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§§ 463 Abs. 3 S. 3, 454 Abs. 2 S. 3 StPO regeln das weitere Verfahren (Pflicht zur mündlichen Anhörung des Sachverständigen) bei Gutachten zu der Frage, „ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht“ (§ 454 Abs. 2 S. 2 StPO). Dabei handelt es sich um das psychiatrische und/oder psychologische, kriminologische oder soziologische Prognosegutachten im eigentlichen Sinne. Im Übrigen richtet es sich nach dem Gebot der bestmöglichen Sachverhaltsaufklärung, ob ein (anderer) Sachverständiger mündlich zu hören ist.
Die sofortige Beschwerde wird als unbegründet verworfen.
Der Untergebrachte hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Gründe:
2I.
3Der Untergebrachte wurde am 6. Juni 2005 vom Landgericht Koblenz wegen schwerer Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Maßregel wird seit dem 11. Februar 2009 vollstreckt.
4Auf der Grundlage von Führungsberichten der JVA B. vom 24. Juli 2023 und vom 5. Dezember 2023 sowie eines psychiatrischen Prognosegutachtens des Sachverständigen U. vom 30. Oktober 2023 hat die Strafvollstreckungskammer – nach mündlicher Anhörung des Sachverständigen und Anhörungsverzicht des Untergebrachten – mit Beschluss vom 13. Februar 2024 eine Erledigung oder Aussetzung der Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung abgelehnt und die Fortdauer der Unterbringung angeordnet.
5Dagegen wendet sich der Untergebrachte mit der sofortigen Beschwerde, die er im Wesentlichen darauf stützt, die Strafvollstreckungskammer habe aus seinen festgestellten – näher vorgetragenen – gesundheitlichen Beeinträchtigungen keine Konsequenzen für die Unterbringungsfortdauer gezogen.
6Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen. Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen internistisch-lungenfachärztlichen Gutachtens des Sachverständigen R., das dieser unter dem 27. August 2024 vorgelegt hat.
7Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts – insbesondere des Vorlebens des Untergebrachten, der Anlasstat und -verurteilung sowie des Vollstreckungsverlaufs – wird auf den ausführlichen Sachbericht unter Ziffer I. des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen.
8II.
9Die sofortige Beschwerde ist zulässig. In der Sache hat sie keinen Erfolg. Die Voraussetzungen für eine Erledigung oder Bewährungsaussetzung gem. Art. 316e Abs. 1 Satz 2 EGStGB i. V. m. § 67d Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 StGB a. F. sind nicht erfüllt.
101.
11Es besteht nach wie vor konkrete Gefahr, dass der Untergebrachte infolge eines Hanges erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
12a.
13Bei dem Untergebrachten bestehen eine dissoziale Persönlichkeitsstörung sowie eine hohe Ausprägung psychopathischer Züge. Bislang hat der Untergebrachte eine Behandlung dieser Störungen und Krankheitsbilder abgelehnt. Er hat sich deshalb bislang weder mit seinen deliktrelevanten Persönlichkeitsfaktoren auseinandergesetzt noch eine Risikoprophylaxe entwickelt. Hiervon ist die Strafvollstreckungskammer zutreffend auf Grundlage der im Anlassurteil getroffenen Feststellungen und der vorliegenden Prognosegutachten und Führungsberichte, namentlich des Sachverständigen U. vom 30. Oktober 2023 und der Justizvollzugsanstalt vom 24. Juli und 5. Dezember 2023, ausgegangen. Auf die diesbezüglichen Erwägungen in dem angefochtenen Beschluss, denen der Senat vollumfänglich beitritt, wird Bezug genommen.
14b.
15Im Ergebnis ebenfalls nicht zu beanstanden ist, dass die Strafvollstreckungskammer aus dem körperlichen Zustand des Untergebrachten „keine Konsequenzen“ für die Unterbringungsfortdauer gezogen hat. Der körperliche Zustand des Untergebrachten steht der Begehung von schweren Gewalt- und Sexualdelikten nicht entgegen. Dies steht aufgrund des vom Senat eingeholten internistisch-lungenfachärztlichen Gutachtens des Sachverständigen R. vom 27. August 2024 fest.
16Danach ist die körperliche Leistungsfähigkeit des Untergebrachten durch eine fortgeschrittene COPD mit Lungenemphysem eingeschränkt. Zudem ist seine Muskelkraft durch eine Kachexie beeinträchtigt. Allerdings haben diese Defizite kein solches Ausmaß, dass sie den Untergebrachten an der Begehung weiterer, der Anlassdelinquenz vergleichbarer Delikte hindern würden.
