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Der förmliche Auslieferungshaftbefehl des Senats vom 28.05.2024 wird unter folgenden Auflagen außer Vollzug gesetzt:
1.
a) Der Verfolgte hat unverzüglich nach seiner Haftentlassung festen Wohnsitz in der C.-straße 00 in O. zu nehmen.
b) Soweit der Wohnsitz an der vorgenannten Adresse nicht mehr begründet oder aufrechterhalten werden kann, hat der Verfolgte seine neue Wohnanschrift unverzüglich dem Oberlandesgericht und der Generalstaatsanwaltschaft in Hamm anzuzeigen und dem zuständigen Einwohnermeldeamt mitzuteilen.
c) Der Verfolgte hat sich zweimal wöchentlich, und zwar dienstags und freitags, bei der für seinen Wohnsitz zuständigen Polizeidienststelle zu melden.
d) Der Verfolgte hat jeder Ladung in diesem Auslieferungsverfahren Folge zu leisten.
2. Anordnung der mitunterzeichnenden stellvertretenden Vorsitzenden:
Der Verfolgte ist unverzüglich aus der Auslieferungshaft zu entlassen.
G r ü n d e :
2I.
3Die ukrainischen Behörden betreiben gegen den Verfolgten das Auslieferungsverfahren zum Zwecke der Strafverfolgung und haben ihn über Interpol mit Nachricht vom 01.08.2019 - Interpol File No.: N01 - zur Festnahme ausgeschrieben (Bl. 12, 12R d.A.).
4Die Auslieferungsunterlagen haben die ukrainischen Behörden mit undatiertem Schreiben des Büros des Generalstaatsanwalts der Ukraine aus dem Jahr 2024 - Aktenzeichen: N02 - (Bl. 59R-61R d.A.) an das Bundesamt für Justiz übermittelt (zu vgl. Bl. 54, 56b d.A.), welche von dort an das Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen und von diesem mit Erlass vom 07.05.2024 (Bl. 55 d.A.) - Aktenzeichen: 9351 E - III. 269/24 - an den Generalstaatsanwalt in Hamm weitergeleitet worden sind.
5Grundlage des Auslieferungsersuchens der ukrainischen Behörden ist der Untersuchungshaftbefehl des Berufungsgerichts des Gebiets Tscherkassy vom 06.12.2018 - Aktenzeichen: N03 (zu vgl. Bl. 12R d.A.) - bzw. - Aktenzeichen: Nr. 11-N04 - (Bl. 91-93R d.A.). Zu dem dem Verfolgten zur Last gelegten Sachverhalt haben die ukrainischen Behörden folgende Angaben gemacht:
6Auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft hat der Senat mit Beschluss vom 28.05.2024 gegen den Verfolgten förmliche Auslieferungshaft angeordnet. Wegen der Einzelheiten wird auf den Senatsbeschluss Bezug genommen.
9Die Generalstaatsanwaltschaft hat das Justizministerium NRW – entsprechend den Ausführungen des Senats im Auslieferungshaftbefehl – mit Schreiben vom 03.06.2024 gebeten, die ukrainischen Behörden auf dem Geschäftsweg um Zusicherungen und Erklärungen betreffend das den Verfolgten im Falle der Auslieferung erwartende Strafverfahren sowie die Haftbedingungen gebeten. Wegen der Einzelheiten wird auf das Schreiben verwiesen.
10Der Senat hat nach einer entsprechenden Rückfrage mit Verfügung vom 20.06.2024 darum gebeten, die an die ukrainischen Behörden noch zu stellenden Fragen hinsichtlich der Haftbedingungen auf die durch das Auswärtige Amt besichtigten beiden Haftanstalten Nr. 9 und 26 der diesbezüglichen Aufstellung zu beschränken und zudem darum gebeten, entsprechend der Vorgehensweise in den beiden Auslieferungsverfahren 2 OAus 222/23 und 2 OAus 74/24 die ukrainischen Behörden auch im vorliegenden Verfahren um die Beantwortung der in den Vermerken vom 06.06.2024 und vom 11.06.2024 aufgeworfenen Fragen betreffend den Einsatz von Videokonferenztechnik zu bitten.
11Das Bundesamt für Justiz hat die ukrainischen Behörden mit Schreiben vom 28.06.2024 um die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen gebeten.
