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Gibt ein Patient bei Beschwerden an der Lendenwirbelsäule eine Blasenstörung an, sind umgehend weitere Untersuchungen durchzuführen. Bei der Annahme eines Cauda-equina-Syndroms ist der Patient umgehend zu operieren. Wird nicht umgehend operiert, kann das als grober Behandlungsfehler gewertet werden. Für Sensibilitätsstörungen im Bereich der Blase und des Darms kann ein Schmerzensgeld von 75.000 € angemessen sein.
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 17. Oktober 2023 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 75.000,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20.08.2020 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin jeden materiellen und nicht absehbaren immateriellen Schaden aus der fehlerhaften Behandlung im Haus der Beklagten in der Zeit vom 00.00.2015 bis 00.00.2015 zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
Die Kosten des Rechtsstreits werden der Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die am 00.00.1968 geborene Klägerin nimmt die Beklagte auf Zahlung von Schmerzensgeld sowie auf Feststellung der Einstandspflicht für materielle und nicht absehbare immaterielle Schäden aufgrund einer vermeintlich fehlerhaften Behandlung in der Q.-Klinik in L., dessen Trägerin die Beklagte ist, im Zeitraum 00.00.2015 bis 00.00.2015 in Anspruch.
2Im Jahre 1998 erlitt die Klägerin einen Bandscheibenvorfall L5/S1 und litt seitdem an rezidivierenden Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule. Seit etwa August 2015 litt die Klägerin unter einer Zunahme der Schmerzen im unteren Rückenbereich mit einer Schmerzausstrahlung in das rechte Bein, die sich trotz physiotherapeutischer Behandlung nicht besserten. Am 00.11.2015 verschlimmerten sich die Schmerzen derart, dass sich die Klägerin fast nicht mehr bewegen konnte.
3Zudem trat eine leichte Taubheit im rechten Bein ein. Daher suchte sie ihren Hausarzt C. auf, der ihr mit der Diagnose „V.a. Bandscheibenvorfall LWS mit Taubheit rechtes Bein“ eine Krankenhauseinweisung und eine Überweisung zum Radiologen ausstellte.
4Am 00.00.2015 wurde im Radiologiezentrum Y. ein CT der Lendenwirbelsäule angefertigt und ein Massenprolaps L5/S1 rechts mediolateral mit einer kräftigen Kompression des Duralsackes/der Nervenwurzel S1 rechts diagnostiziert. Der Klägerin wurde geraten, auf Blasen-Mastdarm-Entleerungsstörungen zu achten, da sie dann umgehend ein Krankenhaus aufsuchen und sich operativ behandeln lassen müsse. Als die Klägerin gegen 14:00 Uhr feststellte, dass sie die Blase nicht entleeren konnte (ca. 6 bis 7 Stunden nach dem letzten Wasserlassen am Morgen des Tages) und ein Taubheitsgefühl auch im Bereich der Scheide und Schamlippen einsetzte, alarmierte sie den Rettungsdienst. Gegen 16:00 Uhr wurde sie als Notfall mit einem Rettungswagen in die Klinik der Beklagten eingeliefert.
5Im Rahmen der orthopädischen Aufnahmeuntersuchung durch den Zeugen P. wies sie diesen darauf hin, dass sie einen Massenprolaps im Segment L5/S1 rechts mit kräftiger Kompression des Duralsackes und der Nervenwurzel S1 erlitten habe, was durch das mitgebrachte CT belegt sei. Sie überreichte dazu sowohl eine CD mit den CT-Daten als auch den Befundbericht vom 00.00.2015 und die Verordnung der Krankenhausbehandlung.
6Im Rahmen des erhobenen orthopädischen Aufnahmebefundes zeigte sich eine tief-lumbale Schmerzsymptomatik bei eingeschränkter Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule. Die Wirbelsäule zeigte sich lotrecht. Es bestanden leichte Druck- und Klopfschmerzen tief-lumbal. Es zeigten sich keine sensomotorischen Defizite bei Kraftgrad 5/5 der Kennmuskeln der Lendenwirbelsäule mit Ausnahme einer angedeuteten Fußsenkerschwäche mit einem Kraftgrad 4/5. Die weiteren Funktionstests waren unauffällig. Fersen-, Zehen- und Einbeinstand konnten sicher demonstriert werden.
7Die Klägerin wurde stationär aufgenommen, um eine OP-Indikation – die OP könne ggf. am Dienstag durchgeführt warden – abzuklären und eine Röntgen- und MRT-Untersuchung durchzuführen. Außerdem erhielt sie eine myotonolytische Infusion.
8Gegen 22:00 Uhr gab die Klägerin an, kein Wasser lassen zu können, woraufhin eine Untersuchung durch eine Stationsschwester erfolgte. Da diese keine prallelastisch gefüllte Blase tastete, bat sie die Klägerin noch etwas zuzuwarten.
9Um 3:30 Uhr meldete sich die Klägerin erneut beim Pflegepersonal, gab an, kein Wasser lassen zu können und wünschte die Anlage eines Dauerkatheters. Zu dieser Zeit konnte die Klägerin 150 ml Spontanurin lassen, erhielt jedoch auf mehrmaligen Wunsch einen Dauerkatheter, wodurch sich eine große Menge an Urin entleerte.
10Am Vormittag des 00.00.2015 (am Folgetag der stationären Aufnahme*) erfolgte eine erneute ärztliche Untersuchung. Die Klägerin berichtete über Taubheitsgefühle im Genitalbereich und Unterbauch. Aufgrund des liegenden Dauerkatheters war eine Befunderhebung bezüglich einer Blasenentleerungsstörung nicht möglich, so dass um ca. 10:00 Uhr der diensthabende Oberarzt hinzugezogen wurde. Zwischenzeitlich erfolgte der Wechsel des diensthabenden Arztes und es erfolgte eine erneute umgehende Rücksprache. Es wurde eine digitale Prüfung des Sphinktertonus veranlasst und durchgeführt. Die Untersuchung ergab einen leicht verminderten Sphinktertonus, woraufhin bei Verdacht auf ein beginnendes Cauda-Syndrom umgehend die Indikation zur Notfall-Nukleotomie gestellt wurde.
11Um 17:05 Uhr wurde die Notoperation durchgeführt.
12Postoperativ wurde die Klägerin erneut untersucht. Es zeigte sich die Fußsenkerparese bereits rückläufig. Bei noch weiterhin einliegendem Dauerkatheter konnte noch keine adäquate Beurteilung der Cauda-Symptomatik erfolgen.
13Im Pflegebericht wurde am 00.00.2015 (am Folgetag der OP*) um 19:00 Uhr dokumentiert, dass das Gefühl im Genitalbereich allmählich zurückkomme, so dass laut Auskunft der Klägerin am Folgetag die Entfernung des Katheters erfolgen könne. Aufgrund einer weiter bestehenden Inkontinenz konnte dieser schließlich nicht entfernt werden, so dass ein bereits vorgesehenes erneutes MRT der LWS am 00.00.2015 (zwei Tage nach OP*) angefertigt wurde. In dieser Untersuchung zeigte sich ein großer frischer Rezidiv-Vorfall, der den Spinalkanal allerdings nicht vollständig verlegte. Es lag die Vermutung nahe, dass dieser möglicherweise bei der Mobilisation entstanden sein könnte, da intraoperativ der gesamte Sequester entfernt worden war. Daher erging eine erneute Indikation zur sofortigen Revisionsoperation, die am selben Tage erfolgte.
14Am 00.00.2015 (fünf Tage nach OP*) erfolgte nochmals ein MRT, in dem die vollständige Entfernung des Bandscheibenvorfalls bei kompletter Dekompression dokumentiert wurde. Es gelang auch im weiteren Verlauf keine Entfernung des Dauerkatheters aufgrund einer persistierenden Inkontinenz, so dass die Klägerin nach erneuter neurologischer Beurteilung und einem neurologischen Konsil in die Z.-Klinik zur Rehabilitationsbehandlung verlegt wurde.
15Unter dem 27.12.2016 beantragte die Klägerin bei der Gutachterkommission für Arzthaftpflichtfragen der Ärztekammer B. die Durchführung eines Schlichtungsverfahrens. Der von dort beauftragte Sachverständige E. stellte fest, dass ein Behandlungsfehler nicht vorliege.
16Mit einem am 11.06.2018 bei der Gutachterkommission eingegangenen Schreiben teilte die Klägerin mit, dass sie das Schlichtungsverfahren als gescheitert betrachte und nunmehr gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen müsse.
17Die Klägerin hat behauptet, die Aufnahmeuntersuchung sei unzureichend gewesen. Sie habe dem Arzt bei der Aufnahmeuntersuchung mitgeteilt, dass sie seit ca. 10 Stunden kein Wasser mehr habe lassen können und Taubheitsgefühle im Schambereich sowie im rechten Bein begonnen hätten, wobei die Schmerzen im Po-Bereich und im rechten Bein unerträglich würden. Bei der von ihr geschilderten Symptomatik sei nicht lediglich eine grobe orthopädische Eingangsuntersuchung mit anschließender stationärer Aufnahme und Empfehlung, drei Tage später eine weitergehende Diagnostik mittels MRT durchzuführen, geboten gewesen. Vielmehr hätte bereits aufgrund des bekannten Massenprolaps mit Nerveneinengung umgehend eine neurologische Abklärung erfolgen müssen. Der aufnehmende Assistenzarzt habe nicht untersucht, wohin die Schmerzausstrahlung ins Bein erfolgt sei, was aber erforderlich gewesen wäre, um zu ermitteln, welche Nervenwurzeln betroffen gewesen seien. Die Angabe von Taubheitsgefühlen im Genitalbereich sowie im rechten Bein, insbesondere verbunden mit der Schwierigkeit, Wasser zu lassen, habe es zwingend erfordert, die Sensibilität im Bereich der sog. Reithose zu untersuchen. Es sei zwingend geboten gewesen, zu überprüfen, ob sie spontan habe Wasser lassen können. Eine Bestimmung der Restharnmenge in der Blase mittels Ultraschalls sei angezeigt gewesen. Die mitgeteilte Symptomatik, insbesondere auch die unstreitig vorgelegte CT-Diagnostik eines Massenprolapses mit erheblicher Kompression des Duralsacks einschließlich der Nervenwurzel S1, hätten Indizien für ein mögliches Konus-Cauda-Syndrom dargestellt, die zwingend eine sofortige weitergehende fachärztliche Befunderhebung erfordert hätten. Auf diesem Wege hätte die Diagnose des Vorliegens eines Cauda-Syndroms bereits am 00.00.2015 (Aufnahmetag*) und nicht erst am 00.00.2015 (Folgetag der stationären Aufnahme/OP-Tag*) gestellt werden können. Die unzureichende Aufnahmeuntersuchung sei als schwerer Befunderhebungsfehler zu bewerten. Am 00.00.2015 (OP-Tag*) sei die Nervschädigung bereits eingetreten gewesen. Bei einer zeitgemäßen ordentlichen Befunderhebung mit Feststellung der Diagnose Cauda-Syndrom bereits am 00.00.2015 (Aufnahmetag*) und einer damit verbundenen frühzeitigen Operation hätten die bei ihr eingetretenen Folgen vermieden werden können.
18Zudem habe das Pflegepersonal, das in der Nacht des 00.00.2015 (Aufnahmetag*) für ihre Versorgung zuständig gewesen sei, keine Untersuchung durch einen Facharzt (insbesondere durch einen Neurologen) veranlasst, nachdem sie wiederholt auf ihre Unfähigkeit zum Wasserlassen hingewiesen habe. Ein bloßes Tasten durch eine Nachtschwester stelle keine hinreichende Befunderhebung dar. Spätestens als sich eine erhebliche Urinmenge in den Urinbeutel ergossen habe, nachdem ein Dauerkatheter gelegt worden sei, hätte das Pflegepersonal umgehend eine ärztliche Untersuchung veranlassen müssen, zumal bekannt gewesen sei, dass sie jedenfalls unter einem Bandscheibenvorfall gelitten habe.
19Ein Neurologe sei jedoch erst verspätet, am 00.00.2015 (vier Tage seit der stationären Aufnahme*), hinzugezogen worden und habe sofort ein Cauda-Syndrom diagnostiziert.
20Die Notoperation vom 00.00.2015 sei zu spät durchgeführt worden. Generell solle im Falle eines Cauda-Syndroms eine Dekompression spätestens innerhalb von 24 Stunden nach Symptombeginn durchgeführt werden, um die Chancen auf eine postoperativ intakte Blasenfunktion zu erhöhen. Sog. „red-flag-Symptome", die ein Cauda-Syndrom nahelegen und eine entsprechende sorgfältige Befunderhebung erfordern würden, seien insbesondere starke Rückenschmerzen, perineale/genitale Taubheit und Harnverhalten für mehr als 6 bis 8 Stunden. Diese Symptome hätten hier bereits bei Einlieferung in die Klinik der Beklagten vorgelegen und hätten insbesondere mit Blick auf die vorgelegten CT-Befunde eine zielgerichtete Untersuchung erfordert. Durch eine frühere Operation hätten die neurologischen Schädigungen, die nicht mehr vollständig reversibel seien, vermieden werden können.
21Seit der Behandlung in der Klinik der Beklagten leide sie unter Sensibilitätsstörungen und teilweiser Gefühllosigkeit im Genitalbereich und in den Beinen, Blasen- und Darmentleerungsstörungen (z.B. kein Gefühl für einen gefüllten Darm), einer Einschränkung der Sexualität aufgrund von Sensibilitätsstörungen, einer Kraftminderung in den Beinen, Füßen und im Unterbauch, einer Beckenbodenschwäche und einer durch Fuß- und Zehensenker-Paresen ausgelösten Gangstörung. Bei Entlassung aus dem Klinikum der Beklagten sei ihr Zustand noch deutlich schlechter gewesen. Das Gangbild habe sich durch tägliches Training und physiotherapeutische Anwendungen verbessert und sie könne wieder ausdauernder gehen. Außerdem sei die Taubheit in den Beinen und Füßen nicht mehr so stark ausgeprägt wie am Anfang. Sie leide dauerhaft unter einer Blasenfunktionsstörung bei Hypokontraktilität des Detrusormuskels der Blase, die intermittierenden Selbstkatheterismus der Blase 4-7mal am Tag erfordere. Zeitweilig sei es in den letzten drei Jahren zu Katheterisierungsproblemen und Blaseninfekten gekommen. Nach wie vor spüre sie nicht, wenn der Enddarm gefüllt sei, sie nehme das als „Blasendruck" wahr, sie habe keine volle Kontrolle über Darmwinde und weichen Stuhl.
22Sie ist der Ansicht gewesen, dass diese dauerhafte Einschränkung des Alltags trotz langwieriger aufwendiger therapeutischer Nachbehandlung ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 75.000,00 Euro rechtfertige.
23Die Klägerin hat außerdem behauptet, zur Wahrnehmung von Behandlungsterminen bei Ärzten und Physiotherapeuten, die allein durch die fehlerhafte Behandlung auf Seiten der Beklagten erforderlich geworden seien, habe sie Fahrtkosten in Höhe von 4.757,64 Euro aufwenden müssen. Sie habe ferner Zuzahlungen zu Behandlungen, Heil- und Hilfsmitteln in Höhe von 5.876,51 Euro leisten müssen. Darüber hinaus habe sie Einkommenseinbußen in Höhe von mindestens 57.203,21 Euro erlitten. Ferner sei ein Haushaltsführungsschaden entstanden, der mit mindestens 16.850,80 Euro zu beziffern sei.
24Sie ist der Ansicht gewesen, dass sich der Feststellungsantrag aus dem Umstand rechtfertige, dass sie sich weiterhin in ärztlicher und therapeutischer Betreuung befinde und derzeit nicht absehbar sei, welche weiteren Behandlungsmaßnahmen in Zukunft erforderlich würden. Außerdem sei von einem dauerhaften Haushaltsführungsschaden auszugehen.
25Die Beklagte hat behauptet, die Behandlung der Klägerin sei nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt.
26Die Befunderhebung am Aufnahmetage sei fachgerecht erfolgt. Zu dieser Zeit hätten Blasen- oder Mastdarmstörungen sowie ein Taubheitsgefühl im Bereich der Genitalregion nicht bestanden. Die stationäre Aufnahme der Klägerin am 00.00.2015 sei aufgrund einer bereits seit längerer Zeit persistierenden Lumboischialgie und bekanntem Bandscheibenvorfall im Segment L5/S1 erfolgt. Die CT-Untersuchung der Lendenwirbelsäule vom 00.00.2015 (am Aufnahmetag*) habe eine Verkalkung gezeigt, die auf einen älteren Prozess hingedeutet habe. Die Taubheit und die Fußsenkerparese im Bein hätten auf diesen Vorfall korreliert werden können. Zum Aufnahmezeitpunkt habe keine Inkontinenz vorgelegen, so dass auch nicht von einem akuten Cauda-Syndrom auszugehen gewesen sei.
27In der (ersten*) Nacht vom 00. auf den 00.00.2015 habe die Klägerin angegeben, das letzte Mal gegen 19:00 Uhr Wasser gelassen und wenig getrunken zu haben. Eine Schmerzsymptomatik, die durch einen großen Bandscheibenvorfall entstehe, könne algophob-bedingt durch Schmerzvermeidungsverhalten zu einer Blasenentleerungsstörung führen. In der Summe der Gesamtbefunde sei auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht von einer Cauda-Kompression auszugehen gewesen.
28Am 00.00.2015 (Folgetag der stationären Aufnahme*) sei der Sphinktertonus als nur gering vermindert eingestuft worden. Es habe insoweit lediglich der Verdacht eines Cauda-Syndroms bestanden. Die von der Klägerin jedoch erstmals angegebene progrediente Taubheit im Genitalbereich habe Anlass zur sofortigen notfallmäßigen Operation gegeben, die daraufhin auch zeitnah durchgeführt worden sei.
29Es lasse sich jedenfalls nicht feststellen, dass bei einer frühzeitigeren operativen Intervention die von der Klägerin beklagten Beeinträchtigungen ausgeblieben wären.
30Der Krankheitsverlauf nach der Entlassung aus der Klinik der Beklagten sowie die von der Klägerin behaupteten Beeinträchtigungen würden mit Nichtwissen bestritten.
31Jedenfalls seien die Ansprüche verjährt. Denn die Klägerin habe bereits im Jahre 2015 Kenntnis von den anspruchsbegründenden Umständen gehabt. Mit Stellung des Schlichtungsantrages vom 27.12.2016 sei die Verjährung gehemmt gewesen. Die Hemmung habe mit Schreiben der Klägerin vom 19.06.2018, in dem diese mitgeteilt habe, dass sie das Schlichtungsverfahren als gescheitert betrachte und nunmehr Klage erheben werde, geendet. Die Ansprüche seien damit im Juni 2020 verjährt gewesen. Die Klageschrift sei jedoch erst im August 2020 zugestellt worden.
32Das Landgericht hat die Klägerin persönlich angehört und Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen J. und dessen mündliche Erläuterung sowie Vernehmung des Zeugen V..
33Aufgrund der Beweisaufnahme hat das Landgericht die Klage abgewiesen.
34Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, dass die Klägerin den Nachweis eines Behandlungsfehlers nicht habe erbringen können.
35Im Einzelnen habe der Sachverständige Folgendes ausgeführt:
36Wenn zum Zeitpunkt der Aufnahme keine Hinweise für eine Blasenstörung vorgelegen hätten und diese auch nicht geäußert worden seien, so wäre an der durchgeführten Behandlung nichts auszusetzen: Es handele sich in diesem Falle um einen (recht großen) Bandscheibenvorfall ohne Hinweise eines Cauda-Syndroms. Es seien eine stationäre Aufnahme zur Schmerztherapie (da keine motorischen Ausfälle) durchgeführt und eine Kernspintomographie für den darauffolgenden Montag avisiert (da zur Bildgebung lediglich eine CT vorgelegen habe) sowie eine mögliche Operation für kommende Woche in Aussicht gestellt worden. Falls jedoch Hinweise für ein Cauda-Syndrom, insbondere bestehende Blasen-, Mastdarm- oder Sensibilitätsstörungen im Genitalbereich angegeben worden wären, wäre zwingend eine genauere weitere Untersuchung erforderlich gewesen. Diese hätte sicherlich auch die weiteren Symptome eines Cauda-Syndroms aufgedeckt.
37Eine prinzipielle Untersuchung der Symptome eines Cauda-Syndroms sei nicht bei jedem Bandscheibenvorfall erforderlich. Es müsse allerdings zumindest genau nach evtl. vorliegenden Blasen-/ Mastdarmstörungen gefragt werden. Wenn diese vorliegen, sei eine weitere Untersuchung in der Genital- und Perianalregion sowie des Analsphinkters erforderlich. Alleine aufgrund der Größe des Vorfalles („Massenprolaps") hätte an eine solche Symptomatik gedacht werden müssen. Andererseits sei aber auch festgehalten „keine Blasen-/ Mastdarmstörungen". Wenn dieser Eintrag korrekt sei (die Ausführlichkeit des Eintrages würde genügen, sofern die entsprechenden anamnestischen und klinischen Daten erhoben worden seien), so habe zum Aufnahmezeitpunkt kein Cauda-Syndrom vorgelegen und es seien keine weiteren Untersuchungen erforderlich gewesen. Wenn aber auch nur geringste Hinweise eines Cauda-Syndroms vorgelegen hätten (und dies wäre bei Äußerung einer Urininkontinenz oder Unfähigkeit, Wasser zu lassen, der Fall gewesen), hätten weitere Untersuchungen durchgeführt werden müssen, im Einzelnen eine Sensibilitätsuntersuchung der Genital- und Perianalregion sowie eine Überprüfung des Analsphinktertonus und ggf. eine Bestimmung der Restharnmenge. Ausweislich der Einträge hätten entsprechende Hinweise nicht vorgelegen. Eine neurologische Untersuchung sei zum Aufnahmezeitpunkt nicht erforderlich gewesen, da ein jeder Arzt in der orthopädischen, neurochirurgischen oder wirbelsäulenchirurgischen Abteilung ausreichende Kenntnisse besitze, um eine neurologische Grunduntersuchung durchzuführen.
38Der Sachverständige habe weiter ausgeführt, die „Reithose" sei eine Erweiterung der Gefühlsstörung um den Analbereich; sie umfasse Gefühlsstörungen im Analbereich und in der Rückseite der Oberschenkel. Das Gefühlsempfinden an der Rückseite der Oberschenkel müsse routinemäßig bei einer Untersuchung wegen Bandscheibenvorfällen erfolgen. Allerdings werde diese Region mit dem Eintrag „keine sensomotorischen Ausfälle" erfasst. Es bestehe hier erneut das Problem, dass gegen die globale Dokumentation „keine sensomotorischen Ausfälle" nichts einzuwenden sei, wenn denn tatsächlich alle erforderlichen Bereiche (also zumindest der Bereich der Leiste, der unteren Bauchwand sowie der gesamten Circumferenz der Ober-, Unterschenkel und Füße) untersucht worden seien. Diese Untersuchung hätte auch die sog. Reithose erfasst. Er halte bei einem ansonsten symptomarmen Bandscheibenvorfall ohne anamnestische Hinweise einer Blasen-Mastdarmstörung eine routinemäßige Untersuchung des Genital- und Perianalbereiches nicht für erforderlich.
39Der Sachverständige habe hinsichtlich des Geschehens in der Nacht ausgeführt, dass insbesondere umgehend eine fachärztliche, insbesondere neurologische, Untersuchung hätte erfolgen müssen. Eigentlich sei angesichts der Anlage eines Dauerkatheters mit Bestimmung der Urinmenge bereits der entscheidende Befund erhoben worden. Ein Fehler habe aber darin gelegen, dass zu diesem Zeitpunkt kein Arztkontakt erfolgt sei. Allerdings sei festzustellen, dass am darauffolgenden Morgen eine entsprechende Information, eine adäquate ärztliche Untersuchung und auch die korrekte Indikation zur Operation gestellt worden seien. Anhand der angegebenen Zeitkriterien hätte sich durch den erwähnten Fehler (Nichtinformation des Arztes über die Menge des Katheterurins) keine gravierende Konsequenz ergeben. Eine neurologische Untersuchung sei auch hier nicht erforderlich gewesen.
40Ferner sei eine neurologische Untersuchung zu keinem Zeitpunkt erforderlich gewesen. Zur Reaktion auf die Beschwerden müsse man sich ausschließlich auf die Blasenentleerungsstörung fokussieren. In der Nacht sei in jedem Fall auf die Beschwerden adäquat reagiert worden.
41Aufgrund der geltenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und sogar der geltenden Leitlinien könne, so der Sachverständige, kein Behandlungsfehler unterstellt werden, wenn die Operation innerhalb von 48 Stunden nach Eintritt der Symptome durchgeführt werde. Insofern wäre also ein Behandlungsfehler zu verneinen, selbst wenn bei Aufnahme am 00.00.2015 bereits ein Cauda-Syndrom vorgelegen hätte. Dies gelte umso mehr, wenn man unterstellte, dass das Cauda-Syndrom erst in der Nacht vom 00.00. bis zum 00.00.2015 eingetreten sei. Wie oben erwähnt, würde er dennoch einen Behandlungsfehler erkennen, wenn Zeichen eines Cauda-Syndroms bereits am 00.00.2015 vorgelegen hätten oder geäußert worden wären. Es hätten dann eben weitere Untersuchungen stattfinden müssen, die möglicherweise das Cauda-Syndrom bestätigt hätten. Zwar wäre auch dann nach vorliegenden wissenschaftlichen Daten eine Operation am Folgetag ausreichend gewesen, es hätten aber zumindest engere Kontrollen erfolgen müssen, ob sich das (dann zu unterstellende) inkomplette Cauda-Syndrom nicht komplettiere. Die sicherste Methode, einer derartigen Komplettierung vorzubeugen, wäre eben doch die Operation am gleichen Tag gewesen, deren Unterlassung in diesem Fall somit als fehlerhaft anzusehen sei.
42Die Kammer schließe sich den überzeugenden und plausibel dargestellten Ausführungen des Sachverständigen J., an dessen Sachkunde nicht zu zweifeln sei, an.
43Dabei könne letztlich dahinstehen, ob die Klägerin bereits bei Einlieferung an einer Blasenfunktionsstörung gelitten habe und damit nach dem Sachverständigen bereits zu dem Zeitpunkt ein Cauda-Syndrom hätte diagnostiziert und eine entsprechende Operation nach dem Grundsatz, „dass unter einem Cauda-Syndrom die Sonne nicht untergehen darf“ hätte eingeleitet werden müssen. Denn der Sachverständige habe weiter ausgeführt, dass auch in diesem Fall die Operation am Folgetag innerhalb der Leitlinien gewesen wäre. Denn diese „erlaubten“ eine Operation eines Cauda-Syndroms innerhalb von 48 Stunden nach Auftreten der Symptome.
44Wenn sich nun aber die Beklagte innerhalb der Leitlinien bewege, dürfe dies bereits keinen Behandlungsfehler darstellen, jedenfalls könne die Kammer darin keinen groben Behandlungsfehler erkennen.
45Selbst wenn man deshalb zugunsten der Klägerin ein Cauda-Syndrom bereits am 00.00.2015 unterstellte und wegen der zunächst unterbliebenen Operation einen (einfachen) Behandlungsfehler annehmen wollte, so habe der Sachverständige jedenfalls nicht zur Überzeugung der Kammer ausführen können, dass dann die von der Klägerin vorgetragenen Beschwerden bei fachgerechter Behandlung verhindert worden wären. Mangels groben Behandlungsfehlers wäre aber dafür vorliegend die Klägerin darlegungs- und beweisbelastet gewesen. Diesen Beweis aber habe sie angesichts der Feststellungen des Sachverständigen, dass auch bei sofortiger Operation bei etwa 20 - 30% der Patienten die Beschwerden verblieben, nicht geführt.
46Das Geschehen in der Nacht, insbesondere das Erfordernis, der Klägerin einen Katheter zu legen, hätte aus Sicht des Sachverständigen zwar einen Arztkontakt gefordert. Er sehe in der Folge aber keinen darauf beruhenden Behandlungsfehler und letztlich auch keinen Schaden der Klägerin. Das Geschehen in der Nacht sei mit hoher Wahrscheinlichkeit Zeichen eines Cauda-Syndroms, das dann in der Klinik der Beklagten diagnostiziert und zum Anlass genommen worden sei, eine Operation „am gleichen Tage“ durchzuführen. Er halte selbst unter der Annahme, dass das Cauda-Syndrom nunmehr jedenfalls in der Nacht auf den 00.00.2015 hätte diagnostiziert werden müssen, den Zeitpunkt der Operation nicht für fehlerhaft. Im Übrigen sei auch nicht anzunehmen, dass eine Operation – ihre Durchführung etwa 4 Stunden vorher unterstellt – zu einem besseren Ergebnis für die Klägerin hätte führen können.
47Im Ergebnis habe die Klage somit selbst dann keinen Erfolg, wenn die Kammer entgegen der in sich stimmigen Dokumentation der Beklagten zugunsten der Klägerin das Vorliegen eines Cauda-Syndroms bereits am 00.00.2015 unterstelle.
48Die nach den insoweit strengen Maßstäben des Sachverständigen dann anzunehmende Pflichtverletzung der Beklagten könne angesichts der doch noch durchgeführten Operation in dem zeitlichen Rahmen, den die Leitlinien erlaube, nicht als grober und unverständlicher Fehler angesehen werden. Der deshalb von der Klägerin zu führende Beweis, dass gerade das Unterlassen einer Operation am 00.00.2015 ihre derzeitigen Beschwerden verursacht habe, sei angesichts der hohen Rate von verbleibenden Beschwerden auch bei sofortiger Operation nicht erfolgt. Im weiteren Verlauf sehe dann selbst der strenge Sachverständige J. keinen Behandlungsfehler mehr. Ein unterlassener Arztkontakt in der Nacht auf den 00.00.2015 sei durch die am Morgen folgende Diagnose und spätere Operation ohne darauf beruhende Folgen für die Klägerin rechtzeitig "korrigiert" worden.
49Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, die ihre erstinstanzlichen Anträge weiter verfolgt.
50Das Landgericht habe die Bedeutung von Leitlinien grob verkannt. Die Einhaltung einer Leitlinie wirke nicht automatisch haftungsbefreiend bzw. exkulpierend. Ein Arzt könne aufgrund einer besonderen Gefährdungslage verpflichtet sein, zur Sicherheit des Patienten über die Vorgaben einer Leitlinie hinauszugehen. Maßgeblich sei immer der Einzelfall.
51Der Sachverständige J. habe zur Frage des ratsamen Operationszeitpunktes eines Cauda equina-Syndroms (CES) klar Stellung bezogen. Er habe zwar auf eine derzeit gültige Leitlinie zum CES bzw. zu Bandscheibenvorfällen mit radikulärer Symptomatik verwiesen, aber auch auf deren wenig belastbare Fundierung durch Literatur und damit auf ihre schwache Aussagekraft. Er habe sich wiederholt von den Leitlinieninhalten distanziert und klargestellt, dass dann, wenn bei der Klägerin bereits bei Aufnahme in der Klinik der Beklagten am 00.00.2015 ein CES vorgelegen habe, die Operation am selben Tag hätte erfolgen müssen und zwar ungeachtet aller wissenschaftlicher Erkenntnisse, auf denen die Leitlinien beruhten. Er habe aus dieser Leitlinie allenfalls ein 24-Stunden-Zeitintervall zwischen Symptombeginn und Operation als akzeptabel angesehen und dies deutlich bekundet.
52Diese gutachterliche Kernaussage habe das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung nicht berücksichtigt. Das Landgericht habe sich über die Feststellung des Sachverständigen, dass „…jedenfalls eine Grenze von 24 Stunden nach Auftreten der Symptome…“ eingehalten werden müsse, hinweggesetzt, in dem es ohne nähere Begründung eine Ausweitung des vertretbaren Zeitintervalls bis zur Notfall-OP auf 48 Stunden zugunsten der Beklagten vorgenommen habe. Dadurch sei das Landgericht zu dem unzutreffenden, dem Gutachten widersprechenden Schluss gekommen, es sei unerheblich, ob bereits bei Aufnahme der Klägerin Anzeichen für ein CES bestanden hätten.
53Im Einklang damit habe es das Landgericht versäumt, Beweis darüber zu erheben, ob bei Aufnahme der Klägerin bereits ein CES vorgelegen habe und entsprechende Symptome unberücksichtigt geblieben seien. Der als Zeuge vernommene Ehemann der Klägerin habe deren Angaben klar bestätigt, dass sie im Rahmen der Aufnahmeuntersuchung auf ihr Harnverhalten hingewiesen habe. Die Klägerin habe erklärt, sie habe seit dem Morgen nicht mehr Wasserlassen können. Der Eintrag in der Krankenakte, dass keine Blasen- oder Mastdarmstörungen bestünden, sei falsch. Dies ergebe sich auch aus der Urinmenge von 1.350 ml, die binnen kurzer Zeit überwiegend über den der Klägerin in der Nacht auf ihr Drängen hin gelegten Katheter herausgelaufen sei. Die Harnmenge beweise, dass die Klägerin den ganzen 00.00.2015 eine Blasenlähmung gehabt haben müsse.
54Der Sachverständige J. habe klargestellt, dass bei geringstem Hinweis auf ein Cauda-Syndrom, wie zum Beispiel der Unfähigkeit Wasser zu lassen, weitere Untersuchungen hätten durchgeführt werden müssen.
55Sollten bereits bei der Aufnahme Symptome eines Cauda-Syndroms vorgelegen haben, habe der Sachverständige es für fehlerhaft gehalten, wenn die Operation erst am 00.00.2015 durchgeführt worden ist. Es gelte der Satz „so schnell wie möglich“ und „Sicherheit zuerst“.
56Der Sachverständige habe deutlich gemacht, dass jedenfalls eine Grenze von 24 Stunden nach Auftreten der Symptome bestehe.
57Zwar habe der Sachverständige angegeben, bei etwa 20-30 % der Patienten verblieben Beschwerden. Damit habe er aber auch festgestellt, dass bei 70-80 % aller Patienten Dauerfolgen vermieden werden könnten, wenn sie umgehend operiert würden. Daraus lasse sich nur der Schluss ziehen, dass die Klägerin mit einer 70-80 %-igen Wahrscheinlichkeit nicht unter den schweren Folgeschäden leiden würde, wenn sie unverzüglich auf das Vorliegen eines CES hin untersucht und noch am Aufnahmetag operiert worden wäre.
58Die Klägerin beantragt,
59unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Bielefeld vom 17.10.2023, 4 O 171/20,
601. die Beklagte zu verurteilen, an sie ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, nicht unter 75.000,00 Euro, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,
612. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin jeden materiellen und nicht absehbaren immateriellen Schaden aus der fehlerhaften Befundaufnahme bzw. Behandlung im Hause der Beklagten in der Zeit vom 00.00. bis 00.00.2015 zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
62Die Beklagte beantragt,
63die Berufung zurückzuweisen.
64Die Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung.
65Die Klägerin habe nicht bewiesen, dass Anzeichen eines Cauda-Syndroms bereits am 00.00.2015 vorgelegen hätten. Die in sich stimmige Dokumentation habe dieser Annahme entgegengestanden. Der gegenbeweislich benannte Zeuge P. sei deshalb nicht zu vernehmen gewesen.
