Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
Überquert ein erwachsener Fußgänger entgegen § 25 Abs. 3 StVO eine Fahrbahn, ohne auf einfach und ohne Einschränkung erkennbare herannahende Pkw zu achten und wird von einem Pkw erfasst, kann dies – wie hier – zu einer vollständigen Kürzung des Anspruchs aus § 7 StVG über § 9 StVG in Verbindung mit § 254 BGB führen (zum nicht vollständigen Zurücktreten der Betriebsgefahr bei einem Minderjährigen OLG Hamm Urt. v. 25.6.2024 – 7 U 142/23, BeckRS 2024, 21869).
Zwar ist auch ein erkennbar alkoholisierter Fußgänger als hilfsbedürftig im Sinn des § 3 Abs. 2a StVO anzusehen (im Anschluss an BGH Urt. v. 26.10.1999 – VI ZR 20/99, r+s 2000, 64 = juris Rn. 8).
Die Anwendung von § 3 Abs. 2a StVO setzt aller¬dings voraus, dass der gefährdete Verkehrsteil¬nehmer – wie hier nicht – aufgrund äußerlich er¬kennbarer Merkmale als hilfsbedürftig in diesem Sinne zu erkennen ist (im Anschluss an BGH, Urteil vom 26.10.1999 – VI ZR 20/99, r+s 2000, 64 = juris Rn. 8; OLG Hamm, Beschluss vom 27.02.2024 – 7 U 120/22, NJW-RR 2024, 894 = juris Rn. 20 m. w. N.).
Der Senat beabsichtigt, die Berufung des Klägers gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.
Es wird dem Kläger Gelegenheit gegeben, binnen drei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses Stellung zu nehmen.
Gründe
2Der Senat ist einstimmig davon überzeugt, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.
3I.
4Die zulässige Berufung hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Das Landgericht hat die zulässige Klage – zumindest im Ergebnis – zu Recht als unbegründet abgewiesen.
5Die Einwendungen des Klägers, bezüglich derer zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Berufungsbegründungsschrift vom 15.05.2023 (Bl. 25 ff. der zweitinstanzlichen elektronischen Gerichtsakte, im Folgenden: eGA II) verwiesen wird, greifen im Ergebnis nicht durch.
61.
7Der Kläger hat gegen die Beklagte zu 2 als Haftpflichtversicherung des in den Unfall verwickelten Fahrzeugs keinen Anspruch auf Schadensersatz aus übergegangenem Recht. Ein solcher Anspruch folgt insbesondere nicht aus § 7 Abs. 1, StVG, § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG, § 1 PflVG, § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Zwar liegt eine Verletzung von Körper und Gesundheit bei Betrieb des bei der Beklagten zu 2 versicherten Fahrzeugs vor. Auch ist die Haftung nicht wegen höherer Gewalt nach § 7 Abs. 2 StVG ausgeschlossen.
8Es liegt aber – wie vom Landgericht zu Recht erkannt – aufseiten der verletzten Fußgängerin ein die Haftung ausschließendes Mitverschulden im Sinne von § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB vor.
9a)
10Die Verletzte, deren deliktsrechtliche Verantwortlichkeit das Landgericht, was von der Berufung nicht angegriffen wird und woran auch im Übrigen keine Zweifel bestehen, festgestellt hat, hat durch das Überschreiten der Straße unter Missachtung des Fahrzeugverkehrs schuldhaft (§ 276 Abs. 2 BGB) gegen § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO verstoßen, was das Landgericht ebenfalls mit der – zutreffenden – Begründung festgestellt hat, dass die Verletzte den Sorgfaltsanforderungen des § 25 Abs. 3 StVO nicht gerecht geworden sei, weil sie die Fahrbahn überquert habe, obwohl sie das herrannahende vom Beklagten zu 1 geführte Fahrzeug einfach und ohne Einschränkungen habe erkennen können. Dies war auch offensichtlich für den Unfall kausal.
