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Erkenntnisse aus der Auswertung des über den Kryptomessenger-Dienst ANOM geführten Chatverkehrs sind unter Berücksichtigung des Grundgedankens der Verwendungsschranke des § 100e Abs. 6 StPO verwertbar. Eine Beweisverwertung derart erlangter Daten ist demnach stets unzulässig, sofern diese den Kernbereich privater Lebensführung i. S. v. § 100d Abs. 2 S. 1 StPO betreffen. Darüber hinaus dürfen die Erkenntnisse in einem Strafverfahren ohne Einwilligung der überwachten Person nur zur Aufklärung des Verdachts einer Katalogtat i. S. v. § 100b Abs. 2 StPO oder zur Ermittlung des Aufenthalts der einer solchen Straftat beschuldigten Person verwendet werden. Ferner sind die einschränkenden Voraussetzungen des § 100b Abs. 1 Nr. 2 und 3 StPO zu beachten, wonach die Straftat auch im Einzelfall besonders schwer wiegen und die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos sein muss.
Für die Prüfung, ob die Voraussetzungen einer Katalogtat i. S. v. § 100b StPO erfüllt sind, ist auf den Zeitpunkt der Verwendung der Beweisergebnisse abzustellen. Vor dem 01.04.2024 im Zuge der Überwachung der „ANOM“-Chats erlangte Erkenntnisse sind demnach nur verwertbar, wenn die betreffenden Delikte auch im Verwertungszeitpunkt noch den Anforderungen des § 100e Abs. 6 StPO genügen, wenn sie also auch nach Inkrafttreten des KCanG zum 01.04.2024 noch als Katalogtaten i. S. v. § 100b Abs. 2 StPO einzustufen sind.
1. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Arnsberg wird der Beschluss des Landgerichts Arnsberg vom 22.01.2024 (vormals Az.: II-2 KLs 36/23) aufgehoben, soweit die Eröffnung des Hauptverfahrens betreffend den Angeschuldigten Y. hinsichtlich der in der Anklageschrift vom 14.11.2023 (unter der Überschrift „Taten des Y.“) erhobenen Vorwürfe zu Ziffer 1.) bis 7.) abgelehnt worden ist.
Im vorbezeichneten Umfang wird die Anklage der Staatsanwaltschaft Arnsberg vom 14.11.2023 (vormals Az.: 412 Js 287/22) zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren vor dem Landgericht – große Strafkammer – Arnsberg mit der Maßgabe eröffnet, dass der Angeschuldigte Y. wegen bandenmäßigen verbotenen Handeltreibens mit Cannabis in nicht geringer Menge in sieben Fällen, in einem Fall tateinheitlich mit bandenmäßigem unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Verbrechen strafbar gemäß §§ 2 Abs. 1 Nr. 4, 34 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 4 Nr. 3 KCanG, § 30a Abs. 1 BtMG, §§ 52, 53 StGB) hinreichend verdächtig ist.
Im Übrigen wird die sofortige Beschwerde als unbegründet verworfen.
2. Die Kosten des – die Angeschuldigten I. und J. betreffenden – Beschwerdeverfahrens sowie die den Angeschuldigten I. und J. im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Im Übrigen bleibt die Kosten- und Auslagenentscheidung der endgültigen Entscheidung in der Hauptsache vorbehalten.
Gründe:
2I.
3Die Staatsanwaltschaft Arnsberg hat im Ermittlungsverfahren Az. 412 Js 287/22 am 14.11.2023 gegen die Angeschuldigten Y., I. und J. (sowie einen weiteren Angeschuldigten) Anklage vor der großen Strafkammer des Landgerichts Arnsberg erhoben (betreffend den Angeschuldigten Y. wegen des Verdachts des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in acht Fällen, §§ 29a Abs. 1 Nr. 2, 33 BtMG, § 53 StGB; betreffend den Angeschuldigten I. wegen des Verdachts des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in vier Fällen, in einem Fall tateinheitlich mit unerlaubtem Einführen von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, §§ 29a Abs. 1 Nr. 2, 30 Abs. 1 Nr. 4, 33 BtMG, § 53 StGB; sowie gegen die Angeschuldigte J. wegen des Verdachts der Beihilfe zu einem unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, §§ 29a Abs. 1 Nr. 2, 33 BtMG, § 27 StGB).
4Den Angeschuldigten Y. und I. wird in der Anklageschrift zur Last gelegt, untereinander (sowie der Angeschuldigte Y. mit zwei weiteren bislang nicht identifizierten Nutzern) unter Verwendung sogenannter „Kryptohandys“ mit dem „in Verbrecherkreisen als nicht rückverfolgbar und somit sicher“ geltenden Messenger-Dienst „ANOM“ (in der Folge umgesetzte) Absprachen zu Betäubungsmittelgeschäften getroffen zu haben, wobei der Angeschuldigte Y. unter dem Anonym „L.“ und der Angeschuldigte I. unter der Kennung „F.“ agiert haben sollen.
5Im Einzelnen werden dem Angeschuldigten Y. folgende (über den Messengerdienst „ANOM“ zustande gekommene) Betäubungsmittelgeschäfte vorgeworfen:
6„(1.)
7Am 22.04.2021 kaufte der Angeschuldigte Y. von seinem Lieferanten, der unter der Kennzeichnung G. agierte, 8 kg Marihuana für 4.550 EUR pro Kilogramm, um diese Betäubungsmittel gewinnbringend zu verkaufen. Die Betäubungsmittel wurden an die Anschrift des Angeschuldigten Y., E.-straße 00 in H. geliefert und von diesem entgegengenommen.
8(2.)
9Am 28.04.2021 kaufte der Angeschuldigte Y. in H. wiederum von seinem Lieferanten G. 6 kg Marihuana für 4.800 EUR pro Kilogramm, um diese Betäubungsmittel ebenfalls gewinnbringend zu verkaufen. Die Betäubungsmittel wurden an die Anschrift des Angeschuldigten Y. geliefert und von diesem entgegengenommen.
10(3.)
11Am 06.05.2021 kaufte der Angeschuldigte Y. von seinem Lieferanten G. 5 kg Marihuana am E.-straße 00 für 4.700 EUR pro Kilogramm, um diese Betäubungsmittel gewinnbringend zu verkaufen.
12Am selben Tag verkaufte er von dieser gelieferten Menge an den Angeschuldigten I. gewinnbringend 2 kg Marihuana für 5.100 EUR pro Kilogramm an seinem Bunker E.-straße 00 in H..
13(4.)
14Am 12.05.2021 kaufte der Angeschuldigte Y. von seinem Lieferanten, der unter dem Pseudonym G. agierte, 5 kg Marihuana für 23.500 EUR, um diese Betäubungsmittel gewinnbringend zu verkaufen. Am selben Tag verkaufte er von der so erhaltenen Menge 2 kg Marihuana an den Angeschuldigten I. für 9.800 EUR an seiner Anschrift am E.-straße 00 in H..
15(5.)
16Am 21.05.2021 kaufte der Angeschuldigte Y. von seinem Lieferanten, der seinen Lieferanten G. wegen dessen Abwesenheit vertrat, und unter dem Synonym „T.“ agierte, 4 kg Marihuana für insgesamt 19.200 EUR, um diese Betäubungsmittel gewinnbringend zu verkaufen. Absprachegemäß wurden die Betäubungsmittel an die Anschrift des Angeschuldigten Y., E.-straße 00 in H., wo er einen Betäubungsmittel-Bunker betrieb, geliefert und von diesem entgegengenommen.
17(6.)
18Am 30.05.2021 kaufte der Angeschuldigte Y. wiederum von seinem Lieferanten „T.“ am E.-straße 00 in H. 5 kg Marihuana für 23.500 EUR, um diese Betäubungsmittel gewinnbringend zu verkaufen.
19(7.)
20Am 04.06.2021 kaufte der Angeschuldigte Y. in H. von seinem Lieferanten „T.“ 7 kg Marihuana für 4.700 EUR pro Kilogramm und 335 Gramm Kokain für 11.725 €, um diese Betäubungsmittel ebenfalls gewinnbringend zu verkaufen.“
21In Bezug auf den – nicht aus Absprachen über den Messengerdienst „ANOM“ herrührenden – Vorwurf zu (8.) ist das Verfahren im weiteren Verlauf abgetrennt worden (s. u.). Insofern hat die Staatsanwaltschaft Arnsberg dem Angeschuldigten Y. vorgeworfen, am 19.08.2023 von einem weiteren (infolge der Abtrennung gesondert verfolgten) Angeschuldigten 4.952,27 g Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von 775 g THC sowie 999,25 g Amphetaminöl mit einem Wirkstoffgehalt von 80,6 g Amphetaminbase gekauft zu haben, um diese Betäubungsmittel gewinnbringend zu verkaufen. Absprachegemäß seien die vorgenannten Betäubungsmittel am 19.08.2023 von dem gesondert verfolgten Angeschuldigten zum (zu diesem Zeitpunkt mittels dort fest fixierter Kamera überwachtem) Wendehammer Q.-straße 00 in H. verbracht und in einem von dem Angeschuldigten Y. als „Bunker“ genutzten Fahrzeug K. verstaut worden. Im Anschluss habe der Angeschuldigte Y. die Tasche mit den Betäubungsmitteln im Kofferraum des vorgenannten Fahrzeugs verstaut, indem er es dort unter der Kofferraumabdeckung sowie einer Decke versteckt habe, um es später gewinnbringend zu verkaufen.
22Dem Angeschuldigten I. werden mit Anklageschrift vom 14.11.2023 folgende (über den Messengerdienst „ANOM“ zustande gekommene) Betäubungsmittelgeschäfte vorgeworfen:
23„(1.)
24Am 06.05.2021 kaufte der Angeschuldigte I., der selbst im ANOM-Netzwerk, einem Netzwerk von Kryptotelefonie unter der Kennung „F.“ agierte, von dem Angeschuldigten Y., der unter der Kennung „L.“ agierte, 2 kg Marihuana für 5.100 EUR pro Kilogramm am E.-straße 00 in H., um diese Betäubungsmittel gewinnbringend zu verkaufen.
25(2.)
26Am 12.05.2021 kaufte der Angeschuldigte I. wiederum von dem Angeschuldigten Y. 2 kg Marihuana für 9.800 EUR am E.-straße 00 in H., um diese Betäubungsmittel gewinnbringend zu verkaufen.
27(3.)
28Am 24.05.2021 kaufte der Angeschuldigte I. von dem Lieferanten des Angeschuldigten Y., der unter der Kennung „T.“ im ANOM-Netzwerk agierte – durch Vermittlung des Angeschuldigten Y. – in R. 4 kg Marihuana für 19.600 EUR, um diese Betäubungsmittel gewinnbringend zu verkaufen.“
29Hinsichtlich eines weiteren – nicht aus Absprachen über den Messengerdienst „ANOM“ herrührenden – Vorwurfs zu 4.) (Kauf von 999,02 g Kokain in (..) und Einbringen in die Bundesrepublik Deutschland am 21.08.2023) ist auch in Bezug auf den Angeschuldigten I. das Verfahren im späteren Verlauf abgetrennt worden (s. u.).
30Der Angeschuldigten J. legt die Staatsanwaltschaft ferner (im Zusammenhang mit dem gegen den Angeschuldigten Y. gerichteten Vorwurf zu (8.)) Folgendes zur Last:
31„Am 19.08.2023 half die Angeschuldigte J. in Kenntnis davon, dass sich in der (…) an den Angeschuldigten Y. übergebenen Tasche Betäubungsmittel in nicht geringer Menge für den gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmt waren, befanden, dem Angeschuldigten Y. diese Betäubungsmittel im Kofferraum des Fahrzeugs K. zu verstecken, indem sie zunächst den Kofferraum ausräumte und nach Verbringung der Betäubungsmittel in den Kofferraum aus dem Haus Q-straße 00 eine Kofferraumabdeckung für den K. herbeischaffte und diese anbrachte, um eine Einsichtnahme von außen auf die Betäubungsmittel zu verhindern und diese zu verstecken, damit der Angeschuldigte Y. die von ihm zum gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmten (…) Betäubungsmittel im Kofferraum des Fahrzeugs verstauen konnte. Die Angeschuldigte handelte dabei in der Absicht, dem Angeschuldigten Y. durch Verstauen der Betäubungsmittel den Erhalt der Betäubungsmittel zu sichern.“
32Mit Beschluss vom 22.01.2024 hat das Landgericht Arnsberg die Eröffnung des Hauptverfahrens betreffend den Angeschuldigten Y. hinsichtlich der Anklagevorwürfe zu 1.) bis 7.), betreffend den Angeschuldigten I. hinsichtlich der Vorwürfe zu 1.) bis 3.) und in Bezug auf die Angeschuldigte J. insgesamt abgelehnt und im Übrigen die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen.
33Zur Begründung hinsichtlich der Nichteröffnungsentscheidung hat die Strafkammer
34– mit weiterer Erläuterung – Folgendes ausgeführt:
35„Die Verdachtslage gegen die Angeklagten Y. und I. ergibt sich hinsichtlich der Anklagepunkte, bezüglich derer die Hauptverhandlung nicht eröffnet wird, allein aus der Auswertung der Chat-Inhalte des Krypto-Systems „ANOM“. Andere Beweismittel sind – jedenfalls nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen – nicht ersichtlich, insbesondere haben sich die Beschuldigten nicht zur Sache eingelassen. Objektive Beweismittel dürften rückwirkend kaum zu erlangen sein. Die Ergebnisse der Auswertung unterliegen jedoch nach Ansicht der Kammer einem Beweisverwertungsverbot. (…)“
36Die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens bezüglich des gegen die Angeschuldigte J. gerichteten Vorwurfs hat das Landgericht zusammengefasst dahingehend begründet, dass es an einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit fehle, „dass mit den zur Verfügung stehenden Beweismitteln im Rahmen einer Hauptverhandlung ein Tatnachweis insbesondere hinsichtlich des Gehilfenvorsatzes gelingen“ werde. Zwar würden sich die objektiven Handlungen der Angeschuldigten voraussichtlich durch die Aufnahmen im Rahmen der Observation der Anschrift Q-straße 00 nachweisen lassen. Die subjektive Komponente lasse sich hieraus allerdings nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit ableiten, insbesondere vor dem Hintergrund, dass es der Angeschuldigte Y. gewesen sei, der die Tasche zunächst mit einer Decke abgedeckt und anschließend in den Kofferraum gestellt habe und dies geschehen sei, während die Angeschuldigte J. nicht direkt danebengestanden, sondern sich auf dem Weg ins Haus befunden habe, um die Kofferraumabdeckung zu holen. Dieser Geschehensablauf lasse insbesondere die Möglichkeit offen, dass die Angeschuldigte keine Kenntnis von dem konkreten Inhalt der Tasche hatte, zumal sich aus den nach Sicherstellung der Tasche gefertigten Aufnahmen ergeben habe, dass die darin enthaltenen Betäubungsmittel mehrfach verpackt und bei einem bloßen Blick in die Tasche nicht auf Anhieb erkennbar gewesen seien. Es lägen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich im Rahmen der Hauptverhandlung weitere Erkenntnisse zur Frage des Gehilfenvorsatzes gewinnen lassen würden. Insbesondere sei nicht ersichtlich, dass die Angeschuldigte durch zu erwartende Aussagen belastet werden könnte.
37Gegen den der Staatsanwaltschaft Arnsberg am 24.01.2024 zugestellten Beschluss legte diese mit am 26.01.2024 beim Landgericht per Fax eingegangenem Schreiben vom 25.01.2024 sofortige Beschwerde ein.
38Mit Beschluss vom 29.01.2024 hat das Landgericht Arnsberg das Verfahren hinsichtlich des nicht eröffneten Teils abgetrennt und im Anschluss dem Oberlandesgericht Hamm unter dem neu eingetragenen Az. II-2 KLs – 412 Js 156/24 – 7/24 zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde vorgelegt.
39Die Generalstaatsanwaltschaft ist der sofortigen Beschwerde mit Stellungnahme vom 25.06.2024 beigetreten und hat beantragt, den Beschluss des Landgerichts Arnsberg vom 22.01.2024 aufzuheben soweit die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt worden ist. Sie hat ferner beantragt, die Anklage vom 14.11.2023 betreffend die Angeschuldigten Y. (hinsichtlich der Anklagevorwürfe zu 1. – 7.) und I. (hinsichtlich der Anklagevorwürfe zu 1. – 3.) zur Hauptverhandlung zuzulassen und das Hauptverfahren vor der großen Strafkammer des Landgerichts Arnsberg mit der Maßgabe zu eröffnen, dass betreffend den Angeschuldigten Y. eine Strafbarkeit wegen verbotenen Handeltreibens mit Cannabis in 7 Fällen in Betracht komme, wobei sich die Handlung auf eine nicht geringe Menge beziehe (besonders schwerer Fall, §§ 2 Abs. 1 Nr. 4, 34 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 3 S. 1, 2, Nr. 4 KCanG) und dass betreffend den Angeschuldigten I. eine Strafbarkeit wegen verbotenen Handeltreibens mit Cannabis in drei Fällen in Betracht komme, wobei sich die Handlung auf eine nicht geringe Menge beziehe (besonders schwerer Fall, §§ 2 Abs. 1 Nr. 4, 34 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 3 S. 1, 2, Nr. 4 KCanG). Hinsichtlich der gegen die Angeschuldigte J. erhobenen Anklage hat die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, diese zur Hauptverhandlung zuzulassen und das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht – Schöffengericht – Soest mit der Maßgabe zu eröffnen, dass eine Strafbarkeit wegen tateinheitlich begangener Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie zum verbotenen Handeltreiben mit Cannabis in Betracht komme, wobei sich die Handlung auf eine nicht geringe Menge beziehe (§ 27 StGB, § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, §§ 34 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 3 S. 1, 2 Nr. 4 KCanG).
40Die Angeschuldigten haben über ihre Verteidiger mit Schriftsatz vom 08.08.2024 (Angeschuldigte J.), vom 09.08.2024 (Angeschuldigter Y.) und vom 26.08.2024 (Angeschuldigter I.) Stellung genommen.
41II.
42Die gemäß §§ 210 Abs. 2, 304, 311 Abs. 2 StPO zulässige sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Arnsberg hat teilweise – in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang – Erfolg.
431.
44Entgegen der Auffassung der Strafkammer liegen die Voraussetzungen für die Eröffnung des Hauptverfahrens hinsichtlich der gegen den Angeschuldigten Y. erhobenen Anklagevorwürfe zu 1.) bis 7.) vor.
45Der Senat hat als Beschwerdegericht das in dem Nichteröffnungsbeschluss liegende negative Wahrscheinlichkeitsurteil des Landgerichts in vollem Umfang nachzuprüfen, die Voraussetzungen der Eröffnung selbständig zu würdigen und in der Sache selbst über die Eröffnung zu entscheiden (vgl. BGH, Beschl. v. 19.01.2010 – StB 27/09 – juris Rn. 34).
46Gemäß § 203 StPO beschließt das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens, wenn nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig ist. Ein hinreichender Tatverdacht ist zu bejahen, wenn bei vorläufiger Tatbewertung auf Grundlage des Ermittlungsergebnisses nach Maßgabe des Akteninhalts die Verurteilung in einer Hauptverhandlung mit vollgültigen Beweismitteln wahrscheinlich ist (vgl. BGH, Beschl. v. 22.04.2003 – StB 3/03 – juris Rn. 9; BGH, Beschl. v. 07.10.2021 – StB 31/21 – juris Rn. 9; vgl. Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, 67. Auflage 2024, § 203 Rn. 2). Damit wird ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit vorausgesetzt, als dies beim dringenden Tatverdacht im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 oder § 126a StPO der Fall ist. Erst recht ist zur Eröffnung des Hauptverfahrens nicht die für eine Verurteilung notwendige volle richterliche Überzeugung erforderlich (BGH, Beschl. v. 07.10.2021 – StB 31//21 – juris Rn. 9).
47Bei der Prüfung des hinreichenden Tatverdachts im Rahmen der Eröffnungsentscheidung sind aber – wie die Strafkammer zutreffend angenommen hat – mögliche Beweisverwertungsverbote zu berücksichtigen, weil für die Verurteilungswahrscheinlichkeit nicht nur der materielle Verdachtsgrad, sondern auch die tatsächliche Beweisbarkeitsprognose gegeben sein muss (vgl. BGH, Beschl. v. 01.12.2016 – 3 StR 230/16, NJW 2017, 1828 Rn. 14; KK-StPO/Schneider, 9. Aufl. 2023, StPO § 203 Rn. 9 m. w. N.).
48Gemessen hieran besteht hinsichtlich der dem Angeschuldigten Y. in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Arnsberg vom 14.11.2023 vorgeworfenen Taten zu Ziffer 1.) bis 7.) die für die Eröffnung des Hauptverfahrens nach § 203 StPO erforderliche Verurteilungswahrscheinlichkeit, nach Maßgabe der aus dem Tenor ersichtlichen rechtlichen Bewertung.
49a)
50Die dem Angeschuldigten diesbezüglich zur Last gelegten (einzelnen) Betäubungsmittelgeschäfte lassen sich – nach Aktenlage – in tatsächlicher Hinsicht ohne Weiteres aus dem Inhalt der über Kryptohandys mithilfe des Messengerdienstes „ANOM“ unter den Nutzern „L.“, „F.“, „G.“ und „T.“ ausgetauschten (in den entsprechenden Sonderbänden wiedergegebenen) Nachrichten ebenso ableiten, wie seine Identifizierung als Nutzer der Kennung „L.“ (dies insbesondere im Zusammenspiel mit Informationen aus erkennungsdienstlichen und Ermittlungsmaßnahmen in früheren, gegen den Angeschuldigten geführten Verfahren, wie mehreren Wohnungsdurchsuchungen). Dabei liegt – nach Aktenlage – in Bezug auf den Vorwurf zu 7.) ein (tateinheitlich begangenes) unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (335 g Kokain) i. S. d. § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG vor, während die Vorwürfe im Übrigen – da sämtlich auf Geschäfte mit Marihuana bezogen – nach dem am 01.04.2024 in Kraft getretenen Konsumcannabisgesetz zu beurteilen sind (§ 2 Abs. 3 StGB).
51Da das Beschwerdegericht – wie oben bereits dargelegt – das in dem Nichteröffnungsbeschluss liegende Wahrscheinlichkeitsurteil und dessen rechtliche Bewertung in vollem Umfang nachzuprüfen und die Voraussetzungen der Eröffnung selbstständig zu würdigen hat (vgl. BGH, Beschl. v. 19. Januar 2010 – StB 27/09 –, BGHSt 54, 275-328, juris – Rn. 34) ist der Senat bei der entsprechenden Prüfung weder an die sich aus der Anklageschrift ergebende rechtliche Bewertung, noch an die dort dargelegten tatsächlichen Feststellungen gebunden. Vielmehr ist der gesamte Akteninhalt als Grundlage für die Eröffnungsentscheidung heranzuziehen (vgl. LG Aachen, BeckRS 2021, 2225; BeckOK StPO/Ritscher, 52. Ed. 1.7.2024, StPO § 203 Rn. 4).
