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1. Quert ein zehn Jahre und zwei Monate altes Kind im vollem Lauf zwischen aufgrund eines Rückstaus haltenden Pkw eine Straße und wird von einem Pkw im Gegenverkehr erfasst, ist sein Verstoß gegen § 25 Abs. 3 StVO im Rahmen von § 9 StVG in Verbindung mit § 254 Abs. 1 BGB zu berücksichtigen, wenn ihm die Darlegung / der Beweis – wie hier – nicht gelingt, dass ihm die erforderliche Einsicht nach § 828 Abs. 3 BGB fehlte (im Anschluss an BGH Urt. v. 30.11.2004 – VI ZR 335/03, NJW 2005, 354 = juris Rn. 12, 15 m. w. N.; BGH Urt. v. 29.4.1997 – VI ZR 110/96, NJW-RR 1997, 1110 = juris Rn. 8 m. w. N.; OLG Hamm Urt. v. 16.9.2016 – I-9 U 238/15, BeckRS 2016, 113206 = juris Rn. 15).
2. Die in einem solchen Fall allein in die Abwägung einzustellende Betriebsgefahr des Fahrzeugs im Gegenverkehr tritt nicht vollständig hinter dem überwiegenden Verschulden des Kindes zurück, wenn der Verkehrsverstoß des Kindes – wie hier – altersspezifisch nicht auch subjektiv als besonders vorwerfbar zu qualifizieren ist (im Anschluss an BGH Urt. v. 13.2.1990 – VI ZR 128/89, NJW 1990, 1483 = juris Rn. 22; OLG Celle Urt. v. 11.10.2023 – 14 U 157/22, r+s 2024, 132 = juris Rn. 59 f.).
Die Revision ist nicht zugelassen worden. Das Urteil ist zulassungsbeschwerdefähig.
Auf die Berufung des Klägers wird das am 06.10.2023 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 16. Zivilkammer des Landgerichts Münster (16 O 95/22) unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen wie folgt abgeändert:
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche immateriellen und materiellen Schäden, die ihm in Folge des Unfalles vom 18.03.2021 entstanden sind bzw. noch entstehen werden, nach einer Quote von 25 % zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind bzw. übergehen werden.
Im Übrigen bleibt die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz tragen der Kläger zu 75 % und die Beklagte zu 25 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Parteien wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils jeweils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
2I.
3Die Parteien streiten im Wege der Feststellungsklage um die Verpflichtung der Beklagten zur Leistung materiellen und immateriellen Schadensersatzes aufgrund eines Verkehrsunfalls vom 18.03.2021 in Lüdinghausen, bei dem der damals zehn Jahre und zwei Monate alte Kläger als Fußgänger beim Überqueren der Fahrbahn mit dem Pkw der Beklagten kollidierte und schwerstverletzt wurde.
4Der Kläger und sein zum Unfallzeitpunkt elf Jahre alter Freund, der Zeuge A, näherten sich im Laufschritt der B Straße aus einem Stichweg, der auf den Gehweg mündet, in der Absicht, die Straße zu überqueren. Auf der B Straße hatte sich zu dieser Zeit auf der von den Jungen zunächst zu überquerenden Richtungsfahrbahn ein Rückstau von wartenden Fahrzeugen gebildet, nachdem sich die Schranken eines weiter entfernten Bahnübergangs geschlossen hatten. Die beiden Kinder betraten im Laufschritt die blockierte Richtungsfahrbahn zwischen den Fahrzeugen und jedenfalls der Kläger lief, ohne anzuhalten oder zu schauen, zwischen den wartenden Fahrzeugen weiter auf die Gegenfahrbahn. Auf dieser näherte sich zu diesem Zeitpunkt die von einer vor dem Bahnübergang gelegenen Einmündung nach rechts auf die B Straße eingebogene Beklagte in ihrem Pkw. Der Kläger wurde von dem Pkw der Beklagten frontal erfasst und auf den Gehweg der jenseitigen Fahrbahnseite geschleudert. Hierdurch erlitt er unstreitig schwerste (vor allem Kopf-) Verletzungen.