12Der Verfolgte ist am 10.07.2024 in O. festgenommen worden. Der förmliche Auslieferungshaftbefehl des Senats ist dem Verfolgten am Folgetag durch den Ermittlungsrichter am Amtsgericht Braunschweig (Az. 7 Gs 1573/24) bekannt gegeben worden. Im Rahmen der hierbei erfolgten Anhörung hat der Verfolgte bzw. für ihn seine beigeordnete Rechtsanwältin angegeben, der Tatvorwurf sei aufgrund der Übersetzung schwer verständlich. Soweit wegen Betruges und Urkundenfälschung um Auslieferung ersucht werde, bestünden Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Auslieferung. In der Ukraine herrsche Kriegszustand, so dass auch humanitäre Gründe der Zulässigkeit der Auslieferung entgegenstehen dürften. Etwaige Versprechungen, dass eine Inhaftierung in einer JVA außerhalb des Kriegsgebietes erfolgen werde, dürften nicht ausreichen. Der Verfolgte sei in Deutschland als Flüchtling anerkannt nach § 24 AufenthG. In der Ukraine werde er seit 2019 politisch verfolgt und erwäge, einen weiteren Asylantrag zu stellen. Zudem habe er seine Familie hier und einen festen Arbeitsplatz. Er lebe seit 2022 in Deutschland. Er lebe in O. und arbeite bei der E. GmbH in D.. In Deutschland seien keine Verfahren gegen ihn anhängig. In der Ukraine erwarte ihn kein gerechtes Verfahren. Der vereinfachten Auslieferung und einem Verzicht auf den Grundsatz der Spezialität stimme er nicht zu.
13Auf den diesbezüglichen Antrag der Generalstaatsanwaltschaft hat der Senat mit Beschluss vom 05.09.2024 Fortdauer der förmlichen Auslieferungshaft angeordnet. Wegen der Einzelheiten wird auf den Senatsbeschluss vom 05.09.2024 verwiesen.
14Mit Schreiben vom 18.09.2024 haben die ukrainischen Behörden ergänzende Auskünfte erteilt, u. a. dass der Verfolgte die Untersuchungshaft voraussichtlich in der Strafvollzugsanstalt Chortkiv (Nr. 26) und im Falle einer Verurteilung zu einer vollstreckbaren Freiheitsstrafe diese voraussichtlich in den Besserungsanstalten Drohobych (Nr. 40) oder Kolomyia (Nr. 41) verbüßen wird; wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Schreiben Bezug genommen wird.
15Nach Vorlage der Akten durch die Generalstaatsanwaltschaft am 23.09.2024 hat der Senat die Generalstaatsanwaltschaft mit Verfügung vom 26.09.2024 gebeten, ergänzend folgende Fragen an die ukrainischen Behörden zu übermitteln:
16„a)
17Ist das Kriegsrecht für das gesamte Gebiet der Ukraine, also auch in den Teilen, in denen keine aktiven Feindseligkeiten stattfinden und insbesondere in dem Gebiet, in dem das Gerichtsverfahren in diesem Verfahren durchgeführt wird, eingeführt worden? Kann im vorliegenden Verfahren daher das Gericht in Tscherkassy die Durchführung der Gerichtsverhandlung per Videokonferenz beschließen, da das Kriegsrecht eingeführt worden ist? Wäre ein Einspruch des Verfolgten gegen die Durchführung der Gerichtsverhandlung Videokonferenz zu verwerfen, da das Kriegsrecht eingeführt worden ist?
18Wenn das so sein sollte, wird dennoch zugesichert, dass der Verfolgte persönlich – physisch - an der Gerichtsverhandlung teilnehmen kann, wenn er es wünscht, obwohl das Kriegsrecht eingeführt worden ist?
19b)
20Wenn der Verfolgte eine persönliche Anwesenheit in der Gerichtsverhandlung wünscht, wo würde er dann in der Untersuchungshaft untergebracht werden? Angesichts der Entfernung von über 500 km zwischen Untersuchungshaftanstalt und Gerichtsort, dürfte eine tägliche Anreise zum Gerichtstermin nicht in Betracht kommen. Aus anderen Verfahren ist bekannt, dass eine Verlegung in eine Haftanstalt in der Nähe des Gerichtsorts zugesichert wurde.