52Dies zugrunde gelegt, ist abweichend von der rechtlichen Bewertung in der Anklageschrift – bei der gebotenen vorläufigen Beurteilung – insbesondere im Hinblick auf das sich aus den „ANOM“-Chatverläufen des Nutzers „L.“ mit den Nutzern „G.“ und „T.“ ergebende, ineinander greifende Zusammenwirken im Gestaltungs- und Finanzierungsbereich der einzelnen Betäubungsmittelgeschäfte davon auszugehen, dass der Angeschuldigte Y. im Zuge der ihm vorgeworfenen Taten zu 1.) bis 7.) i. S. d. § 34 Abs. 4 Nr. 3 KCanG, § 30a Abs. 1 BtMG als Mitglied einer Bande handelte, die sich zur fortgesetzten Begehung entsprechender Betäubungsmitteldelikten verbunden hat.
53Der Begriff der Bande setzt – auch im Betäubungsmittelstrafrecht (vgl. BGH, Beschl. v. 18.04.2001 – 3 StR 69/01, BeckRS 2001, 30175301; BeckOK BtMG, BtMG § 30 Rn. 5) – den Zusammenschluss von mindestens drei Personen voraus, die sich mit dem Willen verbunden haben, künftig für eine gewisse Dauer mehrere selbstständige, im Einzelnen noch ungewisse Straftaten des im Gesetz genannten Deliktstypus zu begehen. Danach unterscheidet sich die Bande einerseits von der Mittäterschaft durch das Element der auf eine gewisse Dauer angelegten Verbindung zu zukünftiger gemeinsamer Deliktsbegehung. Andererseits sind weder eine „Organisationsstruktur“ i. S. d. § 129 StGB noch ein "gefestigter Bandenwille" oder ein "Tätigwerden in einem übergeordneten Bandeninteresse" erforderlich (vgl. Fischer, StGB 71. Auflage 2024, § 244 Rn. 35). Es steht der Annahme einer Bande deshalb nicht entgegen, wenn ihre Mitglieder bei der Tatbegehung ihre eigenen Interessen an einer risikolosen und effektiven Tatausführung verfolgen oder einer eigenen Beute- oder Gewinnerzielungsabsicht nachgehen (vgl. BGH, Urt. v. 16.11.2006; NStZ 2007, 269; Patzak/Fabricius/Patzak, 11. Aufl. 2024, BtMG § 30 Rn. 28).
54Auch muss die Bandenabrede nicht ausdrücklich getroffen werden; vielmehr genügt bereits jede Form stillschweigender Vereinbarung, die aus dem wiederholten deliktischen Zusammenwirken mehrerer Personen hergeleitet werden kann (vgl. BGH, Beschl. v. 15.01.2002 - 4 StR 499/01; NJW 2002, 1662). Sie setzt auch nicht voraus, dass sich alle Beteiligten persönlich absprechen und untereinander kennen; vielmehr kann sie auch durch aufeinander folgende Vereinbarungen entstehen. Insbesondere kann die Bandenabrede dadurch zu Stande kommen, dass sich zwei Personen einig sind, künftig im Einzelnen noch ungewisse Straftaten mit zumindest einem dritten Beteiligten zu begehen, und der von der Absprache informierte Dritte sich der Vereinbarung ausdrücklich oder durch schlüssiges Verhalten anschließt (vgl. BGH, Urt. v. 16.06.2005 - 3 StR 492/04; s. auch BGH, Urt. v. 23.04.2009 - 3 StR 83/09, BeckRS 2009, 12864).
55Gemessen hieran liegt es nahe, dass der Angeschuldigte Y. im Zuge der ihm vorgeworfenen Rauschmittelgeschäfte als Mitglied einer Bande gehandelt haben könnte, die sich zur fortgesetzten Begehung von Betäubungsmitteldelikten verbunden hat.
56Indizielle Bedeutung kommt dabei zunächst dem – aus dem Chatverlauf zwischen den Nutzern „L.“ und „G.“ ersichtlichen – Umstand zu, dass sich die Kryptohandynutzer auch persönlich zum Zwecke von Gesprächen trafen („ich komm morgen vorbei, wir reden schön, ich kann dir auch Hase besorgen“, Zeile 35, S. 21 Sonderband „L.“ und „G.“ [im weiteren: SB Chat L.&G.]) und dies augenscheinlich auch losgelöst von der Abwicklung einzelner Geschäfte („Bro, bis jetzt hab ich gar nicht, Bro. (…) Aber in zwei Tagen kommt was anders, Bro, ich weiß nicht, vielleicht komme ich kurz heute vorbei, wir reden besser da“, Zeile 184, S. 25 SB Chat L.&G.).
57Wie aus dem Chat zwischen „L.“ und „G.“ weiter ersichtlich, stellte Letzterer (spätestens) am 28.04.2021 den Kontakt zwischen „L.“ und dem weiteren „ANOM“-Nutzer „T.“ (cousin des „G.“) her, indem er „L.“ bat, seinem Cousin über das Kryptohandy eine „request for friends“ zu schicken, woraufhin „L.“ antwortete „Habe ihn“ (Zeilen 277 bis 289, S. 31 SB Chat L.&G.). Eingebunden wurde der Nutzer „T.“ dabei zur Abwicklung der zuvor erfolgten Bestellung von 6 kg Marihuana, die „T.“ an „L.“ ausliefern sollte. Im Chat zwischen „L.“ und „T.“ wird die Kontaktherstellung sodann (ebenfalls am 28.04.2021) bestätigt, indem sich „T.“ dort als „cousine von P.“ vorstellt (Zeilen 5 bis 15, S. 14, Sonderband Chat „L.“ und „T.“ [im weiteren: SB Chat L.&T.]). Bereits im Chat mit „G.“ vom 22.04.2021 gibt „L.“ ferner an, Ersterer sei „letztens“ mit seinem Cousin bei ihm gewesen (Zeile 76, S. 22 SB Chat L.&G.).
58Die im weiteren Verlauf zwischen den drei Nutzern – auch zwischen den einzelnen Geschäften – stattgefundene Kommunikation lässt ebenfalls auf ein (einvernehmliches) Zusammenwirken dieses „Gespanns“ im Zuge der Betäubungsmitteldelikte schließen, wobei die bislang ungeklärte Identität der Nutzer „G.“ und „T.“ deren Einbindung in die Bande nicht entgegensteht (vgl. BGH, Urt. v. 23.04.2009 – 3 StR 83/09; BeckRS 2009, 12864). So fragt „L.“ am 02.05.2021 bei „T.“ an, ob „P.“ noch „koka“ habe und ob er sich um die Rückgabe von „2 kg gras“ (wohl schlechter Qualität) gekümmert habe. Beides wird ihm sowohl durch „T.“, als auch durch „G.“ bestätigt (Zeilen 44 bis 51, S. 14 SB Chat L.&T., Zeilen 388 bis 405, S. 34 SB Chat L.&G.).
59Auch nach seiner über den „ANOM“-Chat am 22.05.2021 mitgeteilten „Flucht“ nach (..) bleibt „G.“ offenbar an der Organisation der Geschäfte beteiligt. So gibt „T.“ am 31.05.2021 gegenüber „L.“ an, er bekomme „koka“. Hinsichtlich des Preises könne „L.“ mit „P.“ sprechen (Zeilen 464 bis 470, S. 28 Chat L.&T.). Ferner erkundigt sich „L.“ am 30.05.2021 bei „G.“, ob dieser einen Fahrer habe, „der aus X. was fahren“ könne, was „G.“ verneint und „L.“ den Preis nennt, wenn er selber fahren kann (Zeilen 691 bis 695, S. 60 Chat L.&G.). Hierzu spiegelbildlich findet sich im Chat vom 30.05.2021 zwischen „L.“ und „T.“ Kommunikation zur Suche nach einem Fahrer für die Abholung aus X., wobei beide gegenseitig anbieten, sich um die Beschaffung eines Fahrers zu bemühen (Zeilen 349 bis 373, Seite 26 Chat L.&T.). Auch diese Absprachen sprechen – ebenso wie der zeitliche Zusammenhang der einzelnen, dem Angeschuldigten Y. vorgeworfenen Geschäfte (vgl. BGH Urt. v. 23.04.2009 – 3 StR 83/09, BeckRS 2009, 12864) – für ein arbeitsteiliges Handeln i. S. e. bandenmäßigen Begehung.
60Gegen diese Annahme spricht auch nicht der Umstand, dass die Nutzer „G.“ und „T.“ augenscheinlich als „Verkäufer“ und der Nutzer „L.“ als Erwerber der gehandelten Betäubungsmittel auftreten. Zwar begründet ein auf Dauer angelegtes Zusammenwirken mehrerer selbstständiger, eigene Interessen verfolgender Geschäftspartner beim Betäubungsmittelhandel grundsätzlich auch dann keine Bande, wenn die Beteiligten in einem eingespielten Bezugs- und Absatzsystem im Rahmen einer andauernden Geschäftsbeziehung tätig werden (vgl. BGH, Beschl. v. 05.06.2019 – 1 StR 223/19, BeckRS 2019, 25556). Für das Vorliegen von Bandenhandel ist vielmehr maßgeblich, ob die Person, die regelmäßig von einem bestimmten Verkäufer Betäubungsmittel zum Zwecke des gewinnbringenden Weiterverkaufs bezieht, in dessen Absatzorganisation als „verlängerter Arm“ eingebunden ist, oder aber – mit der Folge einer zu verneinenden bandenmäßigen Verbindung – dieser auf der Abnehmerseite als selbständiger Geschäftspartner gegenübersteht und eigene Interessen verfolgt. Dies wiederum beurteilt sich insbesondere nach der getroffenen Risikoverteilung (vgl. BGH, Beschl. v. 05.06.2019 - 1 StR 223/19, BeckRS 2019, 25556; BeckOK BtMG/Schmidt, 23. Ed. 15.6.2024, BtMG § 30 Rn. 14), bspw. danach, ob der „Abnehmer“ einzelne Lieferungen unmittelbar bezahlt und anschließend deren weiteren Absatz auf eigenes Risiko abwickelt (vgl. BGH, Urt. v. 22.04.2004 - 3 StR 28/04; NStZ 2004, 696).
61Dies zugrunde gelegt geht die aus den Chatprotokollen ersichtliche Verbindung der Nutzer „G.“, „T.“ und „L.“ – nach Aktenlage – über ein „bloßes“ Bezugs- und Absatzsystem unter Verfolgung jeweils eigener Interessen hinaus. Dies folgt einerseits aus dem Umstand, dass sowohl „G.“ als auch „T.“ dem „L.“ offenbar zugestehen, Lieferungen erst zu einem späteren Zeitpunkt vollständig zu bezahlen, so auch in Bezug auf das am 04.06.2021 gehandelte Kokain (vgl. Zeile 72, S. 22; Zeilen 143 bis 149, S. 25; Zeile 229, S. 26; Zeile 254 bis 256, S. 31 jeweils SB Chat L.&G.; Zeilen 512 bis 514, S. 30; Zeilen 580 bis 584, S. 31 jeweils SB Chat L.&T.), und andererseits „L.“ scheinbar uneigennützig für den Nutzer „F.“ am 23.05.2021 eine Bestellung bei „T.“ aufgibt, ohne selbst Abnehmer zu sein (Zeilen 341 bis 356, S. 28 Sonderband Chat „L.“ und „F.“ [SB Chat L.&F.]; spiegelbildlich zu Zeile 178, S. 18 SB Chat L.&T.), wodurch er letztlich i. S. e. „Mittelsmanns“ dem Nutzer „T.“ einen reibungslosen Absatz zusichert.
62Nach alledem lässt die sich aus den „ANOM“-Chatverläufen ersichtliche Kommunikation der vorgenannten Nutzer – jedenfalls mit der für die Eröffnung des Hauptverfahrens erforderlichen Wahrscheinlichkeit – auf eine bandenmäßige Begehung der dem Angeschuldigten Y. vorgeworfenen Betäubungsmittelgeschäfte schließen.
63b)
64Anders als durch die Strafkammer angenommen ergibt sich hinsichtlich der Erkenntnisse aus den Inhalten der Chatprotokolle des Messengerdienstes „ANOM“ auch kein Beweisverwertungsverbot.
65aa)
66Zu den Hintergründen der diesbezüglichen Erkenntnisgewinnung hat das Oberlandesgericht Stuttgart mit Beschluss vom 22.04.2024 (4 Ws 123/24, BeckRS 2024, 15596 Rn. 12) unter Bezugnahme auf einen entsprechenden Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 04.01.2024 (3 Ws 353/23, NStZ 2024, 509) Folgendes ausgeführt:
67„ANOM ist bzw. war eine Messenger-App auf modifizierten Mobiltelefonen mit dem Betriebssystem Android zum verschlüsselten Versand von Text-, Foto-, Video- und Audionachrichten (Telefonieren, Fotografieren und das Versenden von E-Mails war nicht möglich), die vom FBI in Zusammenarbeit mit einer Vertrauensperson (Confidential Human Source) entwickelt und über das bestehende Netzwerk der Vertrauensperson zum Vertrieb von verschlüsselten Kommunikationsgeräten an kriminelle Organisationen vertrieben wurde (Operation Trojan Shield). In die von der Vertrauensperson bereits entwickelte Anwendung ANOM, die als Nachfolger u.a. für das abgeschaltete Netzwerk SkyECC gedacht war, wurde durch die Vertrauensperson und das FBI eine Falltür (master key) in das Verschlüsselungssystem der Anwendung eingebaut, die unsichtbar an jede Nachricht angehängt war und es den Strafverfolgungsbehörden ermöglichte, alle Nachrichten zu entschlüsseln und selbst abzuspeichern. Die erste probeweise Verteilung von ANOM an kriminelle Organisationen über drei Mittelsmänner der Vertrauensperson erfolgte im Oktober 2018 in Australien unter dem Motto „designed by criminals for criminals”. Nur über solche Mittelsmänner konnte die Anwendung erlangt werden; es gab keine Verteilung über offene Kanäle. Die Anwendung selbst war in der Taschenrechner-App versteckt und konnte nur über eine Personal Identification Number (PIN) geöffnet werden. Im Sommer 2019 schloss das FBI mit einem Drittland in der EU ein Rechtshilfeabkommen (Mutual Legal Assistance Treaty „MLAT”) dahingehend ab, dass alle ANOM-Nachrichten auf einen in dem Drittland stehenden Server geleitet und Kopien der Nachrichten dem FBI zugänglich gemacht wurden. Dieses Vorgehen wurde in dem Drittland durch einen richterlichen Beschluss genehmigt und dauerte vom 21.10.2019 bis 07.06.2021. Insgesamt wurden mehr als 20 Millionen Nachrichten von 11.800 Endgeräten abgefangen und nötigenfalls übersetzt. Das FBI informierte mit Schreiben vom 25.03.2021 das Bundeskriminalamt über die Existenz und Funktionsweise von ANOM und kündigte – zunächst nur zur innerdienstlichen Verwendung – die alsbaldige Übersendung von ANOM-Daten mit Deutschlandbezug an. Zur Verwendung in Strafverfahren wurde die Stellung eines Rechtshilfeersuchens empfohlen. Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/Main leitete aufgrund dessen am 31.03.2021 ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt (Anm.: das „Rahmenverfahren“ 62 UJs 50163/21 ZIT, vgl. Vermerk der Zentralstelle zur Bekämpfung von Internetkriminalität, GStA Frankfurt a. M. vom 20.05.2021, Bl. 12ff. Sonderband „Abtrennung“) ein und stellte am 21.04.2021 ein Rechtshilfeersuchen an die USA mit der Bitte um Übermittlung der Daten.“
68Mit Schreiben vom 03.06.2021 erteilte das FBI die Erlaubnis zur offiziellen Verwendung der Daten in Ermittlungs- und Gerichtsverfahren (vgl. LG Memmingen, Urteil vom 21.08.2023 – 1 KLs 401 Js 10121/22, BeckRS 2023, 26989). Im weiteren Verlauf wurde der Datenbestand – einschließlich der vorliegend in Rede stehenden Chatverläufe – dem Bundeskriminalamt über die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main (ZIT) am 05.07.2021 zur Verfügung gestellt (vgl. Datenlieferungsbericht d. BKA vom 26.11.2021 und Vermerk d. ZIT vom 20.05.2021, Bl. 3ff., 12ff. SB „Abtrennung“; Vermerk d. BKA, „EV Veritas“ vom 17.06.2021, Bl. 5ff. d. A).
69Die Identität des europäischen Drittstaates wurde dem BKA durch das FBI ebenso wenig bekannt gegeben wie der Grund für die Geheimhaltung (vgl. BT-DrS 20/1249, S. 6, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage mehrerer Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE vom 29.03.2022).
70bb)
71Diesen Hergang zugrunde gelegt gehen sowohl das OLG Stuttgart als auch das OLG Karlsruhe in den vorgenannten Entscheidungen – mit der in der obergerichtlich (weit) überwiegend vertretenen Rechtsauffassung – von einer grundsätzlichen Verwertbarkeit der im Zuge der Sicherung der „ANOM“-Chatverläufe gewonnenen Daten aus (vgl. OLG Stuttgart, a. a. O., Rn. 13; OLG Karlsruhe, a. a. O., Rn. 9; zustimmend auch OLG Frankfurt a. M. Beschl. v. 22.11.2021 – 1 HEs 427/21, NJW 2022, 710; OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 14.02.2022 – 1 HEs 509-514/21, BeckRS 2022, 5572; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 30.12.2022 – 4 HEs 35/22, BeckRS 2022, 40785; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 13.08.2024 – 1 Ws 152/24, BeckRS 2024, 21038 Rn. 12; a. A.: LG Memmingen, Urt. v. 21.08.2023 – 1 KLs 401 Js 10121/22; BeckRS 2023, 26989 und im Anschluss hieran OLG München Beschl. v. 19.10.2023 – 1 Ws 525/23, BeckRS 2023, 30017, wonach die strafprozessuale Verwertbarkeit von „ANOM“-Chats zumindest zweifelhaft sei).
72Der Bundesgerichtshof hat die Verwertbarkeit aus „ANOM“-Chats gewonnener Erkenntnisse bislang weder explizit bejaht noch verneint (vgl. BGH, Beschl. v. 02.06.2024 – 1 StR 121/24, BeckRS 2024, 18745 [Zurückweisung einer die Verwertung von „ANOM“-Daten beanstandenden Verfahrensrüge als unzulässig]; BGH Urt. v. 18.10.2023 – 1 StR 214/23, NStZ-RR 2024, 45 [Urteilsaufhebung lediglich im Maßregelausspruch auf erhobene Sachrüge hin]).
73cc)
74Der Senat schließt sich der überwiegenden, die Verwertbarkeit von „ANOM“-Daten bejahenden, obergerichtlichen Rechtsprechung an.
75(1) Verfassungsgemäße Rechtsgrundlage für die Verwertung erhobener Beweise in der Hauptverhandlung ist – wie auch das Landgericht angenommen hat – § 261 StPO, und zwar unabhängig davon, ob die Beweise zuvor im Inland oder auf sonstige Weise – etwa im Wege der Rechtshilfe – erlangt worden sind (vgl. BGH, Beschl. v. 02.03.2022 – 5 StR 457/21, NJW 2022, 1539, Rn. 25, zur Frage der Verwertbarkeit im Ausland gewonnener „EncroChat“-Daten unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschl. v. 07.12.2011 − 2 BvR 2500/09, NJW 2012, 907; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 04.01.2024 , a. a. O.; OLG Stuttgart, a. a. O.; so auch: EuGH, Urteil vom 30.04.2024 – C-670/22 (MN), NJW 2024, 1723, zum Kryptosystem „EncroChat“, wonach es grundsätzlich allein Sache des nationalen Rechts sei, die Vorschriften für die Zulässigkeit und Würdigung der im Wege der Rechtshilfe – auch unter etwaigen Unionsrechtsverstößen – aus dem Ausland erlangter Informationen und Beweise im Rahmen eines Strafverfahrens festzulegen).
76Ausdrückliche Verwendungsbeschränkungen für im Wege der Rechtshilfe aus dem Ausland erlangte Daten regelt das deutsche Recht nicht, insbesondere ist § 100e Abs. 6 StPO hierauf nicht unmittelbar anwendbar (vgl. BGH, a. a. O. zu „EncroChat“; OLG Stuttgart, a. a. O., Rn. 14; zur Anwendbarkeit der in § 100e Abs. 6 StPO verkörperten Wertungen s. aber u. (c)).
77Weder dem Wortlaut von § 261 StPO noch dem übrigen Strafverfahrensrecht (mit Ausnahme vereinzelter, ausdrücklich normierter Verwertungsverbote in § 136 a Abs. 3 S. 2 StPO und § 51 Abs. 1 BZRG) lässt sich ferner ein allgemein geltender Grundsatz entnehmen, dass jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht. Vielmehr ist die Frage der Verwertbarkeit rechtswidrig erhobener Beweise nach ständiger, auch durch das BVerfG als verfassungskonform erachteter Rechtsprechung des BGH jeweils nach den Umständen des Einzelfalls unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden (vgl. zum Ganzen: BVerfG, Beschl. v. 07.12.2011 − 2 BvR 2500/09; NJW 2012, 907; BGH, Urt. v. 18.04.2007 - 5 StR 546/06; NJW 2007, 2269).
78Im Rahmen dieser Abwägung muss zunächst das Gewicht des Rechtsverstoßes berücksichtigt werden. Dies wird – unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls – vor allem dadurch bestimmt, ob der Verstoß gutgläubig, fahrlässig oder vorsätzlich begangen wurde, welchen Schutzzweck die verletzte Vorschrift hat, ob der Beweiswert beeinträchtigt wird, ob die Beweiserhebung hätte rechtmäßig durchgeführt werden können und wie schutzbedürftig der Betroffene ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.12.2022, a. a. O., Rn. 121).
79Von Verfassungs wegen geboten ist ein Beweisverwertungsverbot danach jedenfalls bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen, bei denen die grundrechtlichen Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 09.11.2010 - 2 BvR 2101/09, NStZ 2011, 103 zur Verwertbarkeit im Ausland durch Privatpersonen rechtswidrig erlangter Steuerdaten).
80Für die Verwertbarkeit spricht demgegenüber stets das staatliche Aufklärungsinteresse, dessen Gewicht im konkreten Fall vor allem unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit weiterer Beweismittel, der Intensität des Tatverdachts und der Schwere der Straftat bestimmt wird. Auch wenn die Strafprozessordnung nicht auf Wahrheitserforschung „um jeden Preis“ gerichtet ist, muss letztlich bedacht werden, dass die Annahme eines Verwertungsverbots eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts einschränkt, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Daran gemessen bedeutet ein Beweisverwertungsverbot eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist (vgl. BGH, Urt. vom 18.04.2007, a. a. O.).
81Diese (allgemein gültigen) Maßstäbe vorangestellt besteht – auch unter Berücksichtigung der durch das Landgericht und die Verteidigung unter Bezugnahme auf die o. g. Rechtsprechung des LG Memmingen (Urt. v. 21.08.2023, a. a. O.) und des OLG München (Beschl. v. 19.10.2023, a. a. O.) vorgebrachten Einwände – (jedenfalls in Bezug auf die dem Angeschuldigten Y. vorgeworfenen Delikte) kein Grund für die Annahme eines Beweisverwertungsverbots.
82(a) Insbesondere ist es danach unerheblich, dass die gerichtliche Entscheidung, die der Datenerhebung in dem (durch das FBI nicht näher benannten) EU-Staat zugrunde liegt, mangels näherer Kenntnis der Identität dieses Staates nicht (auf etwaige Rechtsfehler) überprüft werden kann. Denn die Verwertbarkeit von Erkenntnissen aus im Ausland durchgeführten Ermittlungsmaßnahmen hängt gerade nicht davon ab, dass deren Rechtmäßigkeit anhand der Vorschriften des ausländischen Rechts kontrollierbar ist (vgl. OLG Stuttgart, a. a. O. unter Verweis auf: OLG Karlsruhe, a.a.O., Rn. 10, OLG Frankfurt, a. a. O; OLG Saarbrücken, 30.12.2022, a. a. O.; BGH, a .a. O. zu „EncroChat“).
83Die Frage, ob im Wege der Rechtshilfe erlangte Beweise verwertbar sind, richtet sich vielmehr ausschließlich nach dem nationalen Recht des um Rechtshilfe ersuchenden Staates, soweit – Anderweitiges ist hier weder in Bezug auf das an die USA gerichtete Rechtshilfeersuchen noch hinsichtlich des zwischen dieser und dem EU-Drittland geschlossenen Rechtshilfeabkommens ersichtlich – der um Rechtshilfe ersuchte Staat die unbeschränkte Verwendung der von ihm erhobenen und übermittelten Beweisergebnisse gestattet hat (vgl. BGH, a. a. O. zu „EncroChat“, wonach in diesem Fall keine Verletzung völkerrechtlicher Grundsätze infolge eines unzulässigen Eingriffs in das Souveränitätsrecht des anderen Staates vorliegt; BGH, Beschl. v. 21.11.2012 – 1 StR 310/12; NStZ 2013, 596; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 13.08.2024, a. a. O.). Eine Überprüfung hoheitlicher Entscheidungen des ersuchten Staates am Maßstab seiner eigenen Rechtsordnung durch die hiesigen, deutschen Gerichte ist unzulässig (vgl. BGH, Beschl. v. 09.04.2014 – 1 StR 39/14, BeckRS 2014, 15065).
84(b) Da anders als bei innerstaatlichen Ermittlungen die den Grundrechtseingriff bereits bei der Anordnung der Ermittlungsmaßnahme limitierenden gesetzlichen Voraussetzungen bei im Wege der (nachträglichen) Beweisrechtshilfe erlangten Erkenntnissen nicht greifen, sind mögliche Unterschiede bei den Eingriffsvoraussetzungen vielmehr auf der Ebene der Beweisverwendung zu kompensieren (BGH, a. a. O. zu „EncroChat“, Rn. 66-69; OLG Stuttgart, a. a. O.).
85Nichts Anderes kann – im Einklang mit der oben dargestellten „Abwägungslehre“ – für den Fall etwaiger, mangels Überprüfbarkeit nicht ausschließbarer Unwägbarkeiten in Bezug auf die Rechtsfehlerfreiheit der der Beweiserhebung zugrundeliegenden Anordnung im Ausland gelten. Ist die zugrundeliegende Anordnung – wie hier – aufgrund geltend gemachter Geheimhaltungsinteressen (bspw. auf der Grundlage von Art. 9 Abs. 3 des Abkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Rechtshilfe, RHÜ EU/US) nicht bekannt, ist dies auf der Ebene der Beweisverwendung – im Rahmen der nach allgemein gültigen Grundsätzen anzustellenden Abwägung – zu berücksichtigen.
86(c) Zum Zwecke der demnach gebotenen Kompensation ist es sachgerecht, die in den – wenn auch nicht unmittelbar anwendbaren – strafprozessualen Verwendungsbeschränkungen zum Ausdruck kommenden Wertungen heranzuziehen, mit denen der Gesetzgeber dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei vergleichbar eingriffsintensiven Maßnahmen Rechnung trägt. Um jede denkbare Benachteiligung auszuschließen und auch in Anbetracht der vorliegend hohen Eingriffsintensität, ist daher auf den Grundgedanken des § 100e Abs. 6 StPO als Verwendungsschranke mit dem höchsten Schutzniveau zurückzugreifen (vgl. BGH, a. a. O., zu „EncroChat“; OLG Stuttgart, a. a. O.; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 04.01.2024, a. a. O.; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 24.07.2024, a. a. O.; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 13.08.2024, a. a. O.; OLG Köln Beschl. v. 06.06.2024 – 2 Ws 251/24, BeckRS 2024, 21463 zu „SkyECC“)
87(aa) Daraus folgt zunächst, dass eine Beweisverwertung von Erkenntnissen aus dem Kernbereich privater Lebensführung stets unzulässig ist. Solche sind hier – wie in aller Regel bei der Kommunikation über die Planung und Durchführung von Straftaten – nicht betroffen. Jedenfalls weisen die den Tatverdacht gegen den Angeschuldigten Y. nach Aktenlage tragenden Beweisanzeichen keinerlei Verknüpfung mit Kernbereichsthemen auf (vgl. zum Ganzen BGH, a. a. O. zu „EncroChat“ auch unter Bezugnahme auf § 100d Abs. 2 S. 1 StPO; OLG Hamburg, Beschl. v. 29.01.2021 – 1 Ws 2/21, BeckRS 2021, 2226 Rn. 70).
88(bb) Darüber hinaus dürfen – nach der zur Verwertbarkeit von „EncroChat“-Daten ergangenen, auf die vorliegende Fallgestaltung übertragbaren Rechtsprechung des BGH – auch die im Wege der Rechtshilfe erlangten Beweisergebnisse aus dem „ANOM“-Komplex nach der Wertung des § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO in einem Strafverfahren ohne Einwilligung der überwachten Person nur zur Aufklärung einer Straftat, auf Grund derer eine Maßnahme nach § 100b StPO hätte angeordnet werden können, oder zur Ermittlung des Aufenthalts der einer solchen Straftat beschuldigten Person verwendet werden. Hierbei sind ferner die den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz konkretisierenden einschränkenden Voraussetzungen in § 100b Abs. 1 Nr. 2 und 3 StPO in den Blick zu nehmen. Danach muss die Straftat auch im Einzelfall besonders schwer wiegen und die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos sein (vgl. zum Ganzen: BGH, a. a. O. zu „EncroChat“, Rn. 69).
89(cc) Vor diesem Hintergrund ist – in Bezug auf die dem Angeschuldigten Y. nach Aktenlage vorzuwerfenden Delikte – die Verwendung der aus dem „ANOM“-Chatverkehr gewonnenen Daten zulässig. Die dem Angeschuldigten unter Ziff. 1.) bis 7.) zur Last gelegten Vorwürfe stellen besonders schwere Straftaten, nämlich Katalogtaten i. S. v. § 100b Abs. 2 Nr. 5 b) und 5a StPO dar.
90In Bezug auf das nach dem Vorwurf zu 7.) tateinheitlich verwirklichte unerlaubte Handeltreiben mit Kokain in nicht geringer Menge ergibt sich dies bereits nach der in der Anklageschrift zum Ausdruck gekommenen rechtlichen Bewertung und im Übrigen aus der von der Anklageschrift abweichenden, oben dargestellten Wertung der bandenmäßigen Begehung der vorgeworfenen Betäubungsmitteldelikte. Diese wiegen bereits angesichts der – nach Aktenlage – zum gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmten, gehandelten Mengen auch im Einzelfall schwer (vgl. BGH, a. a. O. zu „EncroChat“, Rn. 71). Eine Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise wäre ohne das in Rede stehende Beweismittel im Übrigen i. S. v. § 100b Abs. 1 Nr. 3 StPO wesentlich erschwert oder aussichtslos.
91(d) Ob eine entsprechende Verdachtslage gegen den Angeschuldigten Y. bereits zum Zeitpunkt der Anordnung der Datenerhebung bestand bzw. ob die Anordnung der durchgeführten Ermittlungsmaßnahmen solchen Anforderungen genügt hätte, die nach deutschem Recht an eine Überwachung von internetbasiertem Datenaustausch und Telekommunikation zu stellen wären, ist in diesem Zusammenhang unerheblich (vgl. auch: OLG Stuttgart, a. a. O.).
92Maßgeblich für die an § 100e Abs. 6 StPO angelehnte Prüfung ist der Erkenntnisstand zum Zeitpunkt der Verwertung der Beweisergebnisse. Auf eine Rekonstruktion der Verdachtslage zum Anordnungszeitpunkt kommt es insofern bereits nicht an, weil es sich bei der vorgenannten Vorschrift um eine Verwendungsregelung und nicht um eine Anordnungsregelung handelt (vgl. BGH, a. a. O. zu „EncroChat“, Rn. 70-72; BGH NJW 2009, 3448).
93Soweit im Rahmen der gebotenen Abwägung auch darauf abzustellen ist, ob die Beweiserhebung im Falle von Rechtsfehlern auch rechtmäßig hätte durchgeführt werden können (s. o. und vgl. BVerfG, NJW 2012, 907, Rn. 12) wird diesem Gedanken des hypothetischen Ersatzeingriffs bereits dadurch Genüge getan, dass die Daten nunmehr – wie dargelegt – im Strafverfahren zur Klärung des Verdachts einer Katalogtat verwendet werden sollen und sich die qualifizierte Verdachtslage (wie hier) aus den vorhandenen Daten ergibt (vgl. BGH, a. a. O. zu „EncroChat“; BGH, NJW 2009, 3448; OLG Hamburg, a. a. O.).
94Ein anderweitiges Verständnis widerspräche dem auch in §§ 108 Abs. 1 S. 2, 479 Abs. 2 StPO zum Ausdruck kommenden Grundgedanken, wonach ein Zufallsfund für sich genommen Anlass für die Einleitung eines Strafverfahrens sein kann und muss (vgl. OLG Hamburg, a. a. O.). Der Wertung der vorgenannten Vorschriften ist es gerade immanent, dass die Befunde nicht unter Annahme einer entsprechenden Verdachtslage erhoben worden sind, sondern „zufällig“ anlässlich einer anderweitigen Beweisermittlung.
95Diese Wertung steht auch mit der aktuellen, zur Auslegung von Art. 6 der Richtlinie 2014/41/EU über die Ermittlungsanordnung in Strafsachen (EEA) ergangenen Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 30.04.2024, a. a. O.) in Einklang, wonach die Rechtmäßigkeit eines Rechtshilfeersuchens, das auf die Übermittlung von Daten aus dem Vollstreckungsstaat gerichtet ist, denselben Bedingungen unterliegt, wie sie ggfs. für die Übermittlung solcher Daten bei einem rein innerstaatlichen Sachverhalt des Anordnungsstaates gelten würden, demgegenüber aber nicht denselben materiell-rechtlichen Voraussetzungen unterliegt, wie sie im Anordnungsstaat für die Erhebung dieser Beweise gelten (vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 94, 96).