11Der Senat ist an die tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts gebunden, da der Kläger keine konkreten Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Feststellungen des Landgerichts aufgezeigt hat, noch diese sonst ersichtlich sind (vgl. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Nach § 529 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist das Berufungsgericht an die vom erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkrete Anhaltspunkte, welche die Bindung an diese Feststellungen entfallen lassen, können sich aus erstinstanzlichen Verfahrensfehlern ergeben. Ein Verfahrensfehler liegt vor, wenn die Beweiswürdigung nicht den Anforderungen genügt, die von der Rechtsprechung zu § 286 Abs. 1 ZPO entwickelt worden sind. Dies ist der Fall, wenn sie unvollständig oder in sich widersprüchlich ist oder gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen können sich außerdem aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht die Beweisaufnahme anders würdigt als die Vorinstanz. Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, ist es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet (st. Rspr. vgl. nur Senat Beschl. v. 7.1.2021 – 7 U 53/20, BeckRS 2021, 2530 = juris Rn. 21 m. w. N.; siehe auch BGH Urt. v. 16.11.2021 – VI ZR 100/20, r+s 2022, 48 Rn. 15 f.). Derartige Zweifel legt der Kläger nicht dar, noch sind sie sonst ersichtlich.
12Soweit der Kläger meint, ein relevantes Mitverschulden der Verletzten liege nicht vor (S. 2 der Berufungsbegründung, eGA II-26), steht diese Rechtsansicht isoliert und ohne tatsächliche Untermauerung im Raum. Mit Blick auf den Umstand, dass er im vorliegenden Rechtsstreit lediglich eine Haftungsquote von 50 % geltend macht, nimmt auch er anscheinend ein relevantes Mitverschulden der Verletzten an. Jedenfalls ist die reine Rechtsansicht nicht geeignet, Zweifel an der Feststellung des Landgerichts im oben genannten Sinne zu begründen, zumal die Feststellung des Landgerichts der eindeutigen und überzeugenden Feststellung des Sachverständigen V. zur Erkennbarkeit herannahender Fahrzeuge und zur darauf beruhenden Vermeidbarkeit des Unfalls für die Verletzte entspricht (Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 10.3.2023, S. 9 Abs. 2, Bl. 171 der erstinstanzlichen elektronischen Akte, im Folgenden eGA I). Sie hätte schlicht an der Mittellinie stehenbleiben müssen, um die streifende Kollision zu vermeiden.
13b)
14Aufseiten der Beklagten ist die reine Betriebsgefahr des Fahrzeugs in die nach § 9 StVG, § 254 BGB vorzunehmende Abwägung einzustellen. Diese ist nicht durch ein Verschulden des Beklagten zu 1 (§ 276 Abs. 2 BGB) erhöht.
15aa)
16Es liegt kein Verstoß gegen die § 3 Abs. 1 Satz 2 und 3 StVO vor. Der Beklagte zu 1 ist nicht schneller als 45 km/h gefahren. Für eine höhere Geschwindigkeit gibt es keinerlei Hinweise. So hat auch der Sachverständige eine Geschwindigeit von 45 km/h für nachvollziehbar gehalten und sie seiner weiteren Begutachtung zu Grunde gelegt (Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 10.3.2023, S. 8 Abs. 2 und 3, eGA I-170).
17Auch ist eine höhere Geschwindigkeit – etwa aufgrund von § 18 Abs. 1 StVG – nicht zu vermuten. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der sich der Senat nach eigener Überprüfung anschließt, können bei der Schadensabwägung nach § 9 StVG, § 254 BGB nur solche Umstände verwertet werden, von denen – weil zugestanden, unbestritten oder bewiesen – feststeht, dass sie eingetreten und für die Entstehung des Schadens ursächlich geworden sind. Ein Verschulden, das nur gesetzlich vermutet wird, darf daher nicht berücksichtigt werden. Wird ein Verschulden nur vermutet, so fehlt jeder Anhalt für das Maß dieses Verschuldens, das von der leichtesten Fahrlässigkeit bis zur gröbsten Sorgfaltspflichtverletzung reichen kann. Nur wenn das Maß der Verantwortlichkeit beider Teile feststeht, ist eine sachgemäße Abwägung möglich. Wollte man sie auf Unterstellungen und Vermutungen gründen, so würde man in unzulässiger Weise Gewisses mit Unbekanntem vergleichen und zu keinem gerechten Ergebnis gelangen. Verschuldensvermutungen sind daher nur für den Haftungsgrund relevant (BGH Urt. v. 20.3.2012 – VI ZR 3/11, juris Rn. 12 f. mwN). Dies verkennt die Berufung, wenn sie allgemein feststellt, die Beweislast für fehlendes Verschulden liege „ohnehin bei dem Beklagten“ (Berufungsbegründung vom 15.5.2023, S. 6, eGA II-30).
