feststellung getroffen, dass der linke Außenspiegel verschmutzt war. Dadurch hat der Zeuge A gegen § 23 Abs. 1 Satz 1 StVO verstoßen. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass – worauf das Landgericht nicht näher eingegangen ist – eine freie Rücksicht dazu geführt hätte, dass der Zeuge A das Motorrad rechtzeitig hätte bemerken und den Abbiegevorgang unfallverhindernd abbrechen können.
10b)
11Die mangels Unabwendbarkeit durchzuführende Abwägung der feststehenden – unstreitigen, zugestandenen oder bewiesenen – Verursachungsbeiträge nach § 17 Abs. 1 StVG ergibt eine Alleinhaftung des Klägers.
12aa)
13Zulasten der Beklagten lassen sich keine die Betriebsgefahr erhöhenden Umstände feststellen.
14(1)
15Es war kein Verstoß des verstorbenen Motorradfahrers gegen § 5 Abs. 7 Satz 1 StVO, wonach derjenige, der seine Absicht nach links abzubiegen, angekündigt und sich eingeordnet hat, rechts zu überholen ist, in die Abwägung einzustellen. Ein solcher Verstoß lässt sich nicht feststellen. Zwar ist das Landgericht von einem solchen Verstoß ausgegangen und hat ihn damit begründet, dass der Zeuge A den Fahrtrichtungsanzeiger ca. 130 m vor dem Abbiegevorgang – rechtzeitig – gesetzt habe und dieser für den Motorradfahrer – trotz der Verschmutzungen am Fahrtrichtungsanzeiger – sichtbar gewesen sei.
16Der Senat ist an diese Feststellung des Landgerichts aber nicht gebunden, da an den Feststellungen des Landgerichts Zweifel bestehen. Nach § 529 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist das Berufungsgericht an die vom erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkrete Anhaltspunkte, welche die Bindung an diese Feststellungen entfallen lassen, können sich aus erstinstanzlichen Verfahrensfehlern ergeben. Ein Verfahrensfehler liegt vor, wenn die Beweiswürdigung nicht den Anforderungen genügt, die von der Rechtsprechung zu § 286 Abs. 1 ZPO entwickelt worden sind. Dies ist der Fall, wenn sie unvollständig oder in sich widersprüchlich ist oder gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen können sich außerdem aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht die Beweisaufnahme anders würdigt als die Vorinstanz. Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, ist es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet (st. Rspr.; vgl. BGH Urt. v. 16.11.2021 – VI ZR 100/20, r+s 2022, 48 Rn. 15 f.; Senat Beschl. v. 7.1.2021 – 7 U 53/20, BeckRS 2021, 2530 = juris Rn. 21 m. w. N.).
17Auch nach erneuter Beweisaufnahme lässt sich ein Verstoß des Motorradfahrers insoweit nicht feststellen. Der Umstand, dass der Blinker bei Eintreffen der Polizei gesetzt war, begründet isoliert keinen Beweis, dass er auch rechtzeitig vor dem Abbiegen gesetzt worden ist (OLG Hamm Urt. v. 2.3.2012 – 9 U 193/11, juris Rn. 28), da zum einen der Blinker zwar vor dem Abbiegen, aber zu spät gesetzt worden sein kann, zum anderen aber auch nach dem Unfall, nachdem der Fahrer seinen Fehler bemerkt hat.
18Auch aufgrund der Bekundungen des Zeugen A ließ sich kein Verstoß feststellen. Zwar hat der Zeuge vor dem Landgericht und dem Senat bekundet, er habe den Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt und sich eingeordnet. Diese Bekundung ist allerdings nicht belastbar. Der Senat hat keine Anhaltspunkte für einen Erlebnisbezug der geschilderten Details. Allein der vom Landgericht ins Feld geführte Umstand, dass der Zeuge bekundet hat, er habe sich an einer anderen, etwa 130 m entfernten Zuwegung für das Einschalten des Blinkers orientiert, lässt nicht mit hinreichender Sicherheit auf einen Erlebnisbezug schließen. Vielmehr wirkten die Bekundungen des Zeugen vor dem Senat einstudiert. Angesichts des Umstands, dass der Zeuge als Sohn des Klägers und Beschuldigter eines – zwischenzeitlich nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellten – Strafverfahrens ein Interesse am Ausgang des Rechtsstreits hat, gehen die Zweifel zulasten des insofern beweisbelasteten Klägers.