5Bezüglich der Einzelheiten des jeweiligen erstinstanzlichen Parteivortrages und der Anträge wird auf die gewechselten Schriftsätze und auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils des Landgerichts Münster (Blatt 363 ff. der elektronischen Gerichtsakte erster Instanz, nachfolgend eGA I) verwiesen.
6Das Landgericht hat die Klage nach Beweisaufnahme durch Einholung eines schriftlichen unfallanalytischen Gutachtens des Sachverständigen C vollumfänglich abgewiesen.
7Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass dem Kläger infolge des Unfalls kein Anspruch gem. §§ 7, 18 StVG, § 823 BGB gegen die Beklagte zustehe, da eine Abwägung der Verursachungsbeiträge der Unfallbeteiligten gem. § 9 StVG i. V. m. § 254 Abs. 1 BGB dazu führe, dass die bloße Betriebsgefahr des nach den sachverständigen unfallanalytischen Feststellungen leicht unterhalb der zulässigen Geschwindigkeitsgrenze von 50 km/h geführten Pkw der Beklagten vollständig hinter dem schwerwiegenden Verkehrsverstoß des Klägers gegen § 25 Abs. 3 StVO zurücktrete. Er habe sich vor dem Überqueren der Fahrbahn nicht vergewissert, ob sich auf der Gegenfahrbahn ein vorfahrtsberechtigtes Fahrzeug nähere. Dieser Verstoß sei dem Kläger auch altersspezifisch subjektiv besonders vorwerfbar.
8Wegen der Einzelheiten der Entscheidungsgründe wird auf das angefochtene Urteil (eGA I-363 ff.) verwiesen.
9Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung, mit der er die Verletzung materiellen Rechts sowie Rechtsfehler bei der Tatsachenfeststellung rügt und sein erstinstanzliches Klagebegehren – unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens – weiterverfolgt.
10Zur Begründung trägt der Kläger im Wesentlichen vor, dass seine Haftung ausgeschlossen sei, da er die erforderliche Verantwortlichkeit nicht gehabt habe. Das Landgericht habe diese nur unterstellt, nicht festgestellt und insoweit auch das Angebot der Einholung eines kinderpsychologischen Sachverständigengutachtens übergangen. Soweit das Landgericht von einem schuldhaften Verhalten ausgehe, habe es die besondere verkehrsspezifische Situation des Rückstaus der Fahrzeuge auf einer Fahrbahnhälfte und den typisch kindlichen Rückschluss, dass dann auch von der Gegenseite aus kein Verkehr komme und er die Straße deswegen insgesamt queren könne, vernachlässigt.
11Der Kläger beantragt,
12das Urteil des Landgerichts Münster, zu Az.: 016 O 95/22, verkündet am 06.10.2023, abzuändern und nach den Schlussanträgen des Klägers in I. Instanz zu entscheiden.
13Die Beklagte beantragt,
14die Berufung zurückzuweisen.
15Die Beklagte verteidigt – unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens zur hinreichenden Einsichtsfähigkeit und zum grob schuldhaften Verhalten – die angefochtene Entscheidung.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
17Der Senat hat ergänzend Beweis erhoben durch erstmalige Vernehmung der Zeugen A, D, E, F und G sowie durch ergänzende mündliche Anhörung des Sachverständigen C. Die Akte 83 Js 1073/21 StA Münster war Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen des Inhalts und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll und den Berichterstattervermerk vom 25.06.2024 (eGA II-158 ff.) Bezug genommen.
18II.
19Die zulässige Berufung des Klägers hat teilweise Erfolg.
20Die Beklagte haftet dem Kläger dem Grunde nach aus § 7 Abs. 1 StVG, wobei aufgrund eines Mitverschuldens des Klägers gemäß § 9 StVG, § 254 BGB von einer Haftungsverteilung von 75 : 25 zu seinen Lasten auszugehen ist. Anders als das Landgericht angenommen hat, tritt die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs nicht vollständig zurück.
