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1. Allein die Tatsache, dass eine Einheitsjugendstrafe im Rahmen einer Entscheidung nach Art. 316p, Art. 313 Abs. 4, 5 EGStGB, § 66 Abs. 2 S. 4 JGG gegebenenfalls neu festgesetzt werden muss, kann für sich genommen keinen wichtigen Grund im Sinne des § 85 Abs. 5 JGG darstellen.
2. Ein wichtiger Grund im Sinne des § 85 Abs. 5 JGG kann nicht pauschal mit der Begründung angenommen werden, es sei nicht ersichtlich, welcher Anteil an der Einheitsjugendstrafe den nunmehr nach dem Inkrafttreten des KCanG nicht mehr strafbewehrten Taten beigemessen werden kann.
Das Amtsgericht Herford – Jugendrichter als Vollstreckungsleiter – wird als das zuständige Gericht bestimmt.
Gründe
2I.
3Durch Urteil des Amtsgerichts Paderborn vom 23.11.2023 ist der Verurteilte unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts Holzminden vom 28.01.2020, des Urteils des Amtsgerichts Detmold vom 10.06.2021 und des Urteils des Amtsgerichts Herford vom 17.11.2022 zu einer Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren und 11 Monaten verurteilt worden. Der Verurteilung durch das Amtsgericht Holzminden lag ein Schuldspruch wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in 40 Fällen, versuchten Diebstahls im besonders schweren Fall, Diebstahls im besonders schweren Fall in 7 Fällen, Nötigung, Verstoßes gegen das Waffengesetz in 2 Fällen und wegen Erschleichens von Leistungen in 3 Fällen zugrunde. Bei den abgeurteilten Betäubungsmitteldelikten handelte es sich jeweils um den Erwerb von 1 Gramm Cannabis sowie in einem Fall um den Erwerb von zusätzlich 1 Gramm Amphetamine.
4Durch Beschluss vom 22.03.2024 hat die Jugendrichterin des Amtsgerichts Herford als Vollstreckungsleiterin das Verfahren an das Amtsgericht Paderborn als erstinstanzliches Gericht für die Entscheidung über die nach dem Inkrafttreten des Konsum-Cannabis-Gesetzes (KCanG) neu zu bildende Einheitsjugendstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Paderborn vom 23.11.2023 (Aktenzeichen: 69 Ls - 16 Js 517/23 - 19/23) zuständigkeitshalber übersandt. Zur Begründung hat das Amtsgericht Herford ausgeführt, das Verfahren sei „aufgrund von Zweifeln über die Berechnung der erkannten Strafe“ zurückzusenden, weil nicht beurteilt werden könne, welchen Anteil an der Einheitsjugendstrafe den nach neuem Recht nicht mehr strafbaren Taten beizumessen sei. Das Amtsgericht Herford hat darauf aufbauend die Ansicht vertreten, angesichts dieser Zweifel sei ausschließlich das erstinstanzliche Gericht in der Lage, eine angemessene neue Einheitsjugendstrafe zu bilden. Die Abgabe ‒ so das Amtsgericht Herford – sei bindend.
5Das Amtsgericht – Jugendschöffengericht – Paderborn hat mit Beschluss vom 03.04.2024 eine Übernahme des Verfahrens abgelehnt und die Sache dem Oberlandesgericht zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt. Nach Auffassung des Amtsgerichts sei ein wichtiger Grund für die Abgabe nicht ersichtlich, zumal die nunmehr nach der neuen Gesetzgebung nicht mehr strafbewehrten Taten ein einbezogenes Urteil des Amtsgericht Holzminden beträfen. Außerdem stünden dem Vollstreckungsleiter am ehesten die Beurteilungsgrundlagen für einen einheitlichen Rechtsfolgenausspruch zur Verfügung.
6Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den Abgabebeschluss des Amtsgerichts Herford vom 22.03.2024 aufzuheben.
7II.