19Unabhängig davon lässt sich ein schuldhafter Verstoß des Motorradfahrers gegen § 5 Abs. 7 Satz 1 StVO auch deshalb nicht feststellen, weil nicht auszuschließen ist, dass ein etwaig gesetzter Fahrtrichtungsanzeiger für diesen nicht (rechtzeitig) erkennbar war. Das linke Blinklicht war möglicherweise gar nicht oder nur schwer für den nachfolgenden Verkehr erkennbar, weil dieses zum einen verdreckt war und zum anderen die Sonneneinstrahlung von hinten die Erkennbarkeit erheblich reduzierte; diesen Aspekt hat das landgerichtliche Urteil zu Unrecht unberücksichtigt gelassen.
20Die diesbezügliche Feststellung ergibt sich aus den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen B in seinem Gutachten vom 31.01.2022 (im Folgenden Gutachten I, dort S. 12, eGA I-65), das der Senat als staatsanwaltschaftlich eingeholtes Gutachten nach § 411a ZPO verwerten konnte, nachdem er den vor dem Landgericht unterbliebenen, die Verwertung des genannten Gutachtens nebst Ergänzung vom 21.03.2022 anordnenden Beweisbeschluss in der mündlichen Verhandlung vom 02.07.2024 nachgeholt hat.
21(2)
22Ebenso wenig ist – wie das Landgericht zu Recht festgestellt hat – zulasten der Beklagten eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit – mangels streckenbezogener Höchstgeschwindigkeiten galt am Unfallort eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h nach § 3 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. c StVO – festzustellen. Der Sachverständige hat lediglich eine Annäherungsgeschwindigkeit des Motorrads zwischen 100 und 120 km/h feststellen können (Gutachten I, S. 15, eGA I-68), so dass eine höhere Geschwindigkeit zu Lasten der Beklagten als 100 km/h nicht bewiesen ist.
23Auch war die zulässige Höchstgeschwindigkeit des Motorrads nicht nach § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO wegen der Überholsituation auf eine geringere Geschwindigkeit als 100 km/h begrenzt. Der Überholende ist nämlich nicht verpflichtet, seine Geschwindigkeit bei Annäherung an das zu überholende Fahrzeug zu ermäßigen, vielmehr muss er den Überholungsvorgang mit möglichster Beschleunigung durchführen (BGH Urt. v. 19.1.1956 – 4 StR 427/55, BeckRS 1956, 103580 Rn. 5).
24(3)
25Ebenfalls nicht zulasten der Beklagten war ein verspäteter Spurwechsel des Motorradfahrers in die Abwägung einzustellen. Zwar wäre der Unfall durch einen früheren Spurwechsel des Motorradfahrers nach den Feststellungen des Sachverständigen vermeidbar gewesen (Gutachten I S. 17, eGA I-70). Ein früherer Spurwechsel war aber rechtlich nicht geboten. Vielmehr war der Motorradfahrer nach § 2 Abs. 2 StVO gehalten, möglichst lange möglichst weit rechts zu fahren. Der Überholende darf nicht zu früh ausscheren (Hentschel/König/Dauer/König, StVR, 47. Aufl., § 5 Rn. 40 StVO; vgl. auch Wertung aus § 5 Abs. 4 Satz 5 StVO).