21Im Einzelnen:
221. Die erhobene Feststellungsklage ist zulässig. Der Kläger hat das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Interesse daran, die Haftung für die erlittenen Unfallfolgen dem Grunde nach feststellen zu lassen, da aufgrund seiner noch nicht abgeschlossenen Entwicklung derzeit noch nicht abzusehen ist, bis wann und in welchem Umfang sich Verletzungen und Schadensfolgen auswirken könnten.
232. Die Haftung der Beklagten für die unfallbedingten materiellen und immateriellen Schäden aus § 7 Abs. 1 StVG ist eröffnet, weil der Kläger beim Betrieb des von der Beklagten gehaltenen Fahrzeugs schwerst verletzt wurde und die Beklagte den Beweis der Verursachung durch höhere Gewalt gemäß § 7 Abs. 2 StVG nicht führen kann. Da der Kläger weder Halter noch Führer eines beteiligten Fahrzeuges war, kommt eine Anspruchskürzung nach § 17 StVG nicht in Betracht (vgl. nur BGH Urt. v. 4.4.2023 – VI ZR 11/21, r+s 2023, 455 Rn. 9). Der Kläger hat sich allerdings als Fußgänger beim Überqueren der Fahrbahn verkehrswidrig verhalten und dadurch die im Vordergrund stehende Schadensursache gesetzt. Das führt im Rahmen der Abwägung nach § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB zu einer Reduzierung der grundsätzlich vollen Haftung der Beklagten auf 25%.
24a) Die Abwägung der Verursachungsbeiträge ist aufgrund aller festgestellten, d. h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, wenn sie sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (vgl. BGH Urt. v. 17.1.2023 – VI ZR 203/22, r+s 2023, 265 Rn. 29 m. w. N.).
25Die Überzeugung nach § 286 Abs. 1 ZPO erfordert keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und auch keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (BGH Urt. v. 12.12.2023 – VI ZR 76/23, r+s 2024, 170 Rn. 15; BGH Urt. v. 23.6.2020 – VI ZR 435/19, VersR 2021, 1497 Rn. 13). Wenn der Partei der unmittelbare Beweis einer Tatsache, die ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal als vorhanden ergibt, nicht gelingt, kann sich das Gericht eine entsprechende Überzeugung auch aufgrund von Indizien bilden. Das Gericht darf sich allerdings nur auf solche Indizien stützen, die unstreitig oder bewiesen, also sicher festgestellt sind.
26b) In das Abwägungsverhältnis ist nach dem Ergebnis der zweitinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senats zu Lasten des Klägers ein objektiv und subjektiv vorwerfbarer fahrlässiger Verstoß gegen § 25 Abs. 3 StVO einzustellen.
27Nach Maßgabe des § 25 Abs. 3 StVO muss ein Fußgänger beim Überqueren der Fahrbahn, auf der der Fahrzeugverkehr grundsätzlich Vorrang hat, besondere Vorsicht walten lassen. Er muss an nicht besonders vorgesehenen Überquerungsstellen auf den bevorrechtigten Verkehr Rücksicht nehmen und bei Annäherung eines Fahrzeuges warten. Er darf insbesondere nicht versuchen, noch kurz vor einem herannahenden Kraftfahrzeug die Fahrbahn zu überqueren (so OLG Hamm Urt. v. 6.9.2019 – 7 U 18/17, BeckRS 2019, 51958 Rn. 39 m.w.N.).