17Zwar wäre der Untergebrachte aufgrund seines körperlichen Zustands, so der Sachverständig R., nicht in der Lage, eine gesunde, erwachsene Person in unbeeinträchtigtem körperlichen und geistigen Zustand ohne Zuhilfenahme einer Waffe in einem Gerangel über längere Zeit zu überwältigen. Jedoch, so der Sachverständige, könne er an einer Person, die ihrerseits körperlich eingeschränkt ist, zweifellos Tathandlungen begehen, durch welche das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würde. Ebenso sei der Untergebrachte ohne Zweifel dazu in der Lage, durch planvolles Handeln mit Schaffen eines Drohszenarios die Gegenwehr eines potenziellen Opfers zu unterbinden, so dass ihm solche Tathandlungen möglich würden. Davon ist auch der Senat aufgrund der von dem Sachverständigen erhobenen und in dem Gutachten mitgeteilten Anknüpfungstatsachen und medizinischen Befunde überzeugt.
18Bei der Untersuchung durch den Sachverständigen hatte selbst eine Unterbrechung der zusätzlichen Sauerstoffgabe mittels mobilem Sauerstoffgerät über 12 Minuten nicht zur Handlungsunfähigkeit des Untergebrachten geführt. Es zeigten sich weder objektive Zeichen einer schweren Luftnot noch kam es zu einem kritischen Sauerstoffmangel. Der Untergebrachte war nach dieser Zeit ohne Weiteres in der Lage, rasch aus einer tiefen Hocke aufzustehen, nach seinem Rollator zu greifen sowie sich seinen Sauerstoffschlauch selbst wieder anzulegen. Seine Bewegungen waren dabei, so der Sachverständige, energisch, kräftig, koordiniert und gezielt; zudem konnte er dabei in ganzen Sätzen und ohne Unterbrechungen sprechen. Nach Einschätzung des Sachverständigen ist der Untergebrachte auch nach Unterbrechung der zusätzlichen Sauerstoffzufuhr in der Lage, einige Schritte zu gehen, seine Hände und Arme zielgerichtet zu nutzen und Gegenstände zu bewegen. Insgesamt bestand der Eindruck, dass der Untergebrachte die Folgen seiner Lungenerkrankung deutlich schwerwiegender empfindet oder schildert, als sie sich objektiv darstellen.
19c.
20Soweit der Sachverständige U. in seinem schriftlichen Gutachten und bei seiner mündlichen Anhörung vor der Strafvollstreckungskammer die Verwendung von Waffen oder Taten zum Nachteil von körperlich unterlegenen Personen für unwahrscheinlich gehalten hat, weil der Untergebrachte auch in der Vergangenheit keine Waffen verwendet habe und gebrechliche Personen nicht seinem „Beuteschema“ entsprächen, steht dies nach Überzeugung des Senats der Begehung weiterer, schwerer Gewalt- oder Sexualdelikte nicht entgegen.
21Zwar trifft zu, dass der Untergebrachte sich bei früheren Taten nicht im engeren Sinne „bewaffnet“ hat. Indes hat der Untergebrachte sowohl bei den Sexualdelikten am 27. September 1986, am 14. Dezember 1989 als auch bei der Anlasstat die jeweiligen Opfer mit Tüchern, Schnürsenkeln und einem Gürtel – bei den ersten beiden Taten jeweils an das Bett – gefesselt und bei einer der Taten die Tür verschlossen. Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass der Untergebrachte körperlich nach wie vor ohne Weiteres dazu in der Lage ist, schwächere oder schlafende Personen an ein Bett zu fesseln und durch Maßnahmen wie das Verschließen von Türen Störungen entgegenzuwirken. Entsprechende Tatgelegenheiten wären bei Entlassung des Untergebrachten in eine Pflegeeinrichtung – die bereits aufgrund seines körperlichen Zustands naheliegt – ohne weiteres zu erwarten.
22Auch ist darauf hinzuweisen, dass der Untergebrachte in einer solchen Einrichtung nicht zwangsläufig nur auf „gebrechliche“ Personen treffen würde, die nicht seinem „Beuteschema“ entsprechen. Es ist zurzeit völlig offen, in welche konkrete Einrichtung mit welcher Bewohnerstruktur der aktuell 57jährige Untergebrachte entlassen würde. Zudem lassen die dissoziale Persönlichkeitsstruktur und die ausgeprägten psychopathischen Wesenszüge des Untergebrachten befürchten, dass die subjektiv empfundene Attraktivität eines möglichen Opfers nicht ausreicht, um aufkommenden Impulsen zur Befriedigung des Geschlechtstriebs zu wiederstehen. Immerhin hatte der Untergebrachte auch am 2. Mai 2000 gegenüber einer 35 Jahre älteren Frau masturbiert und Kontakt mit ihr aufgenommen; die Geschädigte ergriff seinerzeit erfolgreich die Flucht.