21c)
22Falls eine Inhaftierung in der Haftanstalt Chortkiv während der Untersuchungshaft aufgrund der räumlichen Entfernung zum Gerichtsort nicht möglich sein sollte, sind die Haftbedingungen im Einzelnen einschließlich der Belegungssituation in der dann in Betracht kommenden Haftanstalt darzulegen.
232.
24Auch die Antworten zu den den Verfolgten erwartenden Haftbedingungen sind noch nicht ausreichend.
25So sind die Angaben zu den Haftanstalten Nr. 40 und Nr. 41, in denen eine etwaige Strafhaft voraussichtlich vollstreckt würde, noch nicht genügend. Es wird um folgende Nachfragen gebeten:
26Wie sind die Haftbedingungen in den beiden Haftanstalten hinsichtlich:
27Zahl der Haftplätze, Gesamtzahl der Gefangenen, Anzahl, Größe und Ausstattung der Hafträume, insbesondere Angaben zu Fenstern und Frischluftzufuhr, Belegung der Hafträume, Art und Bedingungen des Zugangs der Häftlinge zu medizinischer Versorgung.“
28Daraufhin hat die Generalstaatsanwaltschaft Hamm auf dem dafür vorgesehenen Geschäftsweg auf die Erteilung weitergehender Auskünfte hingewirkt.
29Zudem hat der Verfolgte mit Schriftsatz seines Beistands vom 08.10.2024 u. a. geltend gemacht, dass die Sicherheit der in der Ukraine Inhaftierten auch in von der direkten Kampfzone entfernten Gebieten nicht gewährleistet werden könne. Ferner komme es vermehrt zu Berichten, dass die Gefangenen nach ihrer Verurteilung direkt an die Front entsandt würden; dies sei bei dem Verfolgten aufgrund seiner militärischen Ausbildung sehr wahrscheinlich.
30Wegen dieses Vorbringens hat der Senat weitere ergänzende Auskünfte der ukrainischen Behörden für erforderlich erachtet, im Einzelnen:
31- Muss der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung zum Zwecke der Strafverfolgung - bereits vor oder unmittelbar nach der Strafvollstreckung im Falle einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe - mit der (zwangsweisen) Einberufung zum Militärdienst / Kriegsdienst mit der Waffe rechnen?
32Falls ja: Besteht für den Verfolgten nach Verbüßung einer etwaigen Strafe wegen des auslieferungsfähigen Delikts die Möglichkeit, vor einer Einziehung zum Kriegsdienst die Ukraine zu verlassen? Müsste der Verfolgte in diesem Fall mit einer Bestrafung rechnen?
33- Allgemein:
34- Wer wird in der Ukraine zum Militärdienst einberufen?
35- Gibt es bzw. welche Möglichkeiten gibt es, den Militärdienst / den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern?
36- Wenn ja, unter welchen Voraussetzungen ist dies möglich?
37- Ist bzw. in welchen Fällen ist die Verweigerung des Militärdienstes / den Kriegsdienst mit der Waffe strafbewehrt?
38Auch insoweit hat die Generalstaatsanwaltschaft die ukrainischen Behörden auf dem dafür vorgesehenen Geschäftsweg um ergänzende Auskünfte ersucht. Ferner hat die Generalstaatsanwaltschaft mit Blick auf den von dem Verfolgten zwischenzeitlich gestellten Asylantrag das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge um Übersendung der Asylverfahrensakte ersucht.
39Die von dem Senat begehrten ergänzenden Auskünfte der ukrainischen Behörden liegen bislang noch nicht vollständig vor.
40Aus einem Rundschreiben des Bundesamts für Justiz vom 18.10.2024 ergeben sich weitere Informationen bezüglich einzelner Haftanstalten in der Ukraine, namentlich dass die Renovierungsarbeiten in den Haftanstalten Nr. 35 und 41 bis Ende des Jahres 2024 abgeschlossen sein sollen, in der Haftanstalt Nr. 40 im Laufe des Jahres 2025 und in der Haftanstalt Nr. 4 bis Dezember 2025 andauern.