28aa) Diesen Geboten ist der Kläger zunächst objektiv nicht gerecht geworden, da er jedenfalls den Fahrzeugverkehr der aus seiner Sicht Gegenrichtung, also in Fahrtrichtung der Beklagten beim Überqueren der B Straße nicht beobachtet hat. So haben bis auf den kindlichen Zeugen A, der glaubhaft aufgrund des unfallbedingten Schocks keinerlei Erinnerung an das Geschehen hat, alle Zeugen übereinstimmend bekundet, die Jungen seien aus dem Stichweg kommend über den Bürgersteig und zwischen den wartenden Fahrzeugen hindurch auf die Fahrbahn gerannt – mit dem entscheidenden Unterschied, dass (nur) der Zeuge A – wohl initiiert durch das warnende Hupen seitens des Zeugen E – rechtzeitig stehengeblieben ist. Diese glaubhaften Bekundungen der zufälligen Unfallzeugen stehen im Einklang mit den erst- und wiederholt zweitinstanzlichen unfallanalytischen Feststellungen des Sachverständigen C. Auf der Grundlage seiner technischen Analyse hat der Kläger die B Straße rennend, namentlich mit einer Geschwindigkeit von 13 km/h überquert. Diese Feststellung gründet sich zum einen auf die von dem Sachverständigen vorgenommene Schadensanalyse am Beklagtenfahrzeug, wonach die Anprallspuren und die Reihenfolge ihres Auftretens charakteristisch für eine hohe Gehgeschwindigkeit des Fußgängers sind, weil ein breiter Anstoßbereich vorliegt und sich von der Fahrzeugmitte bis zur äußersten rechten Seite am Außenspiegel erstreckt (Berichterstattervermerk vom 25.06.2024, Seite 6 Abs. 7, eGA II-170). Hier passt die erhebliche sog. Querwurfweite des Klägers von etwa 4,6 m, die sich ebenfalls nur mit schnellem Laufen oder langsamem Rennen erklären lässt (Berichterstattervermerk vom 25.06.2024, Seite 8 Abs. 4, eGA II-172).
29bb) Der danach auch zur Überzeugung des Senats festzustellende objektive Verstoß des Klägers gegen § 25 Abs. 3 StVO ist diesem grundsätzlich auch vorwerfbar.
30(1) Für den Senat besteht kein vernünftiger Zweifel daran, dass der Kläger im Unfallzeitpunkt die für eine Mithaftung erforderliche Einsichtsfähigkeit in die Gefährlichkeit seines Verhaltens besaß, also deliktsfähig i.S.d. § 828 Abs. 3 BGB war.
31(a) Nach § 828 Abs. 3 BGB ist, wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, sofern seine Verantwortlichkeit nicht nach § 828 Abs. 1 oder Abs. 2 BGB ausgeschlossen ist, für den Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wenn er bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat.
32Die Haftungsprivilegierung Minderjähriger in § 828 BGB erfasst nicht nur die Schäden, die Kinder einem anderen zufügen, sondern gilt auch im Rahmen des § 254 BGB. § 828 BGB gilt also unabhängig davon, ob das an einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug beteiligte Kind Schädiger oder – wie hier – Geschädigter ist (st. Rspr., vgl. hierzu z.B. BGH Urt. v. 30.11.2004 – VI ZR 335/03, NJW 2005, 354 = juris Rn. 12).
33Der Kläger war im Zeitpunkt des Unfalls mit zehn Jahren und zwei Monaten dem vorgelagerten Haftungsprivileg des § 828 Abs. 2 BGB gerade entwachsen. Seine Einsichtsfähigkeit wird damit nach § 828 Abs. 3 BGB grundsätzlich vermutet. Dafür genügt das allgemeine Verständnis, dass das eigene Verhalten irgendwelche Gefahren herbeiführen kann. Dabei ist allein auf die Einsichtsfähigkeit des Minderjährigen abzustellen, nicht auf seine Steuerungsfähigkeit; entscheidend ist die intellektuelle Fähigkeit, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen und sich der Verantwortung für die Folgen eigenen Tuns bewusst zu sein, nicht aber die Fähigkeit, sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten (BGH Urt. v. 30.11.2004 – VI ZR 335/03, NJW 2005, 354 = juris Rn. 15 m. w. N.).
34(b) Dem Kind/Jugendlichen obliegt die volle Darlegungs- und Beweislast dafür, dass er die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht nicht gehabt habe (vgl. OLG Hamm Urt. v. 16.9.2016 – I-9 U 238/15, BeckRS 2016, 113206 = juris Rn. 15; BGH Urt. v. 29.4.1997 – VI ZR 110/96, NJW-RR 1997, 1110 = juris Rn. 8 m. w. N.; BeckOK-StVR/Arntz, § 828 BGB Rn. 19).