23Soweit schließlich der Sachverständige U. weitere erhebliche Delikte auch deshalb für unwahrscheinlich hält, weil der Untergebrachte nach seiner Angabe kein sexuelles Interesse mehr verspüre, vermag der Senat auch insoweit nicht zu folgen. Der Sachverständige hält diese Angabe für „nachvollziehbar“, weil sie der Angabe des Untergebrachten gegenüber der früheren Sachverständigen O. entspreche und er – der Sachverständige – bei der Besichtigung des Zimmers des Untergebrachten keine Hinweise für einer sexuellen Stimulation dienliche pornographische Darstellungen gefunden habe. Allerdings räumt der Sachverständige in seinem Gutachten selbst ein, die betreffenden Angaben seien letztlich nicht überprüfbar. Der Senat gibt zu bedenken, dass nach dem Ergebnis des Gutachtens des Sachverständigen R. jedenfalls die Angaben des Untergebrachte zu seinem körperlichen Zustand sich letztlich im Hinblick auf die hier zu treffende Entscheidung als deutlich übertrieben herausgestellt haben. Es spricht nichts dagegen, dass der nach wie vor einsichtsfähige und zu planvollem Vorgehen befähigte Untergebrachte auch zu seinem sexuellen Interesse falsche Angaben gemacht und entsprechendem Anschein entgegenstehende Hinweise vermieden hat.
24d.
25Nach alledem sind von dem Untergebrachten auch trotz seines körperlichen Zustands nach wie vor Taten zu erwarten, durch die die Opfer körperlich oder seelisch schwer geschädigt werden.
26In der Vergangenheit waren die Taten des Untergebrachten durch ein hohes Maß an Machtausübung und Erniedrigung gekennzeichnet. So übte er etwa die sexuellen Übergriffe über mehrere Stunden hinweg aus oder führte Körperteile wie Zunge, Finger und Penis oder Gegenstände wie Kerzen oder Flaschen in die Scheide der jeweiligen Opfer ein. Eine der Geschädigten ließ er seinen Urin trinken und berührte ihren Körper mit seiner brennenden Zigarette.
27Nichts schließt vergleichbare Handlungen aus, nachdem der Untergebrachte auch in Zukunft seine Opfer gefesselt und dadurch in eine wehrlose Situation gebracht und bereits hierdurch oder ggf. durch Handlungen oder Drohungen weiter eingeschüchtert hat.
282.
29Der Senat konnte entscheiden, ohne den Sachverständigen R. mündlich anzuhören.
30Die Ermittlungen des Beschwerdegerichts erfolgen grundsätzlich im Wege des Freibeweises und ohne Bindung an die Grundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit (Matt in Löwe/Rosenberg, Strafprozessordnung, 26. Auflage 2024, § 308, Rn. 19, Zabeck, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, a. a. O., § 308, Rn. 17).
31Etwas anderes ergibt sich im vorliegenden Fall auch nicht ausnahmsweise aus der in §§ 463 Abs. 3 Satz 3 StPO i. V. m. § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO vorgesehen Pflicht zur mündlichen Anhörung des Sachverständigen. Unabhängig davon, ob diese Regelung im Beschwerdeverfahren überhaupt anwendbar ist (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluss vom 18. September 2003 – 178/03 –, juris), ist jedenfalls auch der sachliche Anwendungsbereich der Norm hier nicht eröffnet. Denn die Vorschrift regelt gem. § 454 Abs. S Satz 2 StPO das weitere Verfahren bei Gutachten zu der Frage, „ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht“. Dabei handelt es sich um das psychiatrische und/oder psychologische, kriminologische oder soziologische Prognosegutachten im eigentlichen Sinne (BT-Drs. 13/7163, S. 9). Dieses eigentliche Prognosegutachten hatte die Strafvollstreckungskammer bereits bei dem Sachverständigen U. eingeholt, der dies am 30. Oktober 2023 erstattet hat und dazu am 13. Februar 2024 mündlich angehört worden ist.
32Dieses Gutachten brauchte nicht die einzige Erkenntnisquelle sein (vgl. Appl, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Auflage 2023, § 454, Rn. 12a). Das folgt aus dem Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung. Es fordert vom Gericht, sich um eine möglichst breite Tatsachenbasis zu bemühen und so ein möglichst umfassendes Bild über die zu beurteilende Person zu verschaffen (BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 1985 - 2 BvR 1150/80 -; Beschluss vom 22. Oktober 2009 - 2 BvR 2549/08 -; beide juris). Der Senat hat deshalb gem. § 308 Abs. 2 StPO ein weiteres Sachverständigengutachten dazu eingeholt, welche körperlichen Einschränkungen die Lungenerkrankung des Untergebrachten verursacht und welche Folgen diese Einschränkungen haben. Dieses Gutachten hat der Sachverständige R. unter dem 27. August 2024 erstattet. Nach dem Inhalt und Ergebnis des schriftlich erstatteten Gutachtens war eine mündliche Anhörung des Sachverständigen zur weiteren Sachaufklärung nicht erforderlich. Auch die Verfahrensbeteiligten, denen das Gutachten zur Kenntnisnahme und Stellungnahme zugeleitet worden ist, haben entsprechende Gesichtspunkte nicht genannt und eine weitere Aufklärung oder mündliche Anhörung des Sachverständigen auch nicht beantragt.
333.
34Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.