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Zur – hier noch offen gelassenen – Frage der Zulässigkeit der Übernahme der Protokollführung über die Beweisaufnahme, konkret die Protokollierung des mündlichen Gutachtens durch den Sachverständigen selbst (siehe die Unzulässigkeit bejahend OLG Hamm, Urteil vom 29.12.2023 – 7 U 73/23, r+s 2024, 425).
Muss ein Fahrzeugführer auf einer zweispurigen Autobahn auf Grund einer Einengungstafel von der linken auf die rechte Spur wechseln, muss er nach § 7 Abs. 5 StVO trotz nach § 7 Abs. 4 StVO geltenden Reißverschlussverfahrens eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer in der rechten Spur ausschließen (in Fortschreibung zu BGH, Urteil vom 08.03.2022 – VI ZR 1308/20, r+s 2022, 343 Rn. 14).
Der nachfolgende Fahrzeugführer auf der rechten Spur muss sich zugleich im Einzelfall – wie hier – bei hinreichender Erkennbarkeit des anstehenden Spurwechsel Verstöße gegen § 7 Abs. 4 StVO, § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO und gegen § 1 Abs. 2 StVO entgegenhalten lassen (im Anschluss an OLG Saarbrücken, Urteil vom 01.08.2019 – 4 U 18/19, NJW-RR 2019, 1436 = juris Rn. 42; OLG München, Urteil vom 21.04.2017 – 10 U 4565/16, r+s 2017, 657 = juris Rn.19; OLG Düsseldorf, Urteil vom 22.07.2014 – I-1 U 152/13, BeckRS 2014, 21934 = juris Rn.38; KG, Beschluss vom 19.10.2009 – 12 U 227/08, NJW-RR 2010, 1113 = juris Rn.10), die – wie hier – eine Haftungsteilung rechtfertigen können.
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 18.07.2022 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 2. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld (2 O 83/21) unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung wie folgt abgeändert:
Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin 3.525,53 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hinsichtlich der Beklagten zu 1) seit dem 05.08.2021 und hinsichtlich des Beklagten zu 2) seit dem 06.08.2021 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 58 % und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 42 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe:
2A.
3Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 Satz 1, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO abgesehen.
4B.
5Die zulässige Berufung der Klägerin ist im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
6I.
7Der Klägerin steht gegen die Beklagten als Gesamtschuldner ein Anspruch auf Ersatz ihres unfallbedingten Schadens nach einer hälftigen Haftungsquote in Höhe von 3.525,53 EUR aus § 7 Abs. 1 StVG, hinsichtlich des Beklagten zu 2) auch in Verbindung mit § 18 Abs. 1 StVG und hinsichtlich der Beklagten zu 1) in Verbindung mit § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG, § 1 Satz 1 PflVG zu.
81.
9Da die Klägerin unstreitig Eigentümerin des streitgegenständlichen Fahrzeugs ist und dieses bei Betrieb des auf den Beklagten zu 2) zugelassenen und von ihm gesteuerten und bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten Kraftfahrzeug beschädigt worden ist, ist die Haftung aus § 7 StVG (i.V.m. § 18 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG, § 1 Satz 1 PflVG) eröffnet.
10Die Ersatzpflicht der Beklagten ist auch nicht nach § 7 Abs. 2 StVG ausgeschlossen, da offenkundig keine höhere Gewalt vorlag.
112.
12Da der Schaden durch mehrere Fahrzeuge verursacht worden ist, hängt die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes im Verhältnis der Fahrzeughalter zueinander gemäß § 17 StVG von den Umständen, insbesondere davon ab, wie weit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Nach dieser Maßgabe haften die Beklagten als Gesamtschuldner für die Unfallfolgen zu einer Quote von 50 %.
13a.
14Zur Klärung des zwischen den Parteien streitigen Unfallhergangs war der Senat gehalten, die erstinstanzliche Beweisaufnahme in Form des mündlich erstatteten unfallanalytischen Sachverständigengutachtens zu wiederholen, weil sich aus der Protokollierung desselben in erster Instanz durch den Sachverständigen konkrete Anhaltspunkte ergaben, die im Sinne des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO Zweifel an der Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründeten und deshalb neue Feststellungen geboten. Da das protokollierte Sachverständigengutachten erster Instanz somit schon nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO keine abschließende Grundlage für eine instanzbeendende Entscheidung sein konnte, konnte der Senat die sich in diesem Zusammenhang aufdrängende Frage, ob die Übernahme der Protokollführung über die Beweisaufnahme durch den Sachverständigen ein Verstoß gegen § 159 Abs. 1 ZPO und – mangels Berufungsrüge – zugleich ein von Amts wegen zu berücksichtigender Mangel im Sinne des § 529 Abs. 2 S. 1 ZPO ist, dahinstehen lassen.
15Das erstinstanzliche Urteil, mit dem das Landgericht die Klage insgesamt abgewiesen hat, konnte nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor dem Senat keinen Bestand haben. Im Einzelnen:
16b.
17Ein Ausschluss der Haftung gemäß § 17 Abs. 3 StVG greift für keine der Parteien ein, da weder die Beklagten noch die Klägerin dargelegt und bewiesen haben, dass der Unfall durch ein für sie unabwendbares Ereignis verursacht worden ist.
18Unabwendbar in diesem Sinne ist nur ein Ereignis, das auch durch äußerste Sorgfalt nicht abgewendet werden kann. Der Fahrer muss sich wie ein "Idealfahrer" verhalten haben. Hierzu gehört ein Fahrverhalten, das in der konkreten Verkehrssituation alle möglichen Gefahrmomente sowie auch fremde Fahrfehler in Rechnung stellt und berücksichtigt. Notwendig ist daher eine über den gewöhnlichen Fahrerdurchschnitt erheblich hinausgehende Aufmerksamkeit, Geschicklichkeit und Umsicht und ein über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hinausreichendes geistesgegenwärtiges und sachgemäßes Handeln. Ein "Idealfahrer" hält nicht nur alle Verkehrsvorschriften ein. Er stellt seine Fahrweise vielmehr auch von vornherein darauf ein, Gefahrsituationen nach Möglichkeit zu vermeiden. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen eines unabwendbaren Ereignisses trägt jeweils die Partei, die sich darauf beruft (vgl. zum Ganzen etwa Senat Urt. v. 21.12.2021 – 7 U 21/20, juris Rn. 7; siehe auch BeckOGK/Walter, § 17 StVG Rn.14 f u. Rn. 26).
19aa.
20Eine Unabwendbarkeit zugunsten der Beklagten ist bereits nicht schlüssig dargelegt und jedenfalls nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht bewiesen.
21Nach dem eigenen Vorbringen der Beklagten hat der Beklagte zu 2) als Fahrer des Beklagtenfahrzeugs das klägerische Fahrzeug erst unmittelbar vor der Kollision wahrgenommen. Nach den Feststellungen des Sachverständigen war für den Beklagten zu 2) das klägerische Fahrzeug auf dem linken Fahrstreifen nicht nur sichtbar, sondern für ihn auch erkennbar, dass das klägerische Fahrzeug mit deutlich geringerer Geschwindigkeit fuhr. Dies zu Grunde gelegt hätte ein Idealfahrer den Unfall vermeiden können. Einem Idealfahrer anstelle des Beklagten zu 2) wäre aufgrund der vorhandenen Beschilderung durch Richtzeichen 531 („Einengungstafel“) nach Anlage 3 zu § 42 StVO klar gewesen, dass das klägerische Fahrzeug zeitnah auf den rechten Fahrstreifen würde wechseln müssen. Ein Idealfahrer hätte deshalb seine Geschwindigkeit reduziert, um sich zu vergewissern, dass der Fahrer des Fahrzeugs sich im Reißverschlussverfahren von dem linken auf den rechten Fahrstreifen einordnen kann.
22bb.
23Auch zugunsten der Klägerin kann eine Unabwendbarkeit nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht festgestellt werden.
24Soweit die Klägerin, gestützt auf die Aussagen des Zeugen A., behauptet, die Kollision habe sich auf dem linken Fahrstreifen ereignet, ist dies nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht bewiesen. Nach den überzeugenden Erläuterungen des Sachverständigen ist ein solcher Unfallhergang vielmehr ausgeschlossen. So hat der Sachverständige ausgeführt, dass er anhand der von der Polizei dokumentierten Endpositionen der Fahrzeuge (Lichtbilder 5, 6, 7 und 8 der Gutachtenanlage, eGA I-151) und der ebenfalls dokumentierten Schleuderspuren (Lichtbild 9 der Gutachtenanlage, eGA I-151) den Kollisionsort der beiden Fahrzeuge auf den rechten Fahrstreifen verortet. Diese Feststellungen korrespondieren auch mit den Angaben des Zeugen H., der den Kollisionsort ebenso wie der Sachverständige unmittelbar vor und nicht wie der Zeuge A. 200-300m vor die Fahrbahnverengung verortet hat.
25Bei Zugrundelegung des vom Sachverständigen als plausibel erachteten Hergangs lässt sich nicht nachweisen, dass der Zeuge A. den Unfall nicht hätte vermeiden können. Der Sachverständige hat hierzu vielmehr überzeugend ausgeführt, dass für den Zeugen A. der rückwärtige Verkehr auf dem rechten Fahrstreifen sichtbar gewesen ist und ihm bei einem Verzicht auf den Spurwechsel noch eine Weiterfahrt über die oder ein Anhalten auf der Sperrfläche möglich gewesen wäre. Dies zu Grunde gelegt hätte ein Idealfahrer den Unfall vermeiden können. Ein Idealfahrer anstelle des Zeugen A. hätte den rückwärtigen Verkehr im Außenspiegel beobachtet, um sich zu vergewissern, dass der auf dem rechten Fahrstreifen nachfolgende Verkehr erkennt, dass er beabsichtigt im Reißverschlussverfahren vom linken auf den rechten Fahrstreifen zu wechseln. Ein Idealfahrer anstelle des Zeugen A. hätte zudem durch einen Verzicht auf den Spurwechsel und Weiterfahrt über die Sperrfläche die Kollision vermeiden können.
26c.
27Die gemäß § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG vorzunehmende Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge führt unter Zugrundelegung der vollständigen Ausführungen des Sachverständigen zu dem Ergebnis, dass die Klägerin für die Folgen des Unfalls hälftig selbst einzustehen hat.
28Im Verhältnis der Fahrzeughalter zueinander hängt die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, wie weit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (vgl. BGH Urt. v. 15.5.2018 - VI ZR 231/17, juris Rn. 10). Darüber hinaus ist die konkrete Betriebsgefahr der beteiligten Kraftfahrzeuge von Bedeutung. Die Umstände, die die konkrete Betriebsgefahr des anderen Fahrzeugs erhöhen, insbesondere also dem anderen zum Verschulden gereichen, hat im Rahmen der nach § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung jeweils der Unfallgegner zu beweisen (vgl. Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 17 StVG [Stand: 14.04.2023] Rn. 78).
29aa.
30Zu Lasten der Klägerin ist ein Verstoß des Zeugen A. gegen § 7 Abs. 5 StVO in die Abwägung einzustellen.
31Gemäß § 7 Abs. 5 StVO darf ein Fahrstreifenwechsel nur durchgeführt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Jeder Fahrstreifenwechsel ist rechtzeitig und deutlich anzukündigen. Dabei sind die Fahrtrichtungsanzeiger zu benutzen. Diese Grundsätze gelten nach dem Wortlaut des § 7 Abs. 5 StVO „in allen Fällen“, also in allen in § 7 Abs.1 bis Abs. 4 StVO geregelten Situationen, und damit auch für einen im Reißverschlussverfahren gemäß § 7 Abs. 4 StVO durchgeführten Fahrstreifenwechsel (vgl. BGH Urt. v. 8.3.2022 – VI ZR 1308/20, juris Rn.14). Zur Erfüllung der Anforderungen ist es erforderlich, dass der Fahrzeugführer vor dem Fahrstreifenwechsel in den Innen- und Außenspiegel blickt und sich nach der Seite umsieht, in die er fahren will (vgl. OLG Brandenburg Urt. v. 21.6.2007 – 12 U 2/07, juris Rn. 3) und der Fahrstreifenwechsel unter Verwendung der Fahrtrichtungsanzeiger so rechtzeitig angekündigt wird, dass sich die übrigen Verkehrsteilnehmer – insbesondere der nachfolgende Verkehr (vgl. König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl., § 7 StVO Rn. 17) auf das Fahrmanöver einstellen können. Darüber hinaus darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dies verlangt ein Höchstmaß an Sorgfalt (vgl. OLG Koblenz Beschl. v. 19.3.2020 - 12 U 2181/19, beck-online Rn. 6).
32Dass der Zeuge A. dieses Pflichtenprogramm nicht eingehalten hat, steht aufgrund der Feststellungen des Sachverständigen, der Angaben des Zeugen H. und den eigenen Angaben des Zeugen A. zweifelsfrei fest. Insoweit ist davon auszugehen, dass die für die Verursachungsbeiträge des Zeugen A. darlegungs- und beweispflichtigen Beklagten sich diese zu Eigen gemacht haben (vgl. BGH Beschl. v. 29.8.2018 – VII ZR 195/14, NJW-RR 2018, 1287 Rn. 13). Im Einzelnen:
33Aufgrund der nachvollziehbaren Angaben des Sachverständigen steht zweifelsfrei fest, dass sich die Kollision im Zusammenhang mit einem Spurwechsel des Zeugen A. von dem linken auf den rechten Fahrstreifen ereignete.
34Dass der Zeuge A. das nach § 7 Abs. 5 StVO erforderliche Pflichtenprogramm erfüllt hat, wird von der Klägerin schon nicht behauptet. Auch der Zeuge H. hat bekundet, dass er ein Blinklicht des vor ihm auf dem linken Fahrstreifen fahrenden klägerischen Fahrzeugs nicht gesehen hat. Aufgrund der nachvollziehbaren Angaben des Sachverständigen steht zudem zweifelsfrei fest, dass der Zeuge A. den auf dem rechten Fahrstreifen hinter ihm fahrenden PKW zu jeder Zeit hätte sehen können. Daraus lässt sich nur lebensnah der Schluss ziehen, dass der Zeuge A. keine Rückschau gehalten hat.
35Der Verstoß des Zeugen A. gegen die sich aus § 7 Abs. 5 StVO ergebenden Pflichten ist für die Kollision auch kausal geworden; denn hätte der Zeuge A. das Fahrzeug des Beklagten vor dem Spurwechsel bei ausreichender Rückschau wahrgenommen, hätte er die Gefährdung erkannt, den Spurwechsel zurückgestellt, seine Geschwindigkeit weiter reduziert und nötigenfalls die Geradeausfahrt noch über die Sperrfläche fortsetzen können und müssen, um jegliche Gefährdung – wie geboten – zu vermeiden.
36bb.
37Nach dem Ergebnis der zweitinstanzlich wiederholten und vertieften Beweisaufnahme ist jedoch auch zu Lasten der Beklagten nicht allein die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs, sondern darüber hinaus ein Verstoß des Beklagten zu 2) gegen § 7 Abs. 4 StVO, § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO und gegen § 1 Abs. 2 StVO in die Abwägung einzustellen. Denn es steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Beklagte zu 2), der nach seinen eigenen Angaben das klägerische Fahrzeug erst kurz vor der Kollision überhaupt wahrgenommen hat, in erhebliche Maße unaufmerksam war und den Unfall hierdurch in wesentlichem Maße mitverursacht hat.
38Insofern greift freilich nicht schon der Anscheinsbeweis, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabtsand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder mit einer den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 Abs. 1 StVO) ein. Denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, dass sich die Kollision im Zusammenhang mit einem Spurwechsel des klägerischen Fahrzeugs ereignet hat. Ein Anscheinsbeweis ist dann nicht gerechtfertigt, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheit gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Dazu gehört insbesondere ein vor dem Auffahren vorgenommener Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs (vgl. BGH Urt. v. 13.12.2016 – VI ZR 32/16, NJW 2017, 1177 Rn.11; BGH Urt. v. 13.12.2011 – VI ZR 177/10, NJW 2012, 608 Rn.11).
39Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist jedoch nach den hier gegebenen Umständen des Einzelfalls ein Verstoß des Beklagten zu 2) gegen § 7 Abs. 4 StVO, § 1 Abs. 2 StVO und § 3 Abs. 1 S. 2 StVO festzustellen, der eine Mithaftung der Beklagten begründet. Hierbei verkennt der Senat nicht, dass auch im Reißverschlussverfahren derjenige, der den durchgehenden Fahrstreifen befährt, grundsätzlich Vorrang vor demjenigen hat, der auf seinen Fahrstreifen nicht durchfahren kann und daher wechseln muss; eine Mithaftung kommt für ihn jedoch in Betracht, wenn er erkennen kann, dass das Fahrzeug auf dem benachbarten Fahrstreifen ihm den Vortritt nicht gewähren wird und er seine Geschwindigkeit nicht herabsetzt oder in anderer Weise falsch reagiert (stdg. obergerichtliche Rspr., vgl. etwa OLG Saarbrücken Urt. v. 1.8.2019 – 4 U 18/19, juris Rn. 42; OLG München Urt. v. 21.4.2017 – 10 U 4565/16, juris Rn.19; OLG Düsseldorf Urt. v. 22.7.2014 – I-1 U 152/13, juris Rn.38; KG Berlin Beschl. v. 19.10.2009 – 12 U 227/08, juris Rn.10; KG Berlin Beschl. v. 2.9.2009 – 12 U 136/09, juris Rn.37).
40Gemäß § 7 Abs. 4 StVO ist den am Weiterfahren gehinderten Fahrzeugen der Übergang auf den benachbarten Fahrstreifen in der Weise zu ermöglichen, dass sich diese Fahrzeuge unmittelbar vor Beginn der Verengung jeweils im Wechsel nach einem auf dem durchgehenden Fahrstreifen fahrenden Fahrzeug einordnen können (Reißverschlussverfahren). Darüber hinaus hat der Fahrer nach § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO seine Geschwindigkeit unter anderem den Verkehrsverhältnissen anzupassen und sich gem. § 1 Abs. 2 StVO so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.
41Diesem Pflichtprogramm ist der Beklagte zu 2) nicht nachgekommen.
42Nach den Feststellungen des Sachverständigen ist die Geschwindigkeit im Unfallbereich zunächst auf 100 km/h und im weiteren Verlauf auf 70 km/h begrenzt und das allgemeine Richtzeichen 531, das eine Verengung der Fahrbahn signalisiert, mehrfach aufgestellt. Der Beklagte zu 2) hat in seiner persönlichen Anhörung vor dem Landgericht und vor dem Senat auch angegeben, dass er erkannt hat, dass sich die Fahrspur vor ihm auf einen Fahrstreifen verengte und sich der Verkehr aufgrund dieser Fahrbahnverengung vor ihm aufstaute. Aufgrund der vom Sachverständigen festgestellten Kollisionsgeschwindigkeiten von 39 km/h beim klägerischen Fahrzeug und 81 km/h beim Beklagtenfahrzeug steht zudem fest, dass das klägerische Fahrzeug im Sichtfeld des Beklagten zu 2) und damit für diesen erkennbar war. Da der Beklagte zu 2) im Kollisionszeitpunkt doppelt so schnell wie das klägerische Fahrzeug fuhr, ist es auch ausgeschlossen, dass das klägerische Fahrzeug den Beklagten zu 2) erst unmittelbar vor der Kollision überholt und der Beklagte zu 2) ihn möglicherweise erst zu einem späten Zeitpunkt hat wahrnehmen können. Gegen einen vorherigen Überholvorgang des klägerischen Fahrzeugs sprechen auch die weiteren Feststellungen des Sachverständigen. Es ist gerade nicht zu einer Kollision in Form eines Streifschadens zwischen den Fahrzeugen gekommen. Der Sachverständige hat vielmehr festgestellt, dass – wenn auch mit nur relativ geringer Überdeckung – der Beklagte zu 2) auf das Heck des klägerischen Fahrzeugs aufgefahren ist.
43Der Beklagte zu 2) hatte daher besonderen Anlass, die Fahrbahn vor ihm aufmerksam zu beobachten. Dies hat er nicht getan. Er hat seine Geschwindigkeit nicht deutlich reduziert und den Verkehr auf dem linken Fahrstreifen nicht ausreichend beobachtet. Dies ergibt sich schon aus der Unfallschilderung des Beklagten zu 2) gegenüber der Polizei. Der Beklagte zu 2) hat bei seiner Anhörung durch den Senat diese Angaben bestätigt. Danach hat er kurz vor der Kollision auf das Navigationsdisplay geschaut und plötzlich sei das klägerische Fahrzeug wie aus dem Nichts da gewesen.
44Das pflichtwidrige Fahrverhalten des Beklagte zu 2) war auch kausal für das Unfallgeschehen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen ergab sich eine eindeutige Erkennbarkeit des auf dem linken Fahrstreifen vor ihm fahrenden PKW. Bei einem gebotenen Fahren auf Sicht bzw. bei entsprechender Aufmerksamkeit des Beklagten zu 2), der durch das Zeichen 531 und den Geschwindigkeitstrichter von 100 km/h auf 70 km/h zu gesteigerter Aufmerksamkeit und zur Anpassung der Geschwindigkeit veranlasst war, wäre der klägerische PKW für den Beklagten zu 2) erkennbar und das Unfallgeschehen noch vermeidbar gewesen.
45cc.
46Die gebotene Abwägung der beiderseitigen unfallursächlichen Verursachungsbeiträge führt zu einer je hälftigen Verantwortung beider Unfallbeteiligten. Insoweit hat der Senat berücksichtigt, dass der Zeuge A. durch seinen Fahrstreifenwechsel die erste Ursache für das Unfallgeschehen gesetzt und damit maßgeblich zum Unfall beigetragen hat, dem Beklagten zu 2), der nach seinen eigenen Angaben erst kurz vor der Kollision das Fahrzeug wahrgenommen hat, jedoch ebenfalls ein nicht unerheblicher Verkehrsverstoß zur Last fällt. Die von ihm gesetzte Unfallursache weicht von der durch den Zeugen A. gesetzten Erstursache in ihrer Ausprägung weder nach oben noch nach unten ab. Beide Unfallbeteiligten hatten es in der Hand, durch verkehrsrichtiges Verhalten den Unfall unschwer zu vermeiden. Beide haben durch ihr verkehrswidriges Verhalten gleichermaßen zum Unfallgeschehen beigetragen.
473.
48Damit sind die Beklagten der Klägerin zum hälftigen Ausgleich ihres unfallbedingten Schadens gem. § 249 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 BGB in Höhe von insgesamt 3.067,23 EUR verpflichtet.
49Im Einzelnen:
50a.
51Die Klägerin kann dem Grunde nach Ersatz des Wiederbeschaffungsaufwandes verlangen, da nach den Angaben des Sachverständigen das klägerische Fahrzeug einen wirtschaftlichen Totalschaden erlitten hat; der erforderliche Reparaturaufwand deutlich oberhalb der 130 %-Grenze liegt. Der Sachverständige hat den von der Klägerin auf Grundlage eines Privatgutachtens ermittelten Wiederbeschaffungswert in Höhe von 7.900 EUR durch eine eigene Gebrauchtfahrzeugbewertung bestätigt und einen Händlerverkaufswert von 7.811,00 EUR brutto ermittelt. Den von der Klägerin ebenfalls durch Privatgutachten ermittelten Restwert in Höhe von 600,00 EUR brutto, der Privatgutachter hatte drei Angebote aus der Region eingeholt, hat der Sachverständige ebenso bestätigt, hält ihn jedenfalls für keinesfalls übersetzt. Inhaltliche Einwendungen gegen diese Feststellungen des Sachverständigen haben die Beklagten nicht mehr erhoben.