35(c) Dieser Darlegungslast ist der Kläger im vorliegenden Fall nicht gerecht geworden. Für den Senat ergeben sich keine Anhaltspunkte, weshalb sich der Kläger als altersgerecht entwickeltes Kind, das kurz vor dem Wechsel auf die weiterführende Schule stand, über die grundsätzlichen Umstände und Konsequenzen der vorliegenden Verkehrssituation, also der Gefährlichkeit seines Tuns und der Folgen ausnahmsweise nicht in ausreichender Form bewusst gewesen sein sollte.
36(aa) Es steht im vorliegenden Fall, was keiner Vertiefung bedarf, ein elementares Verhaltensgebot im Straßenverkehr in Rede. Das gebotene Verhalten beim Überqueren einer Straße als Fußgänger zählt zu den ersten Regeln, die im Rahmen jeder Verkehrserziehung bereits im Vorschulalter vermittelt werden. Keinesfalls darf danach „blind“ über eine befahrene Fahrbahn gerannt werden.
37(bb) Es ist weder dargetan noch ersichtlich, weshalb der Kläger aus in seiner Person liegenden Gründen die Gefährlichkeit der Missachtung der Grundregel beim Überqueren einer Fahrbahn nicht hätte erkennen können. Schon nach eigenem Vortrag handelte es sich bei dem Kläger im Unfallzeitpunkt um ein altersgerecht entwickeltes Kind mit angemessenen schulischen Leistungen, bei dem der Wechsel auf die weiterführende Schule unmittelbar bevorstand. Dass der Kläger gerade in der Verkehrserziehung gemessen an dem durchschnittlichen Bildungsstand eines zehnjährigen Kindes (vgl. hierzu auch OLG Hamm Urt. v. 13.7.2009 – 13 U 179/08, r + s 2010, 299 = juris Rn. 29) gravierende Defizite gehabt hätte, steht nicht zur Überzeugung des Senats fest. Vielmehr hat die Mutter des Klägers in ihrer erstinstanzlichen Anhörung erklärt, dass ihm durch die Eltern „natürlich das alles mit dem Verkehr erklärt“ worden sei (Protokoll der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung vom 25.11.2022, S. 2, Bl. 196 eGA-I). Daran, dass dazu die Grundregel zum Verhalten beim Überqueren einer Straße gehörte, hegt der Senat keinerlei Zweifel. Der Umstand, dass der Kläger, wie vorgetragen, noch nicht lange vor Ort gewohnt habe und die Umgebung ihm deswegen nicht bekannt gewesen sei, entlastet den Kläger ebenfalls nicht, da die vermittelten Grundsätze der Verkehrserziehung ebenso wie die Regeln der StVO ortsunabhängig und abstrakt gelten.
38(cc) Bei der konkreten Verkehrssituation handelte es sich auch nicht um eine solche, die Kinder im Rahmen der unteren Altersgruppe des § 828 Abs. 3 BGB entgegen der Wertung des Gesetzgebers vollständig „überforderte“. Die insoweit von dem Kläger erst- wie zweitinstanzlich geforderte Beweisaufnahme durch Einholung eines kinderpsychologischen Sachverständigengutachtens war nicht geboten, da schon über allgemeine Ausführungen über die Fähigkeiten von Kindern in einer dem Kläger entsprechenden Altersgruppe hinaus keine konkreten Anknüpfungstatsachen für eine Überforderung des Klägers und damit für eine Beweiserhebung im konkreten Einzelfall vorgetragen sind. Solche sind auch nicht ersichtlich angesichts dessen, dass der Kläger das elementare Gebot missachtet hat, immer erst am Fahrbahnrand stehen zu bleiben und die Fahrbahn nur zu betreten, wenn sie sicher „frei“ von herannahendem Fahrzeugverkehr ist.