18Eine Geschwindigkeit von 45 km/h war im Hinblick auf die Straßen-, Wetter- und Sichtverhältnisse angemessen. Selbst bei leichtem bis mäßigem Regen und Dunkelheit ist eine solche Geschwindigkeit im Winter innerorts nicht zu beanstanden, wenn nicht erschwerende Umstände – wie etwa Straßenglätte – hinzutreten. Dies gilt besonders im Hinblick darauf, dass die X.-straße am Unfallort, wie sich etwa aus der vom Sachverständigen erstellten „Übersicht Unfallstelle“ (Anlage zum Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 10.03.2023, Skizze 1, eGA I-174) ergibt, fast gerade verläuft und damit gut einsehbar ist.
19bb)
20Nach dem Gesagten ist ein Verstoß des Beklagten zu 1 gegen das Verbot aus § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO, wonach die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften für alle Kraftfahrzeuge 50 km/h beträgt, ausgeschlossen.
21cc)
22Auch ist kein schuldhafter Verstoß des Beklagten zu 1 gegen die Verpflichtung aus § 3 Abs. 2a StVO erwiesen, wonach derjenige, der ein Fahrzeug führt, sich gegenüber hilfsbedürftigen Menschen insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft so zu verhalten hat, dass eine Gefährdung ausgeschlossen ist. Diese durch die Verordnung zur Änderung der StVO vom 21. Juli 1980 (BGBl. I S. 1060) eingefügte und am 1. August 1980 in Kraft getretene Vorschrift soll den Schutz der darin genannten Verkehrsteilnehmer verbessern (vgl. BGH Urt. v. 19. April 1994 – VI ZR 219/93, VersR 1994, 739). Dabei entspricht es der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der sich der Senat nach eigener Überprüfung anschließt, dass auch erkennbar alkoholisierte Fußgänger – um eine solche hat es sich bei der Verletzten möglicherweise gehandelt – als hilfsbedürftig im Sinn dieser Vorschrift anzusehen sind (BGH Urt. v. 26.10.1999 – VI ZR 20/99, juris Rn. 8 mwN). Von der Zielsetzung der Vorschrift her, die gesteigerte Rücksichtnahme auf erkennbar objektiv hilfsbedürftige Personen verlangt, kann es nämlich keinen Unterschied bedeuten, ob die mangelnde Verkehrstüchtigkeit auf Jugend, Alter oder einem besonderen körperlichen bzw. geistigen Zustand beruht, ob dieser dauerhaft oder nur vorübergehend ist und ob der Betroffene verschuldet oder unverschuldet in diesen Zustand geraten ist (BGH Urt. v. 26. Oktober 1999 – VI ZR 20/99, juris Rn. 8). Voraussetzung für die von § 3 Abs. 2a StVO verlangte „äußerste Sorgfalt“ ist vielmehr lediglich, dass der gefährdete Verkehrsteilnehmer aufgrund äußerlich erkennbarer Merkmale als eine den vorgenannten Gruppen zugehörige Person zu erkennen ist (BGH Urt. v. 26. Oktober 1999 – VI ZR 20/99, juris Rn. 8). Insoweit kommt es mithin nur darauf an, ob für den Fahrzeugführer der verkehrsuntüchtige Zustand des besonderes geschützten Verkehrsteilnehmers und seine sich hieraus ergebende Hilfsbedürftigkeit erkennbar ist (vgl. BGH Urt. v. 26.10.1999 – VI ZR 20/99, juris Rn. 8 mwN). Ist dies der Fall, ist für den Vertrauensgrundsatz kein Raum (vgl. BGH Urt. v. 26.10.1999 – VI ZR 20/99, juris Rn. 9).
23(1)
24Im vorliegenden Fall steht ein Verstoß des Beklagten zu 1 deswegen nicht fest, weil weder unstreitig noch zugestanden noch bewiesen ist, dass er die Hilfsbedürftigkeit der Verletzten erkannt hat oder doch zumindest hätte erkennen können. Der Sachverständige hat dargelegt, dass die Fußgängerin in dem Zeitpunkt, in dem eine erforderliche Reaktion zum Anhalten aus einer Geschwindigkeit von 45 km/h gegeben war, schwer sichtbar gewesen sei (Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 10.3.2023, S. 10 Abs. 1, eGA I-172). Es sei nicht auszuschließen, dass für ihn das Auftauchen der Verletzten überraschend gewesen sein könne (aaO Abs. 2). Damit hat er die rechtzeitige Erkennbarkeit der Verletzten für den Beklagten zu 1 gerade nicht bestätigt. Erst recht gilt dies für das nicht „flüssige“ Gangbild, das allein Anlass für die von § 3 Abs. 2a StVO geforderte äußerste Sorgfalt hätte geben können.