52Die Klägerin kann jedoch lediglich Ersatz des Netto-Wiederbeschaffungsaufwandes verlangen, da sie trotz entsprechenden Hinweises des Senats nicht dargelegt hat, dass sie ein Ersatzfahrzeug angeschafft und die Umsatzsteuer tatsächlich angefallen ist. Zudem könnte die Klägerin hinsichtlich des zu ihrem Betriebsvermögen gehörenden Fahrzeugs die Umsatzsteuer auch bei einer Ersatzanschaffung nicht ersetzt verlangen, da sie sich die Möglichkeit des Vorsteuerabzugs im Wege der Vorteilsausgleichung anrechnen lassen müsste (vgl. BGH Urt. v. 16.2.2022 - XII ZR 17/21, juris Rn. 42; BGH Urt. v. 14.9.2004 - VI ZR 97/04, juris Rn. 8).
53Mithin hat die Klägerin einen Anspruch auf Erstattung des hälftigen Nettowiederbeschaffungsaufwandes in Höhe von 3.067,23 EUR (7.900 EUR - 600 EUR / 1,19 / 2).
54b.
55Die Klägerin kann darüber hinaus die hälftigen Kosten für das Privatgutachten i.H.v. 445,80 EUR als Teil der Wiederherstellungskosten im Sinne von § 249 BGB ersetzt verlangen, da dieses zur Wiederherstellung bzw. zur Rechtsverfolgung erforderlich und zweckmäßig war (vgl. BGH Urt. v. 7.2.2023 – VI ZR 137/22, juris Rn. 48, 52).
56Bedenken im Hinblick auf die Aktivlegitimation der Klägerin bestehen hinsichtlich der Erstattung der geltend gemachten Privatgutachterkosten nicht. Zwar hat die Klägerin zunächst etwaige Schadensersatzansprüche im Hinblick auf die Privatgutachterkosten an den Privatgutachter, die V. GmbH, abgetreten. Diese hat ihrerseits die Ansprüche an die Klägerin ausweislich der Abtretungserklärung vom 21.06.2022 zurück abgetreten. Die Abtretung hat die Klägerin konkludent angenommen. Zweifel an der Aktivlegitimation haben die Beklagten – nach der Vorlage der Abtretungserklärung – nicht mehr geäußert. Gegen die Wirksamkeit dieser Abtretung bestehen keine Bedenken, insbesondere ist sie hinreichend bestimmt.
57Die Bemessung der Höhe der erforderlichen Privatgutachterkosten ist gem. § 287 Abs. 1 ZPO unter Würdigung aller Umstände zu schätzen. Dieser Schätzung müssen tragfähige Anknüpfungspunkte zugrunde liegen, sie darf nicht völlig abstrakt erfolgen, sondern muss dem jeweiligen Einzelfall Rechnung tragen (vgl. BGH Urt. v. 29.10.2019 - VI ZR 104/19, juris Rn. 10). Die Vergütung des Kfz-Sachverständigen erfolgt üblicherweise so, dass ein pauschaliertes Grundhonorar einerseits und konkret berechnete Nebenkosten andererseits in Rechnung gestellt werden. Zum Grundhonorar entspricht es gefestigter Rechtsprechung, dass dessen pauschalierte Bemessung an der Schadenshöhe unbedenklich ist, weil es die Gegenleistung für die Feststellung des wirtschaftlichen Werts der Forderung des Geschädigten darstellt (vgl. nur BGH Urt. v. 24.10.2017 - VI ZR 61/17, juris Rn. 24).
58Das vom Privatgutachter in Ansatz gebrachte Grundhonorar i.H.v. 791,50 EUR netto ist gemessen an der BVSK-Honorarbefragung 2020 und unter Zugrundlegung eines Wiederbeschaffungswertes brutto von 7.900 EUR keineswegs übersetzt, da ein Grundhonorar im insoweit maßgeblichen HB V Korridor zwischen 815 und 900 EUR liegt. Einwände gegen die Höhe des Grundhonorars haben die Beklagten auch nicht erhoben.