39(dd) Somit hat der Kläger beim Überqueren der Fahrbahn objektiv und subjektiv vorwerfbar die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen (§ 276 Abs. 2 BGB).
40d) Diesem Verschuldensbeitrag des Klägers steht auf Seiten der Beklagten allein die Betriebsgefahr ihres Pkw gegenüber.
41Diese ergibt sich aus dem gesetzlichen Grundgedanken, dass die Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr eine Gefahrenquelle eröffnet. Ein diese Gefahr erhöhender Verschuldensbeitrag trifft die Beklagte nach dem überzeugenden Ergebnis der unfallanalytischen Feststellungen des Sachverständigen nicht. Vielmehr hatte die Beklagte keine realistische bzw. noch realisierbare Möglichkeit, auf den vor ihr auf die Fahrbahn laufenden Kläger kollisionsvermeidend zu reagieren. Dies ergibt sich insbesondere aus der überzeugenden und anschaulichen Weg-Zeit-Analyse des Sachverständigen C. Der Sachverständige hat aufgezeigt, dass die Jungen in Annäherung durch die wartenden Fahrzeuge für die Beklagte im Zuge ihrer Annäherung an den Kollisionsort verdeckt waren. Infolgedessen war sie erst in dem Moment zur Reaktion aufgefordert, als der Kläger zwischen den Fahrzeugen auftauchte (Berichterstattervermerk vom 25.06.2024, Seite 8, eGA II-172). Sogar unabhängig davon, ob sich die Kinder durchgehend laufend (so das Ergebnis der Beweisaufnahme) oder aus dem Stand heraus auf die Fahrbahn begeben haben, stand der Beklagten nach den weiteren Feststellungen nur eine Reaktionszeit von knapp einer Sekunde bis zur Kollision zur Verfügung, welche die Umsetzung kollisionsvermeidender Maßnahmen nicht erlaubt hat (Berichterstattervermerk vom 25.06.2024, Seite 9 Abs. 3, eGA II-173). Die Beklagte hat – wie der Sachverständige überzeugend anhand der Fahrzeugbeschädigungen, der Verletzungen des Klägers und der Querwurfweite ermittelt hat und was von der Berufung auch zu Recht nicht in Frage gestellt wird – die zulässige Höchstgeschwindigkeit eingehalten. Soweit der Sachverständige ausgeführt hat, dass nur bei einer Annäherungsgeschwindigkeit des Pkw von maximal 32 km/h und einer sofortigen Reaktion der Beklagten die Kollision hätte vermieden werden können (Berichterstattervermerk vom 25.06.2024, Seite 9 Abs. 6, eGA II-173), sind Umstände, die eine solche Geschwindigkeitsreduktion im Vorfeld objektiv geboten hätten, weder vom Kläger dargetan noch sonst ersichtlich. Insbesondere hatte die Beklagte keinen Anhaltspunkt dafür, dass in diesem Bereich Kinder zu dieser Zeit auf die Fahrbahn laufen könnten (vgl. § 3 Abs. 2a StVO; dazu etwa Senat Beschl. v. 27.2.2024 – 7 U 120/22, BeckRS 2024, 12415 = juris Rn. 20 m. w. N.).
42e) Die auf Rechtsfolgenseite vorzunehmende Abwägung führt nach Auffassung des Senats zu einer Haftungsverteilung von 75 : 25 zu Lasten des Klägers. Ein Zurücktreten der einfachen Betriebsgefahr des Pkw der Beklagten, die der Senat regelmäßig mit 25% bemisst, hinter dem Verstoß des Klägers kommt nicht in Betracht.