26Zudem durfte der Motorradfahrer darauf vertrauen (zum Vertrauensgrundsatz: BGH Urt. v. 12.12.2023 – VI ZR 77/23, juris Rn. 22; BGH Urt. v. 25.3.2003 – VI ZR 161/02, juris Rn. 16 f.; Senat Urt. v. 9.5.2023 – I-7 U 17/23, juris Rn. 54), dass der Zeuge A sein Pflichtprogramm einhielt, also rechtzeitig blinkte, was nicht bewiesen ist, und durch die Einhaltung der doppelten Rückschaupflicht die Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausschloss.
27(4)
28Der Motorradfahrer hat auch nicht gegen ein wegen unklarer Verkehrslage nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO bestehendes Überholverbot verstoßen, da bei Beginn des Überholmanövers eine Abbiegeabsicht des Zeugen A nicht erwiesenermaßen erkennbar war. Insbesondere war ein merkbares Einordnen des Ackerschleppers zur Fahrbahnmitte nicht möglich, da das Güllefass (mit Reifen) nahezu die gesamte rechte Fahrbahn einnahm. Zudem konnte der Motorradfahrer die Abbiegeabsicht des Zeugen nach den Darlegungen des Sachverständigen erst erkennen, als er auf die Gegenfahrbahn ausgeschert und bereits bis auf gut 80 m auf das Gespann aufgerückt war (vgl. Gutachten I, Weg-Zeit-Betrachtung Anlage A 34, eGA-I 107). Erst in diesem Zeitpunkt, in dem er die Kollision nicht mehr vermeiden konnte, wurde die Verkehrslage für ihn in dem Sinne unklar, dass er auf ein Ausscheren zum Überholen hätte verzichten müssen.
29bb)
30(1)
31Zulasten des Klägers ist in die Abwägung einzustellen, dass der Zeuge A den rückwärtigen Verkehr während des Abbiegevorgangs nicht ausreichend beobachtet und den Abbiegevorgang nicht tastend durchgeführt hat; beides zusammen war auch unfallursächlich.
32Das Landgericht ist – von den Parteien im Berufungsrechtszug unangegriffen – davon ausgegangen, dass der Zeuge A den rückwärtigen Verkehr nicht während des Abbiegevorgangs beobachtet hat. Hieran ist der Senat gebunden (vgl. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO), da Zweifel an dieser Feststellung auch unabhängig vom Vortrag der Parteien im Berufungsrechtszug nicht bestehen; insbesondere hat der Zeuge A selbst nicht bekundet, während des Abbiegevorgangs den rückwärtigen Verkehr beobachtet zu haben.
33Der Zeuge war indes über § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO hinaus verpflichtet, den rückwärtigen Verkehr auch während des Abbiegevorgangs zu beobachten und jederzeit in der Lage zu sein, den Abbiegevorgang zum Schutz des rückwärtigen Verkehrs abzubrechen.
34Diese Pflicht folgt indes nicht schon aus § 9 Abs. 5 StVO (analog), da es sich bei dem Weg, in den der Zeuge A abbiegen wollte, um einen Wirtschaftsweg handelt, auf den § 9 Abs. 5 StVO weder direkt noch analog anwendbar ist. Schon bei einem Wald- oder Feldweg handelt es sich zwar nicht um ein „Grundstück“ im Sinne des § 9 Abs. 5 StVO, es gelten hier jedoch, abhängig von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls, ähnlich verschärfte Pflichten. Im Grundsatz gilt, dass, je weniger erkennbar das Abbiegeziel im Fahrverkehr ist, um so sorgfältiger der Abbiegende sich verhalten muss (OLG Sachsen-Anhalt Urt. v. 12.12.2008 – 6 U 106/08, juris Rn. 19; OLG Stuttgart Beschl. v. 08.04.2011 – 13 U 2/11, juris Rn. 16; Hentschel/König/Dauer/König, 47. Aufl., StVO § 9 Rn. 45). Bei einem – wie hier – deutlich markierten Wirtschaftsweg, der nicht nur ein einzelnes Grundstück anbindet, scheidet eine Analogie jedenfalls mangels Vergleichbarkeit aus.