59Nicht zu beanstanden sind die vom Privatgutachter in Rechnung gestellten Foto- und Schreibkosten sowie die Nebenkostenpauschale für Porto und Telefon. Diese entsprechen vollständig den Bestimmungen des JVEG, dessen Heranziehung als allgemeine Orientierungshilfe zur Schätzung der erforderlichen Nebenkosten gem. § 287 ZPO allgemein anerkannt ist (vgl. nur BGH Urt. v. 7.2.2023 – VI ZR 137/22, juris Rn. 59; BGH Urt. v. 26.4.2016 – VI ZR 50/15, juris Rn. 18). Auch die vom Privatgutachter in Ansatz gebrachten Fahrtkosten sind nicht zu beanstanden, insbesondere die zugrunde gelegte Fahrstrecke ist nachvollziehbar, da die einfache Fahrtstrecke vom Sitz des Privatgutachters in U. zum Besichtigungsort in C. etwa 11 km beträgt.
60Lediglich die in Rechnung gestellten Restwertermittlungskosten i.H.v. pauschal 17,50 EUR stellen keinen ersatzfähigen Schaden dar. Die Klägerin hat trotz Hinweis des Senats nicht dargelegt, dass Zusatzkosten durch kostenpflichtige Angebote bei Restwertbörsen entstanden sind (vgl. BGH Urt. v. 7.2.2023 – VI ZR 138/22, juris Rn. 15).
61Es ergibt sich mithin ein erstattungsfähiger Gesamtbetrag von 445,80 EUR netto (909,10 EUR netto - 17,50 EUR / 2). Die Umsatzsteuer kann die vorsteuerabzugsberechtigte Klägerin nicht verlangen, da sie sich – wie bereits ausgeführt – die Möglichkeit des Vorsteuerabzugs im Wege der Vorteilsausgleichung anrechnen lassen muss.
62c.
63Die Klägerin kann gemäß § 249 BGB Ersatz einer Auslagenpauschale i.H.v. 25,00 EUR in hälftiger Höhe, d.h. i.H.v. 12,50 EUR, verlangen. Für den Aufwand der Schadensabwicklung eines Verkehrsunfalls wird regelmäßig ohne weitere Spezifizierung eine Pauschale anerkannt. Diese liegt auch nach der ständigen Rechtsprechung des Senats bei 25,00 EUR (vgl. Senat Urt. v. 11.6.2021 - 7 U 24/20, juris Rn. 73; Senat Urt. v. 11.5.2021 - 7 U 104/19, juris Rn. 73, Senat Urt. v. 16.8.2019 - 7 U 3/19, juris Rn. 40).
64II.
65Die Zinsforderung steht der Klägerin gegen die Beklagten in der geltend gemachten Höhe aus § 291 Satz 1 Hs. 1, Satz 2, § 288 Abs. 1 BGB i.V.m. § 187 Abs. 1 BGB analog gegen die Beklagte zu 1) ab dem 05.08.2021 und gegen den Beklagten zu 2) ab dem 06.08.2021 zu, da die Klage der Beklagten zu 1) am 04.08.2021 und dem Beklagten zu 2) am 05.08.2021 zugestellt worden ist.
66III.
67Der Klägerin steht gegen die Beklagten ein Anspruch auf Erstattung der ihr vorgerichtlich entstandenen Rechtsanwaltskosten aus § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 18 Abs. 1 i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG, § 1 Satz 1 PflVG nicht zu, da die Beklagten bestritten haben, dass die Kostennote von der Klägerin bezahlt worden ist, und darauf hingewiesen haben, dass ein Ausgleich allenfalls durch den Rechtsschutzversicherer der Klägerin erfolgt ist. Dieses Bestreiten erfolgte angesichts der belegten Einzahlung des der Klägerin auferlegten Kostenvorschusses für das Sachverständigengutachten und den Zeugen durch einen Rechtsschutzversicherer auch nicht ins Blaue hinein. Eine ergänzende Erklärung ist durch die Klägerin nicht erfolgt. Die Aktivlegitimation der Klägerin kann nicht festgestellt werden. Denn bei einer Zahlung der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten durch den Rechtsschutzversicherer geht der Anspruch gemäß § 86 VVG auf diesen im Wege der cessio legis über.
68C.
69Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 92 Abs. 1 Satz 1 HS. 2 ZPO.
70Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
71Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, da die diesbezüglichen Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht gegeben sind.