96(e) Soweit die Verteidigung zutreffend anführt, dass ein Beweisverwertungsverbot jedenfalls bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen anzunehmen wäre (s. o.), ist – bereits im Ansatz – nicht ersichtlich, dass im Zuge der Erhebung der „ANOM“-Daten grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind.
97(aa) Auch wenn durch die Datenerhebung in die besonders sensiblen Bereiche des Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 GG) bzw. des Schutzes der Integrität informationstechnischer Systeme als Teil des ebenfalls grundrechtlich geschützten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) eingegriffen wurde, wird dieser Eingriff bereits dadurch relativiert, dass der Angeschuldigte diesen Schutz – nach Aktenlage – bewusst zur Begehung schwerer Straftaten missbraucht und im Zuge der Nutzung – mit seinem jeweiligen Gesprächspartner – offen über Betäubungsmittelgeschäfte in erheblichem Umfang kommuniziert hat (vgl. BGH, a. a. O. zu „EncroChat“; OLG Stuttgart, a. a. O.). Eine Schutzbedürftigkeit des hier konkret betroffenen Nutzers ist danach nicht ersichtlich.
98(bb) Auch handelte es sich – anders als durch das Landgericht als zumindest nicht ausschließbar zugrunde gelegt – bei der Überwachung der Kryptohandys nicht um eine „verdachtslose“ und damit (nach der Rechtsprechung des BVerfG, NJW 2008, 822) unzulässige „anlasslose Massenüberwachung“.
99Vielmehr erfolgte die Datenerhebung auf der Basis eines konkreten Tatverdachts. Bereits aus der ausschließlichen Verbreitung der „ANOM“-Geräte über kriminelle Kanäle unter dem Motto „designed by criminals for criminals“ ergibt sich der begründete Verdacht, dass die über den Messengerdienst geführten Chats der Vorbereitung und Abwicklung schwerwiegender Straftaten dienen sollten. Zweck des Inverkehrbringens der App war es hingegen offensichtlich nicht, die Persönlichkeit der Nutzer durch Eindringen in deren Privat- oder Intimsphäre auszuspähen. Auch war nach den Umständen von vornherein nicht zu erwarten, dass mit der Überwachung des – erkennbar auf die Planung und Durchführung von Straftaten ausgerichteten Kommunikationsweges – schutzbedürftige sensible Daten gesammelt werden sollten. Absehbar war vielmehr, dass die durch die Nutzung ermöglichte vermeintliche abhörsichere Kommunikation innerhalb einer Benutzergruppe über das verschlüsselte Handy im Bereich schwerwiegender organisierter Kriminalität eingesetzt werden sollte, zumal ein Erwerb nicht ohne weiteres möglich war (vgl. BGH, a. a. O., zu „EncroChat“; OLG Stuttgart, a. a. O., Rn. 16; OLG Frankfurt a. M. Beschl. v. 22.11.2021, a. a. O.).
100Gestützt wird diese Einschätzung auch dadurch, dass die „ANOM“-Anwendung nur verdeckt über die Eingabe eines Codes in der Taschenrechner-App aufgerufen werden konnte, sodass das Gerät auch im Fall eines Zugriffs der Ermittlungsbehörden zunächst einen unverdächtigen Eindruck erwecken konnte. Hinzu kommt, dass die entsprechenden Geräte für einfache Telefonie oder Internetanwendungen nicht nutzbar waren. Für eine sechsmonatige Nutzungsdauer (so festgestellt durch das OLG Karlsruhe im Beschl. v. 04.01.2024, a. a. O.) mussten 1.000 bis 1.500 Dollar bezahlt werden. Dass sich danach eine Anschaffung weder für die Begehung von Bagatelldelikten noch gar für einen unverdächtigen Zweck „lohnte“, liegt auf der Hand. Zudem ergab eine Auswertung nach dem „Testlauf“ des Messengerdienstes in Australien, dass die Geräte ausschließlich innerhalb der organisierten Kriminalität zum Einsatz gekommen waren. Auch nachdem das FBI ab Oktober 2020 einer bei Europol gebildeten „Task Force“ den Inhalt aller Nachrichten von „ANOM“-Nutzern zur Verfügung gestellt hatte, ergab eine Prüfung der Inhalte, dass die Mobiltelefone nahezu ausschließlich von der Kommando- und Kontrollleitung krimineller Gruppierungen verwenden worden waren, um Drogenhandel und Geldwäschetransaktionen in mehreren Ländern zu koordinieren (vgl. Vermerk d. ZIT vom 20.05.2021, Bl. 13 SB „Abtrennung“). Gegenstand der Ermittlungen war aus Sicht des die App entwickelnden FBI also nicht ein ganz normales Geschäftsmodell (Angebot verschlüsselter Handys für jedermann), das sich lediglich einige Kriminelle zunutze machen würden, sondern ein von vornherein auf die Unterstützung krimineller Aktivitäten ausgerichtetes und im Verborgenen agierendes Netzwerk. Eine „verdachtslose“ Überwachung von Kommunikation fand daher aufgrund der erheblichen, letztlich jeden Nutzer betreffenden konkreten Verdachtsmomente nicht statt (vgl. zum Ganzen: BGH, a. a. O. zu „EncroChat“, Rn. 37; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 04.01.2024, a. a. O., Rn. 12).
101(f) Die gebotene Abwägung der widerstreitenden Interessen führt demnach vorliegend zur Verwertbarkeit der aus dem „ANOM“-Chat-Verlauf gewonnenen Erkenntnisse in Bezug auf die gegen den Angeschuldigten Y. gerichteten Vorwürfe.
102(2) Zwar kann sich ein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich aus dem Ausland erhobener Erkenntnisse auch aus Verstößen gegen rechtshilferechtliche Bestimmungen ergeben (vgl. BGH, a. a. O., zu „EncroChat“). Solche – zu einem Beweisverwertungsverbot führende Verstöße – liegen hier indes ebenfalls nicht vor.
103(a) Ein Verstoß des (unbekannten) EU-Drittlandes gegen die Pflicht zur Benachrichtigung des von einer grenzüberschreitenden Telekommunikationsüberwachung betroffenen Zielstaates Deutschland aus Art. 31 RL EEA würde jedenfalls nicht zu einem Beweisverwertungsverbot führen (vgl. BGH, a. a. O. zu „EncroChat“).
104Zwar kommt der vorgenannten Vorschrift (was durch den BGH in der o.g. Entscheidung noch in Zweifel gezogen worden ist, vgl. dort Rn. 40) nach der Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 30.04.2024, a. a. O.) auch individualschützender Charakter zu.
105Nach ebendieser Rechtsprechung des EuGH ist es aber mangels einschlägiger unionsrechtlicher Vorschriften allein Sache des nationalen Rechts, die Vorschriften für die Zulässigkeit und Würdigung von in unionsrechtswidriger Weise aus dem Ausland erlangten Informationen und Beweise im Rahmen eines Strafverfahrens festzulegen. Nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie obliegt es nämlich der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, zu regeln, wobei die Modalitäten jedoch nicht ungünstiger sein dürfen als diejenigen, die gleichartige, dem innerstaatlichen Recht unterliegende Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz; vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 128, 129).
106Damit in Einklang steht die – durch den Bundesgerichtshof auch für den Fall eines Verstoßes gegen des Art. 31 RL EEA zugrunde gelegte – Abwägungslehre, wonach auch ein Verstoß gegen die sich hieraus ergebende Benachrichtigungspflicht unter Berücksichtigung der dem Angeschuldigten Y. vorgeworfenen Delikte kompensiert würde (vgl. BGH, a. a. O. zu „EncroChat“, Rn. 42ff.).
107Im Übrigen fiele ein Verstoß gegen Art. 31 RL EEA vorliegend bereits deshalb nicht schwerwiegend ins Gewicht, weil zum Zeitpunkt der Anordnung der Überwachung angesichts der lediglich nach ihrer Kennung identifizierbaren Nutzer deren tatsächlicher Aufenthaltsort offensichtlich nicht i. S. d. Art. 31 Abs. 1 a) RL EEA bekannt sein konnte und die deutschen Behörden letztlich – jedenfalls durch das FBI – nach der Überwachung von der Maßnahme unterrichtet worden sind (Art. 31 Abs. 1 b) RL EEA).
108(b) Nach der Rechtsprechung des EuGH verpflichtet Art. 14 Abs. 7 RL EEA die Mitgliedstaaten ferner dazu, sicherzustellen, dass bei der Bewertung der im Wege der Rechtshilfe erlangten Beweismittel in einem Strafverfahren die Verteidigungsrechte gewahrt und ein faires Verfahren gewährleistet wird. In Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren impliziere dies, dass ein Beweismittel, zu dem eine Partei nicht sachgerecht Stellung nehmen könne und das geeignet sei, die Würdigung der Tatsachen maßgeblich zu beeinflussen, vom Strafverfahren auszuschließen sei (vgl. zum Ganzen: EuGH, a. a. O., Rn. 104, 105, 130).
109Auch diese Grundsätze führen vorliegend nicht zum Ausschluss der im Zuge der Überwachung der „ANOM“-Geräte erlangten Erkenntnisse mit der Folge einer Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens.
110Nach bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung enthält das Recht auf ein faires Verfahren keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- oder Verbote; vielmehr bedarf es der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten. Dabei liegt eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren erst vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Fachgerichte ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben worden ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.01.2009 - 2 BvR 2044/07; NJW 2009, 1469; BVerfG, Besch. v. 07.12.2011 − 2 BvR 2500/09; NJW 2012, 907).
111Im Rahmen der anzustellenden Gesamtschau sind wiederum – ganz im Sinne der bereits dargestellten Abwägungslehre – nicht nur die Rechte des Beschuldigten (insbesondere prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde wahrnehmen und Übergriffe der staatlichen Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können), sondern auch die Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, einschließlich der bestmöglichen Ermittlung des wahren Sachverhalts in den Blick zu nehmen (vgl. zum Ganzen: BVerfG, Beschl. v. 07.12.2011, a. a. O.).
112Ein Beweisverwertungsverbot auf Grund von Verstößen gegen (rechtshilfe-)rechtliche Bestimmungen kommt danach allenfalls in Betracht, wenn sich das gegen den Beschuldigten geführte Strafverfahren insgesamt als unfair erweisen würde, so bspw., wenn dem Beschuldigten keine hinreichenden Möglichkeiten zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des Verfahrens verbleiben oder die Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung nicht mehr gewahrt sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.12.2011, a. a. O und m. w. N.: BGH, Beschl. v. 21.11.2012 - 1 StR 310/12; NStZ 2013, 596).
113Sind Beweismittel nach diesen Maßstäben verwertbar, tragen ferner der Grundsatz der freien Beweiswürdigung aus § 261 StPO und der für das deutsche Strafverfahren geltende Grundsatz „in dubio pro reo“ den Vorgaben des Art. 14 Abs. 7 RL EEA Rechnung (vgl. BGH, a. a. O. zu „EncroChat“, Rn. 52 unter Bezugnahme auf BT-DrS. 18/9757, S. 32).
114Daran gemessen ist vorliegend – unter Berücksichtigung des für die Eröffnungsentscheidung gültigen Prüfungsmaßstabs – nicht ersichtlich, dass die Verteidigungsrechte des Angeschuldigten und das Gebot der Verfahrensfairness im Hauptverfahren nicht hinreichend gewährleistet werden können.
115Dem Schutz der Beschuldigtenrechte in Bezug auf den Umstand, dass die der Beweiserhebung zugrundeliegende Anordnung nicht auf etwaige Unwägbarkeiten überprüft werden kann, wird bereits im Rahmen der gebotenen Abwägung zur Beweisverwertung im Einzelfall (s. o.) Rechnung getragen (vgl. hierzu BGH, a. a. O., zu „EncroChat“, Rn. 77).