66Der Sachverständige habe in seiner mündlichen Anhörung das Zeitfenster von 48 Stunden noch einmal bestätigt und darauf hingewiesen, dass in der Literatur Uneinigkeit hinsichtlich des Zeitfenster bestehe. Diese Uneinigkeit habe Eingang in die gültigen Leitlinien gefunden. Der Sachverständige habe daran anknüpfend festgestellt, dass kein Verstoß gegen den (kontrovers diskutierten) medizinischen Standard unter Zugrundelegung der wissenschaftlichen Literatur und den Leitlinien anzunehmen sei. Das Landgericht habe durch Befragung des Sachverständigen geklärt, dass die Leitlinie im Einklang stehe mit der wissenschaftlichen Literatur.
67Es bleibe bestritten, dass die Klägerin bei der Aufnahmeuntersuchung erklärt habe, sie hätte seit dem Morgen des 00.00.2015 nicht mehr Wasserlassen können. Eine Rückrechnung der Harnmenge sei so nicht möglich.
68Auf jeden Fall sei der Beweis des haftungsbegründenden Kausalzusammenhangs nicht geführt.
69Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und die erstinstanzlich gestellten Anträge wird auf die angefochtene Entscheidung und die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
70Der Senat hat die Klägerin (ergänzend) persönlich angehört und (ergänzend) Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen V. und P. sowie ergänzende Anhörung des Sachverständigen J., der sein erstinstanzlich erstattetes Gutachten mündlich erläutert und ergänzt hat. Wegen der Einzelheiten der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 23.07.2024 sowie den Berichterstattervermerk vom selben Tag verwiesen.
II.71Die zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.
721.
73Der Klägerin stehen gegen die Beklagte vertragliche Ansprüche aus dem Behandlungsvertrag gemäß §§ 630a, 280 Abs. 1, 278, 249, 253 Abs. 2 BGB und deliktische Ansprüche gemäß §§ 823 Abs. 1, 831, 249, 253 Abs. 2 BGB zu.
74a)
75Die erneute Beweisaufnahme vor dem Senat hat dazu geführt, dass die Klägerin den ihr obliegenden Beweis dafür erbracht hat, durch die Behandler der Beklagten während ihres stationären Aufenthalts im Zeitraum 00.00.2015 bis 00.00.2015 fehlerhaft behandelt worden zu sein.
76Der Senat stützt sich insoweit nach eigener kritischer Prüfung auf die erstinstanzliche, die Tatsachen vollumfänglich ausschöpfende Begutachtung durch den Sachverständigen J. und seine ergänzenden Ausführungen bei seiner Anhörung vor dem Senat. Als Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie ist der Sachverständige befähigt, das fragliche Geschehen sicher zu bewerten. Er hat sich bereits erstinstanzlich dezidiert mit den vorhandenen Krankenunterlagen und dem zu begutachtenden Sachverhalt auseinandergesetzt und auch im Rahmen seiner Anhörung vor dem Senat seine Feststellungen und fachlichen Beurteilungen unter Berücksichtigung sämtlicher Befunde und der einschlägigen Literatur überzeugend vertreten.
77Eine Behandlung ist dann als behandlungsfehlerhaft zu qualifizieren, wenn sie dem im Zeitpunkt der Behandlung bestehenden medizinischen Standard zuwiderlief. Der Standard gibt Auskunft darüber, welches Verhalten von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs im Zeitpunkt der Behandlung vorausgesetzt und erwartet werden kann. Er repräsentiert den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat (vgl. BGH, Urteil vom 24.01.2015, VI ZR 2016/13, zit. nach juris Rn. 8; Urteil vom 15.04.2014, VI ZR 382/12, zit. nach juris Rn. 11).
78Nach ergänzender Beweisaufnahme durch den Senat steht zunächst fest, dass die Klägerin gegenüber dem aufnehmenden Arzt, dem Zeugen P., bei der Aufnahmeuntersuchung am 00.00.2015 gegen 16:00 Uhr Blasenstörungen angegeben hat.
79Zwar findet sich in der Dokumentation zu der Aufnahmeuntersuchung der Befund, dass „keine Blasen- oder Mastdarmstörungen“ vorliegen (Bl. 35 d.A.I).
80Jedoch steht aufgrund der persönlichen Anhörung der Klägerin und der Vernehmung der Zeugen V. und P. zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin gegenüber dem Zeugen P. im Rahmen der Aufnahmeuntersuchung geäußert hat, dass sie auf die Toilette müsse, um Urin abzusetzen, aber nicht könne.
81Hierbei hat der Senat auch berücksichtigt, dass die Rechtsprechung einer ordnungsgemäßen, zeitnah erstellten Dokumentation in Papierform, die keinen Anhalt für Veränderungen, Verfälschungen oder Widersprüchlichkeiten bietet, zugunsten der Behandlungsseite Indizwirkung beimisst, die im Rahmen der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO zu berücksichtigen ist. Eine in diesem Sinne vertrauenswürdige Dokumentation kann dem Tatrichter die Überzeugung davon vermitteln, dass die dokumentierten Maßnahmen tatsächlich getroffen worden sind. Ihr darf der Tatrichter im Rahmen der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO grundsätzlich Glauben schenken (BGH, Urteil vom 05.12.2023, VI ZR 108/21, zit. nach juris Rn. 17 m.w.N.).
82Dagegen kommt einer elektronisch erstellten Dokumentation, die nachträgliche Änderungen entgegen § 630f Abs. 1 S. 2+3 BGB nicht erkennbar macht, seit dem Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes keine positive Indizwirkung mehr dahingehend zu, dass die dokumentierten Maßnahmen von dem Behandelnden tatsächlich vorgenommen wurden. Dies gilt auch dann, wenn der Patient keine greifbaren Anhaltspunkte dafür darlegt, dass die Dokumentation nachträglich zu seinen Lasten geändert worden ist (BGH, Urteil vom 27.04.2021, VI ZR 84/19, zit. nach juris Rn. 28 f.).
83Dies bedeutet aber nicht, dass eine solche Dokumentation bei der Beweiswürdigung vollständig unberücksichtigt zu bleiben hat. Sie bildet vielmehr einen tatsächlichen Umstand, den der Tatrichter bei seiner Überzeugungsbildung unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der Beweisaufnahme einer umfassenden und sorgfältigen, angesichts der fehlenden Veränderungssicherheit aber auch kritischen Würdigung im Sinne des § 286 ZPO zu unterziehen hat (BGH, Urteil vom 27.04.2021, VI ZR 84/19, zit. nach juirs Rn. 30).
84Es konnte insofern dahinstehen, ob der Aufnahmebefund noch in Papierform Teil der Dokumentation wurde oder die Patientenkartei bereits digital geführt wurde und hierbei nachträgliche Änderungen erkennbar waren oder nicht.
85Denn selbst eine positive Indizwirkung war hier aufgrund der äußerst überzeugenden Angaben der Klägerin und Bekundungen des Zeugen V. widerlegt.
86Die Klägerin hat zweifelsfrei angegeben, dass sie gegenüber dem Zeugen P. geäußert habe, dass sie auf die Toilette müsse, aber nicht könne.
87Dies hat der Zeuge V., der bei der Aufnahmeuntersuchung anwesende Ehemann der Klägerin, bestätigt.
88Die Angaben sind deshalb besonders glaubhaft, weil sowohl die Klägerin als auch der Zeuge ihre Aussagen dahingehend detailreich ergänzt haben, dass der Zeuge P. geantwortet habe, dass dies ungewöhnlich sei und vielmehr zu erwarten gewesen sei, dass die Klägerin kein Wasser halten könne.
