Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
Ergeht gegen einen Untersuchungsgefangenen ein neuer oder erweiterter Haftbefehl wegen Erkenntnissen, die erst im Laufe der Ermittlungen bekannt geworden sind, wird dadurch ohne Anrechnung der bisherigen Haftdauer eine neue Sechsmonatsfrist im Sinne von § 121 Abs. 1 Satz 1 StPO in Gang gesetzt, wenn die neuen Erkenntnisse für sich genommen den Erlass eines Haftbefehls tragen.
Eine Haftprüfung durch den Senat nach den §§ 121, 122 StPO ist derzeit nicht veranlasst.
Gründe:
2I.
3Der Angeschuldigte wurde aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Essen vom 12. Mai 2023 noch am gleichen Tag vorläufig festgenommen und befindet sich seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft.
4In dem Haftbefehl des Amtsgerichts wurden dem Angeschuldigten drei Fälle des versuchten Totschlags (§§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB) jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) zur Last gelegt. Hintergrund waren Vorwürfe, der Angeschuldigte habe seine ehemalige Ehefrau einmal aus dem Fenster der im ersten Stock befindlichen Wohnung der Familie und einmal auf die Schienen an einer Straßenbahnhaltestelle geworfen. Ein weiteres Mal soll er auch seine Tochter aus einem der Wohnungsfenster geworfen haben. Der Haftbefehl stützte sich auf mehrere Haftgründe. Eine Verdunkelungsgefahr bestünde, da der Angeschuldigte auch schon in der Vergangenheit auf die Geschädigten eingewirkt habe, um sie von der Erstattung von Strafanzeigen gegen ihn abzuhalten. Zudem liege aufgrund des dringenden Tatverdachts für Straftaten nach § 212 StGB auch der Haftgrund der Schwerkriminalität vor. Schließlich bestünde subsidiär eine Wiederholungsgefahr im Hinblick auf die gefährlichen Körperverletzungen. Aufgrund der Aggressivität des Angeschuldigten sei mit weiteren gleichgelagerten Taten zu rechnen. Wegen der weiteren Einzelheiten der dem Angeschuldigten zur Last gelegten Taten und der Haftgründe wird auf den Haftbefehl des Amtsgerichts Essen vom 12. Mai 2023 Bezug genommen.
5Im Rahmen der weiteren Ermittlungen wurden weitere Vorwürfe gegen den Angeschuldigten bekannt. Die geschädigte Exfrau des Angeschuldigten, die Zeugin B. U., hatte bei ihrer ersten polizeilichen Vernehmung vom 10. Mai 2023 im Wesentlichen die gegenständlichen Taten aus dem Haftbefehl des Amtsgerichts Essen vom 12. Mai 2023 ausführlich geschildert. Zudem hatte sie zwar ebenfalls auf Vergewaltigungen durch den Angeschuldigten hingewiesen, diese Vorwürfe aber noch nicht näher konkretisiert. Die weiteren Fragen der Vernehmenden konzentrierten sich dann auch noch nicht auf diese Aspekte. In der Folge fand jedoch am 15. Juni 2023 zu diesen (neuen) Vorwürfen eine weitere polizeiliche Vernehmung statt. Hierbei bekundete die Zeugin zwei konkrete Tatgeschehen in der familiären Wohnung, an denen der Angeschuldigte gegen ihren Willen mit ihr einmal den vaginalen und in einem weiteren Fall den analen Geschlechtsverkehr vollzogen habe. Zeitlich konnte die Zeugin dies lediglich in dem Zeitraum 2009 bis Anfang 2010 verorten. Die Verschriftlichung dieser auf Tonbandträger aufgenommenen Vernehmung gelangte spätestens aber Ende Juli 2023 zur Akte.