43aa) Hierzu wäre erforderlich gewesen, dass dem Kläger sein Verstoß gegen § 25 Abs. 3 StVO in einer Weise vorzuwerfen ist, dass ihm objektiv und subjektiv ein erhebliches Verschulden zur Last fällt, welches die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeuges als völlig untergeordnet erscheinen lässt (vgl. hierzu BGH Beschl. v. 30.5.2006 – VI ZR 184/05, juris). Dies wäre etwa bei einem grob verkehrswidrigen Verhalten des Geschädigten anzunehmen (BGH Urt. v. 13.2.1990 – VI ZR 128/89, NJW 1990, 1483 = juris Rn. 20; aktuell dem folgend OLG Celle Urt. v. 11.10.2023 – 14 U 157/22, r+s 2024, 132 = juris Rn. 58 f.). Daran fehlt es, weil der Verkehrsverstoß des Klägers altersspezifisch nicht auch subjektiv als besonders vorwerfbar zu qualifizieren ist.
44bb) Der Kläger steht mit zum Unfallzeitpunkt zehn Jahren und zwei Monaten an der unteren Grenze des Übergangs zwischen den gesetzlichen Haftungsprivilegierungen des § 828 Abs. 2 und Abs. 3 BGB bezogen auf das Lebensalter. Grundsätzlich sind, wie der Gesetzgeber mit dieser Wertung zum Ausdruck bringt, Kinder im Straßenverkehr größeren Anforderungen und Gefahren ausgesetzt als Erwachsene, im Gegensatz zu denen sie altersgemäße Defizite mit Blick auf die Integration in den Straßenverkehr und seine Gefahren haben (vgl. BGH Urt. v. 13.2.1990 – VI ZR 128/89, NJW 1990, 1483 = juris Rn. 22; OLG Celle Urt. v. 11.10.2023 – 14 U 157/22, r+s 2024, 132 = juris Rn. 59). Der Kläger befand sich zum Unfallzeitpunkt in dem Alter, in dem Kinder typischerweise trotz der Vermittlung der Grundregeln noch nicht sämtliche Risiken des Straßenverkehrs sicher in ihre Entscheidungen einstellen können (so auch OLG Celle Urt. v. 11.10.2023 – 14 U 157/22, r+s 2024, 132 = juris Rn. 60). So ist es schon altersgemäß und nicht ungewöhnlich, wenn ein gerade 10 Jahre alter Junge unter besonderen Umständen die Befolgung der Grundregel zur sicheren Beobachtung des Fahrzeugverkehrs beim Überqueren einer Straße zu Gunsten der Schlussfolgerung, dass ein Rückstau auf einer Fahrbahn sich nähernden Fahrzeugverkehr auf der anderen Fahrbahn sicher ausschließt, vernachlässigt. Dies gilt insbesondere – wie hier entsprechend den Angaben der Zeugin D (Berichterstattervermerk vom 25.06.2024 Seite 2 Abs. 9, eGA II-166, und Seite 3 Abs. 2, eGA II-167) und der Zeugin G (Berichterstattervermerk vom 25.06.2024 Seite 5 Abs. 2, eGA II-169) – , wenn er ausgelassen und (offensichtlich um die Wette) laufend mit einem Freund unterwegs ist und beide ein gemeinsames Ziel – wie hier wohl den im Bereich auf der gegenüberliegenden Seite der Straße befindlichen Supermarkt – haben. Die Situation vor dem Unfall war somit durch eine kindestypische Eigendynamik gekennzeichnet, die wiederum den Kläger zu einer impulsiven Handlung/Schlussfolgerung verleitet und eine Ablenkung von den Sorgfaltspflichten und der Aufmerksamkeit im Straßenverkehr zur Folge gehabt hat. Hierzu passt, dass nur der Zeuge A (erst) auf das Hupsignal des Zeugen E reagiert und angehalten hat. Gerade in einer solchen Situation realisiert sich gleichzeitig die von Kraftfahrzeugen gegenüber einem Kind als Verkehrsteilnehmer ausgehende Betriebsgefahr in typischer Weise, da regelmäßig – wie hier – technisch keine Möglichkeit besteht, auf derartige Impulshandlungen schadensausschließend zu reagieren.
45II.
46Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1, § 97 Abs. 1 ZPO.
47Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
48Die Revision ist nicht zuzulassen (§ 543 Abs. 2 S. 1 ZPO). Die Rechtssache weist weder grundsätzliche Bedeutung auf noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs.