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Ein Radfahrer, der in einer Spielstraße einen Pkw überholt, schneidet, ausbremst und dadurch einen Auffahrunfall provoziert, muss sich ein anspruchsausschließendes Mitverschulden im Sinne des § 254 Abs. 1 BGB vorhalten lassen.
Der Senat beabsichtigt, die Berufung des Klägers gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückzuweisen.
Es wird dem Kläger Gelegenheit gegeben, binnen drei Wochen nach Zugang dieses Beschlusses Stellung zu nehmen.
G r ü n d e
2I.
3Der Senat ist einstimmig davon überzeugt, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat. Zurecht hat das Landgericht die Klage abgewiesen und der Widerklage stattgegeben.
4Die Einwendungen des Klägers, bezüglich derer zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Berufungsbegründungsschrift (Bl. 37 ff. der zweitinstanzlichen elektronischen Gerichtsakte) verwiesen wird, greifen nicht durch.
5Der Senat ist an die Feststellungen des Landgerichts, dass der Kläger den Beklagte zu 1 vorsätzlich überholte, schnitt und ausbremste nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gebunden. Damit lässt sich ein schuldhafter Verursachungsbeitrag des Beklagten zu 1 nicht feststellen. Vielmehr steht ein ganz überwiegendes, auch die Betriebsgefahr überlagerndes Eigenverschulden des Klägers (§ 254 Abs. 1 BGB) fest. Offenbleiben kann dabei, ob der Kläger durch dieses Verhalten nicht sogar in eine Beschädigung des Rades und seine Verletzung einwilligte.
61. Nach § 529 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist das Berufungsgericht an die vom erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkrete Anhaltspunkte, welche die Bindung an diese Feststellungen entfallen lassen, können sich aus erstinstanzlichen Verfahrensfehlern ergeben. Ein Verfahrensfehler liegt vor, wenn die Beweiswürdigung nicht den Anforderungen genügt, die von der Rechtsprechung zu § 286 Abs. 1 ZPO entwickelt worden sind. Dies ist der Fall, wenn sie unvollständig oder in sich widersprüchlich ist oder gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen können sich außerdem aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht die Beweisaufnahme anders würdigt als die Vorinstanz. Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, ist es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet (st Rspr. vgl. nur Senat Beschl. v. 7.1.2021 – 7 U 53/20, BeckRS 2021, 2530 = juris Rn. 21 m. w. N.; siehe auch BGH Urt. v. 16.11.2021 – VI ZR 100/20, r+s 2022, 48 Rn. 15 f.).
7Gemessen daran ist die Beweiswürdigung des Landgerichts, das sich auch einen verlässlichen persönlichen Eindruck vermitteln konnte, nicht in Zweifel zu ziehen; auch der Senat ist nach § 286 ZPO davon überzeugt, dass der Kläger den Beklagten zu 1 vorsätzlich überholte, schnitt und ausbremste.
8Dabei setzt § 286 ZPO nicht immer eine mathematisch lückenlose Gewissheit voraussetzt, weil es selbst nach dem strengen Maßstab des § 286 ZPO keines naturwissenschaftlichen Kausalitätsnachweises und auch keiner an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bedarf. Vielmehr genügt ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, der verbleibenden Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (vgl. BGH Urt. v. 12.12.2023 – VI ZR 76/23, BeckRS 2023, 41269 Rn. 15; BGH Urt. v. 1.10.2019 – VI ZR 164/18, r+s 2020, 47 Rn. 8).
9Vorliegend haben sowohl der Beklagte zu 1 (Protokoll vom 30.01.2023 Seite 3 Abs. 5, Bl. 117 der erstinstanzlichen elektronischen Gerichtsakte, im Folgenden: eGA I) also auch die unbeteiligte Zeugin (Protokoll vom 30.01.2023 Seite 6 Abs. 2 und Abs. 7, eGA I-120), diese in Übereinstimmung zu ihrer polizeilichen Aussage von drei Tagen nach dem Unfallereignis (Niederschrift vom 04.07.2019 Seite 2, eGA I-52), das Überholen, Schneiden und Ausbremsen übereinstimmend, konstant und widerspruchsfrei geschildert. Daran ändert sich nichts dadurch, dass die Zeugin angegeben hat, den nachfolgenden Zusammenstoß nicht gesehen zu haben.