89Darüber hinaus haben sowohl die Klägerin als auch der Zeuge V. den weiteren Verlauf der Untersuchung inhaltsgleich und in Übereinstimmung mit der Dokumentation geschildert.
90Dass die Klägerin ihre Probleme, Urin abzusetzen, geschildert hat, ist auch deshalb nachvollziehbar, als diese zunächst nach der CT-Untersuchung vom Vormittag nach Hause gefahren ist und sich nicht unmittelbar ins Krankenhaus begeben hat. Anlass, sogar den Rettungswagen zu rufen, waren dann die Probleme beim Urinlassen. Denn der Radiologe hat die Klägerin nachdrücklich darauf hingewiesen, sich bei Problemen mit der Blase umgehend ins Krankenhaus zu begeben. Diesen Rat hat der Sachverständige J. für nachvollziehbar erachtet. Nur aufgrund der Blasenstörung hat die Klägerin sodann den Notruf gewählt und sich ins Krankenhaus begeben, nachdem sie dies zunächst – in Einklang mit ihren Ärzten – trotz Kenntnis von einem Massenprolaps nicht für erforderlich erachtet hat. Es ist deshalb wenig nachvollziehbar, dass sie diesen Umstand, der Anlass für die Einlieferung war, dann dem aufnehmenden Arzt nicht mitgeteilt hat.
91Der Zeuge P. hatte dagegen keine konkrete Erinnerung mehr, ob die Klägerin geäußert hat, sie könne kein Wasser lassen.
92Er konnte lediglich schildern, dass er eine entsprechende Eintragung in der Dokumentation aufgrund der Angaben der Patienten vornehme. Hier habe er die Dokumentation erst im Nachhinein erstellen können, da die Aufnahmeuntersuchung im Patientenzimmer stattgefunden habe.
93Der Sachverständige J. hat indes vor dem Senat – wie auch bereits erstinstanzlich – unmissverständlich ausgeführt, dass bei einer Äußerung der Klägerin von Blasenstörungen gegenüber dem Zeugen P. – wie sie nunmehr feststeht – es zwingend dem Facharztstandard entsprochen hätte, weitere Untersuchungen durchzuführen, nämlich eine Sensibilitätsuntersuchung der Genital- und Analregion sowie der Oberschenkel und eine Restharnmengenbestimmung.
94Diese Untersuchungen hat der Zeuge P. unstreitig nicht durchgeführt. Ergänzend hat der Sachverständige J. bereits erstinstanzlich festgestellt, dass die Untersuchungen sicherlich weitere Symptome eines Cauda-Syndroms aufgedeckt hätten.
95Die Unterlassung einer derartigen Untersuchung bei Vorliegen anamnestischer Hinweise wertet der Senat in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen als Behandlungsfehler.
96In der Folge steht es nach Durchführung der Beweisaufnahme weiter für den Senat fest, dass es behandlungsfehlerhaft ist, dass die Klägerin trotz Vorliegen des Cauda-Syndroms nicht bereits am 00.00.2015, sondern erst am 00.00.2015 gegen 17:05 Uhr operiert wurde.
97Zwar hat der Sachverständige J. in seinem schriftlichen Gutachten dargelegt, dass bis heute in der Literatur eine Unstimmigkeit über den erforderlichen Operationszeitpunkt bestehe. In allen bis dato vorliegenden wissenschaftlichen Arbeiten herrsche lediglich Einigkeit darüber, dass bei einer Operation von später als 48 Stunden nach Eintritt der Symptomatik signifikant schlechtere Ergebnisse entstünden. In der Bewertung des Operationszeitpunkts bis zu 48 Stunden kämen hingegen die Untersucher zu unterschiedlichen Ergebnissen.
98Entsprechend fände sich auch in den bis dato gültigen Leitlinien zur Behandlung von Bandscheibenvorfällen mit radikulärer Symptomatik lediglich eine OP-Empfehlung unter 48 Stunden.
99Insofern weist jedoch die Berufungsbegründung zu Recht darauf hin, dass die Einhaltung einer Leitlinie nicht zwingend dazu führt, dass ein Behandler nicht haftet, weil ein Behandlungsfehler nicht festgestellt werden kann.
100Denn Handlungsanweisungen in Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände dürfen nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden (BGH, Urteil vom 15.04.2014, VI ZR 382/12, zit. nach juris Rn. 17; Beschluss vom 28.03.2008, VI ZR 57/07, zit. nach juris Rn. 4).
101Der Sachverständige J. hat aber mehrfach äußerst überzeugend betont, dass in allen Kliniken nach dem Grundsatz gehandelt werde, dass unter einem Cauda-Syndrom die Sonne nicht untergehen dürfe. Man warte in der Praxis nicht ab, sondern rate sofort zur Operation. Jeder Behandler denke „je schneller, desto besser“.
102Auf konkrete Frage des Senats hat der Sachverständige eindeutig geantwortet, dass es deshalb dem allgemeinen Standard der Kliniken entspreche, noch am gleichen Tag zu operieren. Hierbei hat er auch auf die immensen dauerhaften Risiken verwiesen, die für den Patienten drohen, wenn ein Cauda-Syndrom verspätet behandelt wird. Dem schließt sich der Senat nach eigener kritischer Würdigung an.
103b)
104Der Behandlungsfehler ist für die von der Klägerin erlittenen Beeinträchtigungen, nämlich insbesondere eine dauerhafte Blasenfunktionsstörung und Darmentleerungsstörung sowie dauerhafte Sensibilitätsstörungen im Genitalbereich schadensursächlich.
105Denn nach § 630h Abs. 5 S. 1 BGB wird vermutet, dass der Behandlungsfehler für eine Verletzung ursächlich ist, wenn ein grober Behandlungsfehler vorliegt und dieser grundsätzlich geeignet ist, eine solche Verletzung des Körpers oder der Gesundheit der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen.
106Ein solcher grobe Behandlungsfehler liegt hier vor.
107Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Behandlungsfehler dann als grob zu bewerten, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (BGH, Urteil vom 24.05.2022, VI ZR 206/21, zit. nach juris Rn. 11; Urteil vom 25.10.2011, VI ZR 139/10, zit. nach NJW 2012, 227, 228; Urteil vom 20.09.2011, VI ZR 55/09, zit. nach juris Rn. 10; Urteil vom 25.10.2011, VI ZR 139/10, zit. nach juris Rn. 8; Urteil vom 27.03.2007, VI ZR 55/05, zit. nach juris Rn. 25; Urteil vom 09.01.2007, VI ZR 59/06, zit. nach NJW-RR 2007, 744, 744, jeweils m.w.N.).
108Der Sachverständige hat anschaulich beschrieben, dass es für einen seiner Oberärzte, der bei bestehendem Cauda-Syndrom nicht am gleichen Tag operiert hätte, ernsthafte Konsequenzen gehabt hätte. Einen Kandidaten in einer Facharztprüfung würde er lediglich aus juristischen Gründen nicht durchfallen lassen, wenn er angeben würde, bei einem Cauda-Syndrom erst am nächsten Tag zu operieren.
109Der Sachverständige verwies hierbei nachdrücklich auf die ernsthaften Risiken, die ein Arzt einen Patienten aussetzen würde, wenn er lediglich verzögert am nächsten Tag eine Operation vornimmt.