8Das Oberlandesgericht ist entsprechend § 14 StPO als gemeinschaftliches oberes Gericht für die Entscheidung eines negativen Kompetenzkonflikts und Bestimmung des zuständigen Gerichts zuständig, wenn – wie im vorliegenden Fall – die Übernahme der Vollstreckungsleitung nach § 85 Abs. 5 JGG wie hier abgelehnt wird (vgl. BGHSt 30, 78; OLG Frankfurt a. M. NStZ-RR 2002, 380; OLG Frankfurt a.M. NStZ-RR 2023, 259; Eisenberg/Kölbel JGG, 25. Auflage 2024, § 85 Rn. 18; BeckOK JGG/Sengbusch, JGG, 32. Auflage 2023, § 85 Rn. 18). Hier ist das Oberlandesgericht Hamm als gemeinschaftliches oberes Gericht zur Entscheidung in der Sache berufen, da die beteiligten Amtsgerichte verschiedenen Landgerichtsbezirken angehören.
9Gemäß Art. 316p, Art. 313 Abs. 4, 5 EGStGB, § 66 Abs. 2 S. 4 JGG ist der Richter, dem die Aufgaben des Vollstreckungsleiters obliegen, für die nachträglichen Entscheidungen über die Neufestsetzung einer Einheitsjugendstrafe, die noch nicht oder nicht vollständig vollstreckt wurde und nach dem KCanG nicht oder in Teilen nicht mehr strafbewehrt ist, grundsätzlich zuständig. Eine solche Entscheidung kommt in Betracht, wenn aufgrund der neuen Gesetzeslage die abgeurteilte Tat aufgrund des am 01.04.2024 in Kraft getretenen KCanG straflos ist. Die dazugehörige Prüfung
10– insbesondere damit auch die Anwendbarkeit des KCanG auf den Einzelfall – hat in Jugendstrafvollstreckungssachen grundsätzlich der Jugendrichter als Vollstreckungsleiter vorzunehmen.
11Die grundsätzliche Zuständigkeit des Vollstreckungsleiters gemäß § 66 Abs. 2 Satz 4 JGG nach Beginn der Vollstreckung einer Jugendstrafe beruht darauf, dass dieser sich im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens bereits mit dem Jugendlichen befasst hat und ihm daher am ehesten die Beurteilungsgrundlagen für einen einheitlichen Rechtsfolgenausspruch zur Verfügung stehen (so auch Eisenberg/Kölbel/Kölbel, a.a.O., § 66 Rn. 14). Er hat aktuellere Kenntnisse über den Jugendlichen und kann daher den Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht bei einer nachträglichen Entscheidung am ehesten einfließen lassen.
12Gemäß §§ 82 Abs. 1, 85 Abs. 2 JGG ist nach Beginn der Vollstreckung einer Jugendstrafe als Vollstreckungsleiter der Jugendrichter des Amtsgerichts, in dessen Bezirk die Einrichtung für den Vollzug der Jugendstrafe liegt, für die weiteren Entscheidungen örtlich zuständig. Vorliegend wird derzeit die Einheitsjugendstrafe des Verurteilten in der Justizvollzugsanstalt Herford vollstreckt. Somit ist grundsätzlich die Jugendrichterin des Amtsgerichts Herford für die nunmehr zu treffenden Entscheidungen zuständig.