116Im Übrigen besteht für den Angeschuldigten die Möglichkeit, zu sämtlichen nach Aktenlage vorliegenden Daten zur Auswertung der aus der Überwachung der Chatverläufe gewonnenen Erkenntnisse sachgerecht Stellung zu nehmen (vgl. a. LG Kiel Beschl. v. 08.05.2024 – 7 KLs 593 Js 18366/22, BeckRS 2024, 11935). Insofern sind die Entgegennahme und Aufbereitung der Daten durch die deutschen Behörden ebenso wie der Übermittlungsumfang dokumentiert (vgl. u. a. Datenlieferungsbericht d. BKA v. 26.11.2011, wonach in Bezug auf den Datenbestand „keine Veränderung inhaltlicher Natur“ stattgefunden habe; Datenlieferungsbericht d. BKA v. 18.01.2022 [Ergänzung zu den roster und mdm Informationen]; Datenuntersuchungsbericht d. BKA v. 02.02.2022, S. 3ff., 17ff., 21ff. SB „Abtrennung“; Vermerk d. BKA [„EV Veritas“] v. 17.06.2021, Bl. 5ff. d. A.). Auch findet sich eine Herleitung der Nutzeridentifikation in den Akten (vgl. Vermerk d. LKA v. 04.08.2021, Bl. 8ff. d. A.; Vermerk Kreispolizeibehörde H., KOK U. v. 04.05.2023, Bl. 49ff. d. A.).
117Die Entscheidung, ob sich anhand der vorliegenden (auch technischen) Informationen die dem Angeschuldigten Y. vorgeworfene Delikte jeweils mit der für eine Verurteilung erforderlichen Überzeugung der Strafkammer nachweisen lassen, kann indes nur nach lückenloser Aufklärung und unter umfassender Einbeziehung sowie sorgfältiger Würdigung aller dafür bedeutsamen Umstände getroffen werden. Dies geschieht in der Hauptverhandlung und nicht im Zwischenverfahren (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 22. Januar 2019 – III-3 Ws 524/18, BeckRS 2019, 47161; OLG Hamm, Beschl. v. 21.11.2013 – 5 Ws 438/13, BeckRS 2014, 2241).
118(3) Soweit sich ein Beweisverwertungsverbot bezüglich im Ausland erhobener Beweise auch – wie die Verteidigung ebenfalls zutreffend anmerkt – aus einer Verletzung völkerrechtlich verbindlicher, dem Individualschutz dienender Garantien, wie Art. 3 oder Art. 6 EMRK oder unter Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grund-sätze im Sinne des „ordre public“ (vgl. § 73 IRG) ergeben kann (vgl. BGH, a. a. O., zu „EncroChat“; OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 22.11.2021, a. a. O.), sind diesbezügliche Verstöße ebenfalls nicht ersichtlich.
119(a) Zwar hat das FBI den Krypto-Messenger über das Netzwerk seiner Vertrauensperson vertrieben. Die Entscheidung, diese Technologie zur Begehung von Straftaten einzusetzen, lag allerdings allein bei den Nutzern der Mobiltelefone. Eine weitergehende Verleitung zur Begehung von Straftaten erfolgte durch staatliche Behörden nicht. Dass allein durch Schaffung der Möglichkeit einer abhörsicheren Kommunikation ein Tatentschluss zur Begehung der hier vorliegenden Taten hervorgerufen wird, ist fernliegend. Eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK aufgrund polizeilicher Tatprovokation (vgl. EGMR, Urteil vom 23.10.2014 – 54648/09 [Furcht/Deutschland], NJW 2015, 3631), die geeignet wäre, ein Verfahrenshindernis zu begründen, liegt damit nicht vor (vgl. OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 22.11.2021, a. a. O.; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 04.01.2024, a. a. O.). In Bezug auf die Frage eines Verstoßes gegen den aus Art. 6 Abs. 3 EMRK folgenden Grundsatz der Verfahrensfairness gilt das oben zu Art. 14 Abs. 7 RL EEA Gesagte.
120(b) Da die Datenerhebung ersichtlich nicht dazu diente, ohne Vorliegen eines konkreten Tatverdachts durch Ausspähen der Privat- oder Intimsphäre der Nutzer solche Verdachtsmomente erst zu generieren (s. o.), beinhaltet das erfolgte Hervorrufen eines Irrtums über das Vorliegen einer – vermeintlich – abhörsicheren Kommunikation auch keine Verletzung der Menschenwürde (Art. 3 EMRK, Art. 1 Abs. 1 GG) und ist ferner nicht geeignet, einen Verstoß gegen den „ordre-public“ – der der Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards dient – zu begründen (vgl. BGH, a. a. O. zu „EncroChat“, Rn. 73; OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 22.11.2021, a. a. O.).
121Die Täuschung lag allein darin, die Erwerber der „ANOM“-Geräte glauben zu lassen, dass die über die App geführten Chats durch eine – insbesondere für die Strafverfolgungsbehörden – undurchdringliche Verschlüsselung geschützt seien (vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 04.01.2024, a. a. O.). Dies ist eine auch unter Berücksichtigung der Wertung des § 136a StPO zulässige „kriminalistische List“ (vgl. KK-StPO/Diemer, 9. Aufl. 2023, StPO § 136a Rn. 20).
122(c) Schließlich liegen auch keinerlei Erkenntnisse vor, die dafür sprechen, dass die deutschen Ermittlungsbehörden – i. S. e. „Befugnis-Shoppings“ – die nationalen Vorgaben zur Telekommunikationsüberwachung gezielt umgangen hätten. Anhaltspunkte dafür, dass es sich bei dem nicht näher bezeichneten EU-Land, in dem der Server zur Speicherung der „ANOM“-Nachrichten betrieben wurde, um Deutschland gehandelt haben könnte, sind nicht ersichtlich. Dies erscheint vielmehr abwegig, nachdem auch die Bundesregierung in Beantwortung der oben bereits benannten „Kleinen Anfrage“ angibt, nicht zu wissen, in welchem EU-Land der Server stand (vgl. BT-Drs. 20/1249, S. 6; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 04.01.2024, a. a. O., Rn. 13, 14; OLG Frankfurt a. M. Beschl. v. 22.11.2021, a. a. O.; OLG Stuttgart, a. a. O.).
123c)
124Nach alledem unterliegen die hier relevanten „ANOM“-Chat-Nachrichten unter Berücksichtigung des Ausmaßes der dem Angeschuldigten Y. konkret vorgeworfenen Delikte keinem Beweisverwertungsverbot.
125Unter Berücksichtigung der vorgenannten Überlegungen war somit das Hauptverfahren gegen den Angeschuldigten Y. zu eröffnen und die Anklage der Staatsanwaltschaft Arnsberg vom 14.11.2023 zur Hauptverhandlung vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Arnsberg mit den aus dem Tenor ersichtlichen Modifikationen zuzulassen.
1262.
127Demgegenüber war die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss vom 22.01.2024 in Bezug auf die gegen den Angeschuldigten I. gerichteten Vorwürfe als unbegründet zurückzuweisen.
128a)
129Wie die Generalstaatsanwaltschaft mit ihrer Stellungnahme vom 25.06.2024 zutreffend ausgeführt hat, sind die dem Angeschuldigten I. vorgeworfenen Delikte zu Ziff. 1.) bis 3.) der Anklageschrift vom 14.11.2023 infolge der zum 01.04.2024 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen – da sämtlich auf Marihuana bezogen – nach dem Konsumcannabisgesetz zu beurteilen (§ 2 Abs. 3 StGB).
130Anders als in Bezug auf den Angeschuldigten Y. ergeben sich im Hinblick auf den Angeschuldigten I. (nach Aktenlage und unter Berücksichtigen der diesbezüglichen o. g. Maßstäbe) keine hinreichenden Anhaltspunkte, die mit der für die Eröffnung des Hauptverfahrens erforderlichen Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass er die in Rede stehenden Betäubungsmitteldelikte „als Mitglied einer Bande“ i. S. v. § 34 Abs. 4 S. 3 KCanG begangen haben könnte.
131Zwar lassen sich die dem Angeschuldigten I. nach der Anklageschrift zur Last gelegten Betäubungsmittelgeschäfte ebenfalls aus dem Inhalt der mithilfe des Messengerdienstes unter den Nutzern „L.“ und „F.“ ausgetauschten Nachrichten ableiten. Entsprechendes ergibt sich auch für die Identifizierung des Angeschuldigten I. als Nutzer der Kennung „F.“ im Zusammenspiel mit Informationen aus früheren erkennungsdienstlichen Maßnahmen.
132Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Angeschuldigte I. ebenso wie der Angeschuldigte Y. als „verlängerter Arm“ – mit entsprechendem Vorsatz – in die Absatzkette des „Gespanns“ der „ANOM“-Nutzer „G.“, „T.“ und „L.“ einbezogen gewesen sein könnte, ergeben sich allerdings aus den – jedenfalls nach derzeitiger Aktenlage – allein zur Verfügung stehenden Erkenntnissen aus den vorliegenden „ANOM“-Chatverläufen nicht.
133So ist zunächst eine Kryptohandy-Kommunikation des Nutzers „F.“ mit den Nutzern „G.“ und „T.“ – nach Aktenlage – nicht ersichtlich. Die „Vermittlung“ des dem Vorwurf zu 3.) zugrundeliegenden Handels fand vielmehr über den User „L.“ statt (s. o.).
134Ferner gesteht der Nutzer „L.“ (anders als ihm durch die User „G.“ und „T.“ zugestanden wird, s. o.) dem „F.“ – soweit aus dem vorliegenden Chatverlauf ersichtlich – nicht zu, Lieferungen erst zu einem späteren Zeitpunkt vollständig zu bezahlen (vgl. Zeile 142, S. 22 SB Chat L.&F.: „bring cash mit für das was zu haven willst (…)“).
135Ein Anschluss des Angeschuldigten I. an die vorgenannte Gruppe kann hier im Übrigen auch nicht aus einem wiederholten deliktischen Zusammenwirken hergeleitet werden (s. o. und vgl. BGH, Beschl. v. 15.01.2002 - 4 StR 499/01; NJW 2002, 1662), und zwar vor dem Hintergrund, dass – nach Aktenlage – ein „geschäftlicher“ Kontakt der Nutzer „T.“ und „F.“ erst im Zuge der Abwicklung des Handels vom 24.05.2021 hergestellt wurde (wobei der Abnehmer „F.“ augenscheinlich zu dem Treffen mit „T.“ nicht ohne „L.“ fahren wollte, vgl. Chat vom 24.05.2021, Zeile 264, S. 19 SB Chat L.&T.: „(…) er wollte nicht alleine fahren (…)“).
136Hinreichende Anhaltspunkte in Bezug auf eine bandenmäßige Begehung der dem Angeschuldigten I. zur Last gelegten Delikte i. S. v. § 34 Abs. 4 Nr. 3 KCanG ergeben sich danach (ebenso wie eine Begehungsweise i. S. d. Varianten des § 34 Abs. 4 Nr. 1 oder Nr. 4 KCanG) nach Aktenlage nicht.
137b)
138Dies zugrunde gelegt besteht hinsichtlich der (zum Nachweis der Tatvorwürfe derzeit allein zur Verfügung stehenden) „ANOM-Chatverläufe“ ein – nach Inkrafttreten des Gesetzes zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften (Cannabisgesetz - CanG) vom 27.03.2024 (BGBl. Teil I, 2024 Nr. 109) anzunehmendes – Beweisverwertungsverbot, dass der Verurteilungswahrscheinlichkeit entgegensteht (vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 24.07.2024, 3 Ws 221/24, BeckRS 2024, 18048).