35Im vorliegenden Fall leitet sich eine Pflicht zu einem die Gefährdung anderer ausschließenden Abbiegevorgang, der auch die Rückschau während dessen Durchführung einschließt, daraus ab, dass der Zeuge A seiner Rückschaupflicht vor dem Abbiegevorgang effektiv nicht nachkommen konnte (§ 1 Abs. 2 StVO).
36Denn liegen besondere Umstände vor, besteht die Rückschaupflicht auch nach den in § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO genannten Zeitpunkten, also während des Abbiegevorganges. Solche besonderen Umstände, die für eine weitergehende Rückschaupflicht auch während des Abbiegevorgangs sprechen, können etwa sein, dass der Abbiegende mit einem sehr langsamen Fahrzeug auf einer für schnellen Verkehr bis zu 100 km/h ausgelegten Straße unterwegs ist oder dass er in einen völlig untergeordneten, schwer erkennbaren Feldweg abbiegen will. Denn aus den dabei entstehenden hohen Geschwindigkeitsdifferenzen folgen besondere Gefahren, die insbesondere der langsam Fahrende zu bedenken und zu beherrschen hat. Aus der Sicht eines Überholenden ist nämlich bei einem langsam fahrenden Fahrzeug, besonders einem Trecker, auf freier Strecke nicht ohne weiteres aus der geringen Geschwindigkeit auf ein bevorstehendes Abbiegen zu schließen; zudem ist bei Treckern oft wegen der Breite eine Einordnung zur Mitte kaum zu erkennen. Treckerfahrer und anderen langsam Fahrende haben daher jedes nachfolgende Fahrzeug als potentiellen Überholer anzusehen und daher den nachfolgenden Verkehr ständig im Auge zu behalten (vgl. OLG Hamm Urt. v. 9.10.1992 – 9 U 14/92, NZV 1993, 396).
37Auch vorliegend sind besondere Umstände gegeben, weil dem Zeugen A vor dem Abbiegevorgang – selbst wenn man zu seinen Gunsten den Blick in den Spiegel und den Schulterblick unterstellt – die effektive Kontrolle des rückwärtigen Verkehrs nicht möglich war, da die Sicht auf die rückwärtige Straße wegen des Güllefasses und der verdreckten Spiegel verdeckt war und der Zeuge A damit letztlich für den rückwärtigen Verkehr blind war. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus dem Gutachten des Sachverständigen B. Der Sachverständige hat darin ausgeführt, dass der Zeuge A den hinter ihm befindlichen Verkehr vor Einleitung des Abbiegevorgangs nicht hat beobachten können, da das Güllefass die Sicht verdeckt habe, die Spiegel verdreckt gewesen seien und die Sonne tief gestanden habe (Gutachten I, eGA I-71). Dies wird hinsichtlich des Sichtschattens des Güllefasses bildlich durch die Anlage A30 (eGA I-103) belegt. Die Bekundung des Zeugen, er habe den rückwärtigen Verkehr sehen können, ist damit widerlegt, auch wenn man unterstellt, er habe sich über den Soziussitz hinweggebeugt. Letztlich hat der Zeuge A in seiner Vernehmung vor dem Landgericht einen Sichtschatten eingeräumt, als er bekundet hat, man könne den Bereich direkt hinter dem Güllefass nicht einsehen (Landgericht Arnsberg, Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 25.04.2023, S. 2, eGA I-164). Mit Blick auf die Verschmutzung und falsche Einstellung des linken Spiegels war der Zeuge A, dem beides nicht verborgen bleiben konnte, verpflichtet, die Rückschau während des Abbiegevorgangs auch mittels Schulterblicks durchzuführen.