13Der Vollstreckungsleiter kann gemäß § 85 Abs. 5 JGG die Vollstreckung aus wichtigen Gründen widerruflich an einen sonst nicht oder nicht mehr zuständigen Jugendrichter abgeben. Diese Entscheidung hat der Vollstreckungsleiter nach pflichtgemäßem Ermessen, für dessen Ausübung im wesentlichen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte maßgebend sind, zu treffen. Ein wichtiger Grund kann vorliegen, wenn im Rahmen der Klärung einer einzelfallbezogenen Frage eine Abgabe sinnvoll erscheint, insbesondere aufgrund von Vorteilen der örtlichen (Vollzugs-) Nähe oder der – aufgrund der bisherigen Befassung – besseren Kenntnis von der Person des Verurteilten. Bisher wird eine solche einzelfallbezogene Abgabe angenommen bei Entscheidungen über Bewährungsauflagen, wenn im Falle des Wohnortwechsels der Jugendrichter am nunmehrigen Wohnort zuständig ist (BGH BeckRS 2011, 19229); ebenso wurde für die Vollstreckung einer (Betreuungs-) Weisung (§ 10 Abs. 1 Nr. 5 JGG) entschieden (vgl. BGH StV 2017, 619) oder auch für die vorübergehende Übertragung der Zuständigkeit für Fragen einer laufenden Führungsaufsicht auf das Gericht, in dessen Bezirk eine weitere Jugendstrafe des Verurteilten vollstreckt wird (vgl. Eisenberg/Kölbel/Kölbel, a.a.O. § 85 Rn. 15 f). Bei Betäubungsmittelabhängigen ist die Rückgabe an das Gericht des ersten Rechtszuges in den Fällen der Rückstellung einer Strafe nach § 35 BtMG gesetzlich in § 36 Abs. 5 BtMG vorgesehen. Eine solche Regelung hat der Gesetzgeber im Hinblick auf die Entscheidungen, die durch das KCanG zu treffen sind, jedoch gerade nicht getroffen. Vielmehr hat er durch den Verweis in Art. 316p EGStGB deutlich gemacht, dass grundsätzlich die Strafvollstreckungskammer und damit entsprechend im Jugendstrafrecht der Vollstreckungsleiter für die Neufestsetzung der Einheitsjugendstrafe zuständig sein soll.
14Ein wichtiger Grund im Sinne des § 85 Abs. 5 JGG kann vor diesem Hintergrund nicht pauschal mit der Begründung angenommen werden, es sei nicht ersichtlich, welcher Anteil an der Einheitsjugendstrafe den nunmehr nicht mehr strafbewehrten Taten beigemessen werden kann. Allein die Tatsache, dass die Einheitsjugendstrafe im Rahmen einer Entscheidung nach Art. 316p, Art. 313 Abs. 4, 5 EGStGB, § 66 Abs. 2 S. 4 JGG gegebenenfalls neu festgesetzt werden muss, kann für sich genommen keinen wichtigen Grund im Sinne des § 85 Abs. 5 JGG darstellen.
15Unabhängig davon hat sich das Amtsgericht Herford in seinem Beschluss – der standardisiert in einer Vielzahl weiterer Verfahren nach dem JGG getroffen worden ist – auch nicht mit dem vorliegenden Einzelfall auseinandergesetzt und keinerlei Ermessen ausgeübt. Es ist insbesondere nicht ersichtlich, inwiefern das Amtsgericht Paderborn, zumal es in seinem Urteil die nicht mehr strafbewehrte Tat lediglich einbezogen hatte, das für die nunmehr anstehende Entscheidung sachnähere Gericht sein sollte. Auch andere wichtige Gründe, weshalb der Vollstreckungsleiter in Fällen der Neufestsetzung der Einheitsjugendstrafe im Hinblick auf das KCanG unzuständig sein sollte, sind nicht ersichtlich. Es gilt, zeitnah Rechtsklarheit über die nunmehr gegebenenfalls neu festzusetzenden Einheitsjugendstrafen zu schaffen und daher eine zeitliche Verzögerung, die mit einer Abgabe an ein anderes Gericht einhergeht, möglichst zu vermeiden. Dies gilt unabhängig davon, wann eine Überprüfung der Strafvollstreckung gemäß § 57 StGB ansteht. Im Übrigen ist eine etwaige neue Einheitsjugendstrafe ohnehin weniger nach den Erkenntnissen der dem Urteil zugrundeliegenden Feststellungen zu bewerten. Vielmehr ist der Erziehungsgedanke maßgeblich in den Blick zu nehmen. Auch insoweit ist der Vollstreckungsleiter sachnäher als das unter Umständen seit mehreren Jahren mit dem Jugendlichen nicht mehr befasste Tatgericht.