139Die nach der obigen Darstellung gebotene Abwägung der widerstreitenden Interessen führt – auch bei vorzunehmender vorläufiger Bewertung – zur Annahme der Unverwertbarkeit der aus dem „ANOM“-Chat-Verlauf gewonnenen Erkenntnisse in Bezug auf die gegen den Angeschuldigten I. gerichteten Vorwürfe.
140aa) Soweit nach den o. g. Maßstäben etwaige, mangels Überprüfbarkeit der zugrundeliegenden Anordnungsentscheidungen nicht ausschließbare Unwägbarkeiten auf der Ebene der Beweisverwendung zu kompensieren und hierzu – im Einklang mit der Rechtsprechung des BGH zur Verwertbarkeit im „EncroChat“-Komplex“ – die in der Verwendungsbeschränkung des § 100e Abs. 6 StPO zum Ausdruck kommenden Wertungen heranzuziehen sind, ergäbe sich hiernach in Bezug auf die Verwertung der gewonnenen Daten zu Lasten des Angeschuldigten I. eine Unverhältnismäßigkeit. Denn die dem Angeschuldigten unter Ziff. 1.) bis 3.) vorgeworfenen Delikte stellen – nach der zum 01.04.2024 in Kraft getretenen Gesetzesänderung vom 27.03.2024 (BGBl. 2024 I Nr. 109) – keine Katalogtaten i. S. v. § 100b Abs. 2 Nr. 5 StPO (mehr) dar.
141bb) Für die Prüfung, ob die Voraussetzungen einer Katalogtat in tatsächlicher Hinsicht erfüllt sind, ist – wie dargelegt – auf den Zeitpunkt der Verwertung der Beweisergebnisse abzustellen (vgl. BGH, a. a. O. zu „EncroChat“, Rn. 70). Nichts Anderes kann für eine – im Zuge einer Gesetzesänderung eingetretene – anderweitige rechtliche Einstufung gelten. Denn in der Verwendung erlangter personenbezogener Daten in einem anhängigen Verfahren und in deren Verwertung in der dieses Verfahren abschließenden Entscheidung liegt ein eigenständiger Grundrechtseingriff. Bei sich im Verlaufe eines anhängigen Strafverfahrens ändernden strafprozessualen Vorschriften ist daher grundsätzlich die neue Rechtslage maßgebend (vgl. BGH, Beschl. v. 21.11.2012 – 1 StR 310/12, NStZ 2013, 596 Rn. 45; OLG Saarbrücken Beschl. v. 13.08.2024, a. a. O., Rn. 18; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 24.07.2024, a. a. O.).
142Gemessen hieran ist – wie von der weit überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung zu „ANOM“ und anderen Krypto-Messengerdiensten vertreten – eine Verwertbarkeit der im Zuge der Überwachung der „ANOM“-Chats erlangten Erkenntnisse nur dann zu bejahen, wenn die betreffenden Delikte im Verwertungszeitpunkt noch den Anforderungen des § 100e Abs. 6 StPO genügen, also, wenn sie auch nach Inkrafttreten des CanG noch als Katalogtaten i. S. v. § 100b Abs. 2 StPO einzustufen sind (vgl. OLG Karlsruhe, 24.07.2024, a. a. O. und OLG Köln, Beschl. v. 06.06.2024 – 2 Ws 251/24; BeckRS 2024, 21463 zu „SkyECC“; KG, Beschl. v. 30.4.2024 − 5 Ws 67/24 – 121 GWs 38/24, NStZ 2024, 548 zu „EncroChat“, OLG Stuttgart, Beschl. v. 22.04.2024 – H 4 Ws 123/24, BeckRS 2024, 15596 und OLG Saarbrücken, Beschl. v. 13.08.2024 – 1 Ws 152/24, BeckRS 2024, 21038, jeweils zu „ANOM“).
143Soweit die Generalstaatsanwaltschaft die Auffassung vertritt, dass aus der zum „EncroChat“-Komplex ergangenen Rechtsprechung des BGH (Beschluss vom 02.03.2022, a. a. O.) nicht folge, dass die in § 100e Abs. 6 StPO zum Ausdruck kommende Wertung „zwingend“ zu übernehmen sei, sondern vielmehr auch nach Inkrafttreten der Gesetzesänderungen eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall zu erfolgen habe (so auch: OLG Celle, Beschl. v. 09.07.2024 – 3 Ws 55/24; BeckRS 2024, 18983 zu „EncroChat“), ist für ein Abweichen von dem sich aus § 100e Abs. 6 StPO ergebenden „höchsten Schutzniveau“ nach den oben dargestellten, allgemeinen Abwägungsgrundsätzen – jedenfalls in der hier vorliegenden Konstellation des „ANOM“-Komplexes – kein Raum.
144Soweit das OLG Celle mit vorgenannter Entscheidung – zur Verwertung von „EncroChat“-Daten – die Auffassung vertreten hat, die Prüfung des Ausschlusses „jeder denkbaren Beeinträchtigung“ im Zuge der Datenverwendung könne – neben dem durch den Bundesgerichtshof vertretenen Rückgriff auf § 100e StPO – auch durch Heranziehung niedrigschwelliger Verwertungsregelungen (wie § 479 Abs. 2 S. 1 StPO i. V. m. § 161 Abs. 3 StPO unter Rückgriff auf § 100a StPO) vorgenommen werden, so kommt eine solche weniger strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung zumindest aufgrund der in Bezug auf den „ANOM“-Komplex gegebenen Umstände aus Sicht des Senats nicht in Betracht. Denn im „EncroChat“-Komplex lagen die der Beweiserhebung zugrundeliegenden gerichtlichen Anordnungen eines französischen Gerichts den deutschen Gerichten – anders als hier – vor. Angesichts der demnach im Zuge der Geheimhaltung höheren Intensität des mit der Verwertung der „ANOM“-Daten verbundenen Grundrechtseingriffs erscheint ein „Abschwächen“ der durch den BGH aufgestellten Grundsätze nicht sachgerecht (so auch OLG Saarbrücken Beschl. v. 13.8.2024, a. a. O., Rn. 20).
145Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass der BGH zum Zeitpunkt des Beschlusses vom 02.03.2022 die Entscheidungen des Gesetzgebers im Zusammenhang mit der Einführung des KCanG rund zwei Jahre später naturgemäß nicht konkret voraussehen und bedenken konnte. Andernfalls könnte – durch eine Einbeziehung von Delikten jenseits der Katalogtaten des § 100b Abs. 2 StPO – die in der dortigen Aufzählung zum Ausdruck kommende Wertung des Gesetzgebers umgangen werden (vgl. zum Ganzen: OLG Köln, a. a. O.).
146So hat das Handeltreiben mit Cannabis in nicht geringer Menge im Zuge der gesetzlichen Änderungen nicht nur seinen Verbrechenscharakter verloren (vgl. OLG Köln, a. a. O.). Zeitgleich mit Inkrafttreten des KCanG durch Art. 13a CanG vom 27.03.2024 wurden auch § 100b StPO und andere strafprozessuale Befugnisnormen geändert (vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 24.07.2024, a. a. O.) Das i. S. v. § 2 Abs. 1 KCanG verbotene – gewerbsmäßige – Handeltreiben mit Cannabis stellt demzufolge nach der gesetzgeberischen Wertung nunmehr zwar noch eine „schwere Straftat“ i. S. v. § 100a Abs. 2 Nr. 7a Var. a) StPO, aber keine „besonders schwere Straftat“ i. S. v. § 100b Abs. 2 StPO mehr dar. Dabei hatte der Gesetzgeber nicht nur die Strafrahmen der übrigen von § 100b Abs. 2 StPO erfassten Delikte, sondern auch die Eingriffsintensität der betroffenen Maßnahmen nach §§ 100b und 100c StPO als „Ultima Ratio“ im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren im Blick (vgl. BT-DrS. 20/10426, S. 148).
147Ebendiese Wertung steht mit den oben aufgezeigten Grundsätzen zur Kompensation
148etwaiger, mangels Überprüfbarkeit nicht ausschließbarer Unwägbarkeiten in Bezug auf die der Beweiserhebung zugrundeliegende Anordnung im unbekannten EU-Mitgliedstaat in Einklang.
149Dürfen demgemäß die hier verfahrensgegenständlichen „ANOM“-Chatnachrichten nur zur Verfolgung von (auch im Einzelfall) besonders schwerwiegenden Straftaten im Sinne § 100b Abs. 2 StPO verwendet werden und ist zudem für die Prüfung, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, auf den Zeitpunkt der Verwertung der Beweisergebnisse im anhängigen innerstaatlichen Strafverfahren abzustellen, unterliegen die in Bezug auf den Angeschuldigten I. relevanten Chat-Nachrichten des Nutzers der Kennung „F.“ nach Inkrafttreten des KCanG seit dem 01.04.2024 einem Beweisverwertungsverbot. Ob der Angeschuldigte I. – abweichend von der der Anklageschrift vom 14.11.2023 sowie der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 25.06.2024 zugrunde liegenden Bewertung – „gewerbsmäßig“ i. S. v. § 34 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 KCanG, § 100a Abs. 2 Nr. 7a Var. a) StPO gehandelt haben könnte, kann demnach dahinstehen.
150Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die dem Angeschuldigten vorgeworfenen Delikte einen Verbrechenstatbestand des § 34 Abs. 4 Nr. 1, 3 oder Nr. 4 KCanG, § 100b Abs. 2 Nr. 5a StPO erfüllen könnten, sind jedenfalls nicht gegeben. Weitere, über die demnach einem Beweisverwertungsverbot unterliegenden „ANOM“-Chatnachrichten hinausgehende, einen hinreichenden Tatverdacht i. S. v. § 203 StPO begründende Erkenntnisse liegen – jedenfalls nach Aktenlage – nicht vor.
1513.
152Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Landgerichts vom 22.01.2024 war auch hinsichtlich der gegen die Angeschuldigte J. erhobenen Vorwürfe als unbegründet zurückzuweisen. Die diesbezügliche Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens ist rechtsfehlerfrei erfolgt.
153Insofern vermögen auch die mit der Einlegung der sofortigen Beschwerde (durch die Staatsanwaltschaft Arnsberg) und der Stellungnahme vom 25.06.2024 (durch die Generalstaatsanwaltschaft) vorgebrachten Ausführungen kein anderes Ergebnis zu rechtfertigen. Auch aus Sicht des Senats kann – anhand des nach Aktenlage vorliegenden Erkenntnisstands – sicher ausgeschlossen werden, dass der – sich schweigend verteidigenden – Angeschuldigten die notwendige Kenntnis vom Inhalt der in Rede stehenden Tasche im Rahmen einer Hauptverhandlung wird nachgewiesen werden können. Insofern liegt auch keine vorweggenommene Beweiswürdigung vor (vgl. zu den entsprechenden Maßstäben: OLG Hamm, Beschl. v. 22.01.2019 – III-3 Ws 524/18 – juris Rn. 8; OLG Hamm, Beschluss vom 21.11.2013 – 5 Ws 438/13 – juris Rn. 6).
1544.
155Die Kostenentscheidung hinsichtlich der die Angeschuldigten I. und J. betreffenden sofortigen Beschwerde folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.
156Im Übrigen war eine Kosten- und Auslagenentscheidung des Senats nicht veranlasst; sie bleibt der endgültigen Entscheidung in der Hauptsache vorbehalten (vgl. OLG Celle Beschl. v. 09.07.2024, a. a. O.).