10Dabei war das Landgericht nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO) auch nicht gehindert, im Rahmen der Würdigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der Beweisaufnahme seine Überzeugungsbildung auf eine Parteierklärung des Beklagten zu 1 zu stützen, auch wenn sie außerhalb einer förmlichen Parteivernehmung erfolgt ist (BGH Urt. v. 6.12.2022 – VI ZR 168/21, r+s 2023, 130 Rn. 19).
11Die Angaben des Klägers hat das Landgericht im Übrigen in nicht zu beanstandender Weise gewürdigt.
122. Damit lässt sich ein verkehrswidriger Verursachungsbeitrag – auch nicht aufgrund eines Anscheinsbeweises gegen den Auffahrenden, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat, § 4 Abs. 1 StVO, unaufmerksam war, § 1 StVO, oder mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist, § 3 Abs. 1 StVO (vgl. BGH Urt. v. 13.12.2016 – VI ZR 32/16, r+s 2017, 153 Rn. 10 ff. m. w. N.) nicht feststellen.
13Die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu einer überhöhten Geschwindigkeit des Beklagten zu 1 war insoweit nicht erforderlich. Denn aufgrund der geringen, wenn auch verkehrswidrig überhöhten Eigengeschwindigkeit des Klägers von nur ca. 12 km/h beim Überholen und Schneiden vor dem Ausbremsen ist nicht nachvollziehbar oder ersichtlich, dass der Beklagte zu 1 die zulässige Höchstgeschwindigkeit im dem verkehrsberuhigten Bereich (Zeichen 315.1 und Anl. 3 zu § 42 Abs. 2 StVO lfd. Nr. 12 Nr. 1 „Schrittgeschwindigkeit“) maßgeblich überschritten hätte.
14Ohnedies würde die Haftung der Beklagten im vorliegenden Einzelfall bei einer hier allenfalls geringfügigen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit angesichts des grob verkehrswidrigen Verhaltens des Klägers vollständig zurücktreten (vgl. im Ergebnis OLG Düsseldorf Urt. v. 12.12.2005 – 1 U 91/05, BeckRS 2006, 7147 = juris Rn. 17; Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 4 StVO (Stand: 09.06.2023), § 4 Rn. 27 f. m. w. N.; siehe auch zum Haftungsausschluss für unerwartete körperliche Verletzungen von Mittätern nach einem Fahrzeugdiebstahl BGH Urt. v. 27.2.2018 – VI ZR 109/17, r+s 2018, 273 Ls.; i.A. an KG Urt. v. 13.6.2005 – 12 U 65/04, DAR 2005, 620).
153. Ob der Kläger durch dieses riskante Fahrmanöver nicht nur eine ersichtlich mögliche Beschädigung des von ihm genutzten Fahrrades, sondern auch in eine ersichtlich mögliche Beeinträchtigung seiner körperlichen Unversehrtheit eingewilligt hat (vgl. dazu Senat Urt. v. 21.10.2022 – 7 U 96/21, VersR 2023, 171 Ls. 2), kann vor diesem Hintergrund offenbleiben.
16II.
17Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Ferner erfordern weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Senats. Die maßgebenden Fragen sind solche des Einzelfalles.
18Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung verspricht sich der Senat angesichts dessen, dass es keiner weiteren Beweisaufnahme bedarf, keine neuen Erkenntnisse. Auch ansonsten erscheint eine mündliche Verhandlung nach einstimmigem Votum des Senats nicht geboten.
19Der Senat beabsichtigt deshalb, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.
20Die Berufung ist durch Beschluss vom 11.03.2024 gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückgewiesen worden.