38Indem der Zeuge A den Abbiegevorgang mit normaler Geschwindigkeit durchgeführt hat, hat er gegen die Gebote der sichtangepassten Geschwindigkeit und der Rücksichtnahme verstoßen (§ 3 Abs. 1 Satz 2, § 1 Abs. 2 StVO). Wegen der nach hinten jedenfalls stark eingeschränkten Sicht bestand die Pflicht des Zeugen, sich in den Abbiegevorgang langsam und mit jederzeitiger Abbruchmöglichkeit hineinzutasten.
39Dass der Zeuge sich nicht in den Abbiegevorgang hineingetastet hat, steht fest, da der Kläger die diesbezügliche Behauptung der Beklagten zu keinem Zeitpunkt bestritten hat. Der Sachverständige hat in seinem für die Staatsanwaltschaft gefertigten Gutachten festgestellt, dass der Zeuge A mit einer Geschwindigkeit von 7 km/h abbog, die eine Reaktion auf nachfolgenden Verkehr nicht mehr ermöglichte (Gutachten I S. 18, eGA I-71). Die Beklagte hat sich dies bereits in der Klageerwiderung zu eigen gemacht (S. 3, eGA I-50). Weder der Kläger noch der Zeuge sind dem entgegengetreten, weswegen auch nicht von einem konkludenten Bestreiten (§ 138 Abs. 3 2. Halbsatz ZPO) ausgegangen werden kann.
40Vor diesem Hintergrund hat der Zeuge die mehraktige Pflicht, den Abbiegevorgang „tastend“ – mit jederzeitiger Fähigkeit und Bereitschaft, den Vorgang abzubrechen – und mit Beobachtung des rückwärtigen Verkehrs, sobald dies wegen der Schrägstellung des Treckers möglich war, durchzuführen, verletzt.
41Die Beachtung dieser mehraktigen Pflicht hätte auch den Unfall verhindert, so dass die Verletzung der Pflicht durch den Zeugen kausal für das Unfallgeschehen war. Dies steht aufgrund der gutachterlichen Feststellungen, dass sich der Unfall durch eine Rückschau während des Abbiegevorgangs – jedenfalls in der Kombination mit einem tastenden Abbiegen – hätte verhindern lassen (Gutachten I, eGA I-73), fest.
42Soweit sich dies nicht mit dem Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft Arnsberg vom 21.01.2022 deckt (Bl. 306 der staatsanwaltschaftlichen Beiakte – 411 Js 324/22), ist der Senat an die Rechtsauffassung der Staatsanwaltschaft schon prinzipiell nicht gebunden; dies gilt erst recht im vorliegenden Fall, da der Einstellungsbescheid die Feststellungen des Sachverständigen offensichtlich unzutreffend wiedergibt.
43(2)
44Ob der Zeuge A die doppelte Rückschaupflicht im Sinne einer reinen Blick- und Körperbewegung – wie von ihm bekundet – beim Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers und unmittelbar vor dem Abbiegevorgang eingehalten hat oder nicht, kann dahinstehen, da wegen der eingeschränkten Sicht nach hinten die Pflicht zum tastenden Abbiegen unter Rückschau bei Schrägstellung auch bei Einhaltung der doppelten Rückschaupflicht vor dem Abbiegevorgang nicht aufgehoben wäre und die etwaige Verletzung der – unzureichenden – Rückschaupflicht vor dem Abbiegevorgang neben der Pflichtverletzung beim Abbiegevorgang keine eigenständige Bedeutung hat.
45(3)
46Zulasten des Klägers war kein Verstoß gegen das Gebot, die Fahrtrichtungsanzeiger zu benutzen, einzustellen (§ 9 Abs. 1 Satz 1 StVO). Die Bekundung des Zeugen, er habe den Fahrtrichtungsanzeiger rechtzeitig gesetzt, ist nicht widerlegbar. Auch aus einem etwaigen Erfahrungssatz, dass ein Motorradfahrer bei gesetztem Fahrtrichtungsanzeiger nicht überholen wird, lässt sich im vorliegenden Fall nicht auf Gegenteiliges schließen, da der Fahrtrichtungsanzeiger aufgrund der tiefstehenden Sonne und der Verschmutzung möglicherweise auch bei rechtzeitiger Betätigung für den Motorradfahrer nicht erkennbar gewesen ist.