25Soweit der Beklagte zu 1 davon gesprochen hat, einen Schatten erkannt zu haben, ändert dies an der Bewertung nichts. Zwar wäre von ihm zu erwarten gewesen, vom Schatten auf eine Person zu schließen. Das hätte mit Blick auf den Vertrauensgrundsatz aber nicht allein die Pflichten aus § 3 Abs. 2a StVO auslösen können. Dass er einen Schatten wahrgenommen hat, bedeutet nämlich gerade nicht, dass er auch das ungewöhnliche Gangbild erkannt hat oder zu erkennen in der Lage war. Ein schuldhafter Verstoß des Beklagten zu 1 gegen § 3 Abs. 2a StVO steht damit nicht fest.
26Soweit die Berufung meint, die Bekundung des Sachverständigen, die Verletzte sei möglicherweise für den Beklagten zu 1 schlecht erkennbar gewesen, stelle sich als reine Hypothese dar und trage daher nicht, vermag sie mit dieser Argumentation nicht durchzudringen. Zum einen verkennt die Berufung damit die sie – und nicht die Beklagten – treffende Beweislast. Zum anderen würde, selbst wenn man unterstellt, dass die Verletzte für den Beklagten zu 1 ebenso gut sichtbar war wie für die Zeugin U., daraus nicht folgen, dass auch das nicht flüssige Gangbild der Verletzten bereits im für die Vermeidung des Unfalls erforderlichen Zeitpunkt für den Beklagten zu 1 erkennbar war.
27Die Darlegungen des Sachverständigen unterliegen auch keinen Zweifeln, die etwa eine neue Beweisaufnahme nach § 412 Abs. 1 ZPO gebieten würden. Solche Zweifel werden auch von der Berufung nicht im Ansatz dargelegt. Insbesondere hat sich der Sachverständige auch mit dem Umstand auseinandergesetzt, dass die Zeugin U. die Verletzte und das von ihr geschilderte nicht flüssige Gangbild hat erkennen können, während dies für den Beklagten zu 1 aufgrund eines stumpferen Winkels schwerer möglich gewesen sei (Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 10.3.2023, S. 10 Abs. 2, eGA I-172).
28Soweit die Berufung meint, der Sachverständige sei davon ausgegangen, dass der Beklagte zu 1 auf die Verletzte habe reagieren müssen, als diese die Trennlinie zwischen Fahrradschutzstreifen und Wegefahrbahn überschritten habe, so liegt ein Missverständnis vor. Der Sachverständige wollte damit erkennbar zum Ausdruck bringen, dass in diesem Zeitpunkt die Einleitung einer Vollbremsung erforderlich gewesen wäre, um den Unfall zu verhindern. Der Sachverständige wollte damit nicht zum Ausdruck bringen, dass der Beklagte zu 1 verpflichtet war, zu diesem Zeitpunkt eine Vollbremsung einzuleiten.
29Im Übrigen beginnt die kritische Verkehrslage für einen Verkehrsteilnehmer erst dann, wenn die ihm erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann (so BGH Urt. v. 22.11.2016 – VI ZR 533/15 –, Rn. 17, juris). Der Beklagte zu 1 durfte also so lange darauf vertrauen, dass die Verletzte, die ungehinderte Sicht auf den Kraftfahrzeugverkehr hatte, seinen Vorrang achtete, bis er gegenteilige Anhaltspunkte hatte. Eine kritische Verkehrssituation ergab sich – da die Erkennbarkeit des nicht flüssigen Gangbildes für ihn nicht feststeht – erst zu dem Zeitpunkt, als erkennbar war, dass die Verletzte nicht an der Mittellinie stehen bleiben würde.
30(2)
31Nach dem oben Gesagten ist ein Verstoß gegen § 3 Abs. 2a StVO im Rahmen von § 9 StVG, § 254 BGB nicht zu vermuten, sondern muss positiv feststehen.
32(3)
33Selbst unterstellt, dass der Beklagte zu 1 die Verletzte und deren Gangbild im selben Zeitpunkt wie die Zeugin U. hätte wahrnehmen können, wäre dies nicht geeignet, eine für den Unfall kausale Pflichtverletzung zu begründen. Denn eine Vollbremsung hätte den Unfall nur verhindern können, wenn der Beklagte zu 1 sie spätestens eingeleitet hätte, als die Verletzte die Linie zwischen Fahrradschutzstreifen und Fahrbahn überschritt. Es ist aber durchaus möglich, dass selbst die Zeugin U. den wankenden Gang der Verletzten, woraus sich eine kritische Verkehrssituation und damit eine Reaktionsaufforderung ergeben konnten, erst wahrgenommen hat, nachdem diese die Fahrbahn betreten hatte, was für eine unfallvermeidende Vollbremsung des Beklagten zu 1 zu spät gewesen wäre.