110Vor allem auch aufgrund dieser ernsthaften dauerhaften Risiken erachtet der Senat die Nichtvornahme der Operation am 00.00.2015 nach der obigen Definition und vor dem Hintergrund der Ausführungen des Sachverständigen für grob fehlerhaft.
111In die Annahme eines groben Behandlungsfehlers ist ferner eingeflossen, dass sich die Grobheit auch aus einer Gesamtschau ergeben kann. Denn bei der Frage, ob eine grobe Fehlerhaftigkeit anzunehmen ist, hat eine Gesamtbetrachtung der Umstände zu erfolgen (BGH, Urteil vom 08.03.1988, VI ZR 201/87, zit. nach juris Rn. 17; OLG Hamm, Urteil vom 16.05.2014, 26 U 178/12, zit. nach juris Rn. 42; OLG Celle, Urteil vom 07.05.2001, 1 U 15/00, zit. nach juris Rn. 25).
112Hier war deshalb zu berücksichtigen, dass es auch im Nachhinein an die Aufnahmeuntersuchungen zu diversen Versäumnissen gekommen ist. So wurde um 22.00 Uhr, obwohl durch das Pflegepersonal Probleme beim Wasserlassen vermerkt wurden, kein Arzt informiert. Der Sachverständige hat hierzu überzeugend festgestellt, dass sich bei Hinzuziehung eines Arztes mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein Cauda-Syndrom bestätigt hätte. Er hätte die Klägerin dann sofort, also noch am gleichen Tag operiert.
113Ebenso wurde am 00.00.2015 um 03.30 Uhr kein Arzt verständigt, obwohl der Klägerin auf ihren Wunsch ein Dauerkatheter gelegt wurde, woraufhin mindestens 1.000 ml Urin abgelassen wurden, nachdem lediglich die Fähigkeit von 150ml Spontanurin vermerkt wurde.
114Die verzögert vorgenommene Operation erst am 00.00.2015 war auch grundsätzlich geeignet, die Beeinträchtigungen der Klägerin herbeizuführen.
115Für die allgemeine Eignung genügt es, dass nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass der Arztfehler als Ursache für den Gesundheitsschaden infrage kommt. Nur wenn ein kausaler Zusammenhang zwischen Behandlungsfehler und Schaden gänzlich unwahrscheinlich ist, ist eine Umkehr der Beweislast ausgeschlossen (BGH, Urteil vom 29.09.2009, VI ZR 251/08, zit. nach NJW-RR 2010, 833, 834 m.w.N.; OLG Saarbrücken Urteil vom 21.07.1999, 1 U 926/98, zit. nach VersR 2000, 1241; OLG Jena, Urteil vom 19.12.2007, 4 U 171/06, zit. nach juris Rn. 46).
116Der Kausalzusammenhang ist hier nicht gänzlich unwahrscheinlich.
117Denn der Sachverständige hat überzeugend erläutert, dass eine ernsthafte Chance bestanden hätte, dass die Klägerin bei einer Operation noch am 00.00.2015 beschwerdefrei geblieben wäre. Die Wahrscheinlichkeit hierfür liege nicht bei unter 1 % oder unter 5 %, auch wenn ein genauer Prozentsatz nicht genannt werden könne.
118Die Beklagte konnte die Vermutungswirkung des § 630h Abs. 5 S. 1 BGB nicht widerlegen. Auch insofern kann auf die obigen Ausführungen des Sachverständigen verwiesen werden.
119aa)
120Der Senat erachtet gemäß § 253 Abs. 2 BGB ein Schmerzensgeld in Höhe von 75.000,00 Euro für angemessen.
121Das Schmerzensgeld weist eine Doppelfunktion auf. Es soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich für die Schäden bieten, die nicht vermögensrechtlicher Art sind. Zugleich soll dem Gedanken Rechnung getragen werden, dass der Schädiger dem Geschädigten Genugtuung dafür schuldet, was er ihm angetan hat, wobei der Genugtuungsfunktion im Arzthaftungsrecht nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt (OLG Hamm, Urteil vom 16.12.2020, 3 U 60/20, zit. nach juris Rn. 59).
122Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sind die Schwere der Verletzungen, das dadurch bedingte Leiden, dessen Dauer, das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des Verschuldens des Schädigers in Betracht zu ziehen, wobei der Grad des Verschuldens in Arzthaftungssachen regelmäßig nicht entscheidend ins Gewicht fällt (OLG Hamm, Urteil vom 20.12.2022, 26 U 15/22, zit. nach juris Rn. 155; Urteil vom 16.12.2014, 26 U 81/14, zit. nach juris Rn. 34).
123In erster Linie sind die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung zu berücksichtigen (OLG Hamm, Urteil vom 16.12.2020, 3 U 60/20, zit. nach juris Rn. 58).
124Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze erscheint ein Schmerzensgeld in der ausgeurteilten Höhe für die Klägerin angemessen, aber auch ausreichend.
125Der Senat hat die Klägerin gemäß § 141 ZPO persönlich zu ihren Beschwerden angehört hat und die vorgelegten Krankenunterlagen gewürdigt. Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes war insbesondere zu berücksichtigen, dass die Klägerin unter einer Blasenfunktionsstörung leidet, welche eine Selbstkatheterisierung 4-7 Mal am Tag erfordert. In die Abwägung ist auch eingeflossen, dass sie darüber hinaus eine Darmentleerungsstörung aufweist, so dass sie keine volle Kontrolle über Darmwinde und weichen Stuhl hat. Sie leidet ferner unter Sensibilitätsstörungen im Genitalbereich, was auch zu Einschränkungen in der Sexualität führt.
126Unter Berücksichtigung des zum Zeitpunkt der Behandlung mittleren Alters der Klägerin (47 Jahre), erachtet der Senat ein Schmerzensgeld in Höhe von 75.000 Euro der Höhe nach für angemessen aber auch für erforderlich, um der Klägerin einen finanziellen Ausgleich zu verschaffen für die Beeinträchtigungen.
127bb)
128Der Feststellungsantrag ist begründet. Auf der Grundlage des Vorgenannten ist die Einstandspflicht der Beklagten für materielle und für zukünftige derzeit noch nicht vorhersehbare immaterielle Schäden wegen der fehlerhaften Behandlung in der Zeit vom 00.00.2015 bis zum 00.00.2015 in Form der erst verzögert vorgenommenen Operation am 00.00.2015 um 17:00 Uhr und nicht bereits am 00.00.2015, festzustellen. Hierbei war es auch zulässig, dass die Klägerin die zunächst beziffert geltend gemachten materiellen Schäden in der mündlichen Verhandlung in den Feststellungsantrag einbezogen hat. Die umfassende Feststellungklage ist zulässig. Es bedurfte für bereits teilweise bezifferbare materielle Schäden keiner Leistungsklage, denn die Schadenshöhe steht noch nicht abschließend fest. Die zukünftige Schadenseinwicklung ist insgesamt nicht absehbar, § 256 ZPO.
1292.
130Der Anspruch der Klägerin auf Zahlung von Schmerzensgeld ist gemäß §§ 291, 288 Abs. 1 S. 2 BGB ab dem 20.08.2020, dem Tag nach Zustellung der Klageschrift, zu verzinsen.
III.131Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 Abs. 1 ZPO.
132Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr.10, 711 ZPO.
133Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und auch keine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert.
134* Anmerkung der Redaktion