41Der Asylverfahrensakte ist hinsichtlich der geltend gemachten politischen Verfolgung im Wesentlichen der Vortrag des Verfolgten zu entnehmen, er werde in der Ukraine wegen einer Straftat verfolgt, die er nicht begangen habe. Diese sei „fabriziert“ worden, um von ihm Bestechungsgelder abzupressen. Konkret sei er von einem A. erpresst worden, der leitender Angestellter des Sicherheitsdienstes der Ukraine und in der Behörde als Anti-Korruptionsmitarbeiter tätig sei, in der Herr H. gearbeitet habe. Jeglicher Versuch des Verfolgten, Herrn A. an die Behörden zu melden, sei vergeblich gewesen. Herr A. sei vielmehr von der Sicherheitsbehörde gedeckt, von dem Verfolgten vorgebrachte Beweismittel unterschlagen und Beweismittel gegen ihn „fabriziert“ worden.
42Die politische Verfolgung des Verfolgten beruhe darauf, dass er für die Abteilung für Personenschutz des ehemaligen Präsidenten V. gearbeitet habe. Kurz vor seiner Kündigung sei auf der Internetseite des Sicherheitsdienstes im Gebiet Tscherkassy veröffentlicht worden, dass beim Kampf gegen Korruption ein leitender Angestellter der Behörde, in der der Verfolgte gearbeitet habe, verurteilt worden sei. Dass eine Verurteilung des Verfolgten forciert werde, diene wohl dem Zweck, dass Fortschritte in der Bekämpfung von Korruption gemacht würden.
43Die durch den Verfolgten im Asylverfahren übergebenen Schriftstücke sind bislang nicht übersetzt worden.
44Die Generalstaatsanwaltschaft hat dem Senat mit Zuschrift vom 04.11.2024 die Akte zur Entscheidung über die Frage der Haftfortdauer übersandt und mitgeteilt, eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls für vertretbar zu erachten.
45II.
46Gemäß § 26 Abs. 1 IRG war über die Fortdauer der Auslieferungshaft zu entscheiden. Die Auslieferung erweist sich weiterhin als nicht von vornherein unzulässig.
47Im Hinblick auf den Tatvorwurf, die Dauer der bereits vollstreckten Auslieferungshaft und die weiterhin ausstehenden Antworten und Zusicherungen der ukrainischen Behörden ist jedoch der weitere Vollzug der Auslieferungshaft nunmehr unverhältnismäßig. Es ist derzeit auch nicht absehbar, wann und in welchem Umfang die ukrainischen Behörden die erbetenen Auskünfte insbesondere zur Haftsituation im Falle der Verbüßung einer etwaigen Strafhaft erteilen werden.
48Da die weitere Dauer des Auslieferungsverfahrens angesichts der noch offenen Fragen und auch mit Blick auf den durch den Verfolgten im Asylverfahren gemachten Vortrag nicht absehbar ist, erscheint es dem Senat weiterhin sachgerecht, die Nachfragen zu den Haftbedingungen für die Nr. 40 und 41 einzuholen, auch wenn nach den Auskünften der ukrainischen Behörden im Rundschreiben des Bundesamts für Justiz vom 18.10.2024 mit einer Fertigstellung der Renovierungsarbeiten in der Haftanstalt Nr. 40 nicht mehr im Jahr 2024 zu rechnen ist. Zudem sollen die ukrainischen Behörden bezüglich der vertraulichen Kommunikation zwischen dem Verfolgten und dem Verteidiger gebeten werden, ob (wie in dem Verfahren 1 OAus 174/24 vor dem Oberlandesgericht München) zugesichert wird, dass im Fall einer Verhandlung per Videokonferenz, bei der Verfolgter und Verteidiger nicht im gleichen Raum anwesend sind, vertrauliche Gespräche mit dem Verteidiger jeweils durch eine auf seinen Wunsch anzuberaumende Sitzungspause ermöglicht werden.
49Mit Blick auf den Inhalt des Sonderbandes „Ablichtung Asylverfahrensakte“ wird die Generalstaatsanwaltschaft gebeten, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge um Mitteilung zu bitten, ob dort abgesehen vom Schriftsatz des Beistandes vom 02.10.2024 weitergehende mündliche oder schriftliche Angaben des Verfolgten zur Begründung seines Asylantrags vorliegen und ob die eingereichten Beweismittel von dort aus übersetzt werden.