34cc)
35Schließlich liegt auch kein schuldhafter Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO durch eine unterbliebene Vollbremsung vor. Zwar kann die Vorschrift zu einer Vollbremsung Veranlassung geben. Eine schuldhafte Verletzung der Vorschrift setzt aber voraus, dass die mögliche Schädigung eines anderen für den in Frage stehenden Verkehrsteilnehmer rechtzeitig erkennbar ist. Dies war nach dem Gesagten nicht der Fall.
36c)
37Das weit überwiegende Verschulden der Verletzten überwiegt die aufseiten der Beklagten zu 2 allein einzustellende Betriebsgefahr des vom Beklagten zu 1 geführten Fahrzeugs so weit, dass die Haftung der Beklagten vollständig ausgeschlossen ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist im Rahmen von § 254 BGB in erster Linie das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Die unter diesem Gesichtspunkt vorzunehmende Abwägung kann bei besonderen Fallgestaltungen zu dem Ergebnis führen, dass einer der Beteiligten allein für den Schaden aufkommen muss, eine vollständige Überbürdung des Schadens auf einen der Beteiligten ist aber unter dem Gesichtspunkt der Mitverursachung ausnahmsweise in Betracht zu ziehen (vgl. BGH Urt. v. 7.2.2006 - VI ZR 20/05, VersR 2006, 663; v. 4.11.2008 - VI ZR 171/07, VersR 2009, 234 Rn. 15; v. vom 28.4.2015 – VI ZR 206/14, juris Rn. 10; jeweils mwN).
38Vorliegend ist ausnahmsweise die Annahme eines vollständigen Haftungsausschlusses gerechtfertigt. Auf der Basis der tatsächlichen Feststellungen überwiegt das Verschulden der Verletzten die von dem Fahrzeug ausgehende Betriebsgefahr in einem Maße, welches den aus § 7 Abs. 1 StVG herzuleitenden eigenen Haftungsanteil der Beklagten völlig zurücktreten lässt. Wie dargelegt belastet die Beklagten lediglich die einfache Betriebsgefahr des Fahrzeugs, weil ein gefahrerhöhender Fahrfehler aufseiten des Beklagten zu 1 nicht festgestellt werden kann. Demgegenüber hat die Verletzte mit dem achtlosen Überqueren der Fahrbahn einer hinlänglich übersichtlichen Straße mit nicht unerheblichem Verkehrsaufkommen einen objektiv groben Verkehrsverstoß begangen. Das ausreichende Beobachten des Straßenverkehrs vor einer Fahrbahnquerung gehört zu den elementarsten Verhaltenspflichten eines Fußgängers (vgl. OLG Hamm Urt. v. 16.11.2007 – 9 U 92/07, juris Rn. 12). Im Übrigen hätte die Verletzte die streifende Kollision durch einfaches Stehenbleiben verhindern können. Sie hatte keinen Anhaltspunkt dafür, dass sie die Gegenfahrbahn vor dem Fahrzeug noch hätte überqueren können.
392.
40Auch gegen den Beklagten zu 1 ergibt sich kein Anspruch. Dabei kann dahinstehen, ob er den Entlastungsbeweis – wie das Landgericht meint – nach § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG zu führen in der Lage war. Jedenfalls liegt auch hier ein weit überwiegendes Mitverschulden der Verletzten im Sinne von § 9 StVG, § 254 BGB vor, das zum völligen Ausschluss der Haftung führt.
41II.
42Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Ferner erfordern weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Senats. Solche Umstände werden vom Kläger auch nicht aufgezeigt. Es handelt sich ausschließlich um Fragen des Einzelfalls.
43III.
44Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung verspricht sich der Senat angesichts dessen, dass es keiner erneuten Beweisaufnahme bedarf, keine neuen Erkenntnisse. Auch ansonsten erscheint eine mündliche Verhandlung nach einstimmigem Votum des Senats nicht geboten.
45IV.
46Der Senat beabsichtigt deshalb, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.
47Auf den Hinweis ist die Berufung zurückgenommen worden.