47(4)
48Schließlich hat der Zeuge A gegen § 54 Abs. 1 Satz 3 StVZO verstoßen, wonach Fahrtrichtungsanzeiger so beschaffen sein müssen, dass die Anzeige der beabsichtigten Richtungsänderung unter allen Beleuchtungs- und Betriebsverhältnissen von anderen Verkehrsteilnehmern, für die ihre Erkennbarkeit von Bedeutung ist, deutlich wahrgenommen werden kann. Dies war wegen der Verschmutzung und der darauf beruhenden erschwerten Erkennbarkeit nicht der Fall, was aufgrund der überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen B feststeht (Gutachten I S. 20, eGA I-73).
49Die Verschmutzung war auch für den Unfall kausal, wenn man – zugunsten des Klägers – unterstellt, dass der Zeuge A den Fahrtrichtungsanzeiger rechtzeitig gesetzt hat. Dass der Motorradfahrer bei eingeschaltetem und erkennbarem Blinklicht nicht zum Überholen angesetzt hätte, steht zur Überzeugung des Senats fest, da ein Überholvorgang unter diesen Umständen für den Motorradfahrer lebensgefährlich ist und ein grundsätzlich denkbares Übersehen im konkreten Fall mit Blick auf die Bekundung des Zeugen A, er habe den Fahrtrichtungsanzeiger 130 m vor dem Abbiegevorgang betätigt, ausgeschlossen werden kann.
50Zudem steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Sonnentiefstand allein die Erkennbarkeit des Fahrtrichtungsanzeigers nicht erheblich herabgesetzt hätte. Die Darlegungen des Sachverständigen sind so zu verstehen, dass die Kombination aus Sonnentiefstand und Verschmutzung die erschwerte Erkennbarkeit des Fahrtrichtungsanzeigers verursacht hat.
51(5)
52Soweit der Sachverständige im Übrigen einen nicht ordnungsgemäßen Zustand des klägerischen Gespanns festgestellt hat, steht nicht fest, dass dies unfallkausal war, und hat daher bei der Abwägung nach § 17 Abs. 2 und 1 StVG außen vor zu bleiben.
53cc)
54Da die Beklagte lediglich für die reine Betriebsgefahr einzustehen hat, der Zeuge A aber gegen die Pflichten beim Abbiegen, indem er quasi nach hinten „blind“ abgebogen ist, schwerwiegend verstoßen hat und sich das Gespann mit dem schwer erkennbaren Fahrtrichtungsanzeiger in einem nicht ordnungsgemäßen Zustand befunden hat, tritt die reine Betriebsgefahr des bei der Beklagten versicherten Motorrads – bei Durchführung der nach § 17 Abs. 2 und 1 StVG gebotenen Abwägung der Verursachungsbeiträge – vollständig zurück.
55Dies entspricht der gefestigten Rechtsprechung des Senats, wonach die nicht erhöhte Betriebsgefahr des Überholenden, wenn also ein Verschulden des Überholenden nicht nachgewiesen werden kann oder ausgeschlossen ist, regelmäßig hinter dem – vorliegend sogar mehrfachen – Verschulden desjenigen, der verkehrswidrig nach links abbiegt, vollständig zurücktritt (OLG Hamm, Urteil vom 8. Juli 2022 – I-7 U 106/20, NJOZ 2022, 1550 Rn. 23 mit zahlreichen weiteren Nachweisen).
562.
57Mangels ersatzfähigen Schadens besteht weder ein Anspruch auf Zinsen noch auf Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten.
58II.
59Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, der Ausspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10, § 713, § 544 Abs. 2 ZPO. Ein Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht (§ 543 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 ZPO).