6Nach Durchführung weiterer Ermittlungen hat die Staatsanwaltschaft Essen gegen den Angeschuldigten mit Anklageschrift vom 4. August 2023 vor dem Landgericht Essen – Schwurgericht – Anklage erhoben. Am 8. August 2023 ging die Anklageschrift dort ein. Nach Abschluss der Ermittlungen ist die Staatsanwaltschaft davon ausgegangen, dass der Angeschuldigte in der Zeit vom 26. April 2008 bis zum 1. Mai 2023 in drei Fällen einen versuchten Totschlag jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung begangen habe sowie in zwei weiteren Fällen eine Vergewaltigung (§§ 177 Abs. 1, Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB i.d.F. vom 19. November 1998, §§ 212 Abs. 1, 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 5, 22, 23 Abs. 1, 52, 53 StGB). Die Staatsanwaltschaft hat mit Anklageerhebung beantragt, das Hauptverfahren vor dem Landgericht – Schwurgericht – Essen zu eröffnen, den Haftbefehl gegen den Angeschuldigten entsprechend der Anklageschrift neu zu fassen sowie die Haftfortdauer zu beschließen.
7In der Sache legt sie dem Angeschuldigten zur Last, mit seiner früheren Ehefrau an zwei nicht näher bestimmbaren Tagen im Jahr 2009 oder Anfang 2010 gegen deren erkennbaren Willen einmal den vaginalen sowie einmal den analen Geschlechtsverkehr vollzogen zu haben. Einmal sei dies nach einem Streit in der Küche im Flur der familiären Wohnung erfolgt. Der Angeschuldigte habe sie hier zu Boden geworfen und sie festgehalten. Trotz Gegenwehr und Bitten der Zeugin aufzuhören, habe der Angeschuldigte den Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss vollzogen. Ein anderes Mal habe der Angeschuldigte sie nachts geweckt. Er habe mit der Geschädigten den Analverkehr vollziehen wollen, da er hierüber von Bekannten gehört habe. Obwohl die Zeugin B. U. dies abgelehnt habe, sei sie vom Angeschuldigten gewaltsam auf den Bauch gedreht worden. Sodann habe er trotz anfänglicher Gegenwehr der Geschädigten den Analverkehr bis zum Samenerguss vollzogen.
8Darüber hinaus soll er die Zeugin B. U. bereits am 26. April 2008 nach einem Streit aus dem Fenster der im ersten Stock befindlichen Wohnung auf die mindestens fünf Meter tiefer gelegene asphaltierte Fläche im Hinterhof geworfen haben. Dabei habe er billigend in Kauf genommen, dass seine ehemalige Ehefrau versterben könnte. Tatsächlich habe sie den Sturz überlebt, jedoch unter anderem Frakturen an beiden Fersenbeinen sowie an der Lendenwirbelsäule erlitten.
9Am 13. April 2016 soll der Angeschuldigte nach ähnlichem Tatmuster eine seiner Töchter, die Zeugin L. U., nachdem diese einen Verkehrsunfall mit seinem Auto verursacht habe, aus Wut hierüber ebenfalls aus einem der Fenster der Wohnung geworfen haben. Auch hierbei habe er tödliche Verletzungen bei seiner Tochter billigend in Kauf genommen. Die Zeugin L. U. habe den Sturz aber überlebt, habe jedoch Frakturen im Fersen- und Kreuzbein sowie im Sprunggelenk erlitten.
10Schließlich habe der Angeschuldigte seine Exfrau, die Zeugin B. U., am 1. Mai 2023 an einer Straßenbahnhaltestelle unvermittelt attackiert und am Hals gewürgt. Im Anschluss habe er die Geschädigte auf die Gleise gestoßen und auch hierbei ihren Tod zumindest billigend in Kauf genommen. Die Zeugin B. U. sei unter anderem mit dem Verdacht auf eine Kehlkopffraktur in ein Krankenhaus verbracht worden. Dort habe man ein Schädel-Hirn-Trauma sowie eine Riss-Quetsch-Wunde am Hinterkopf festgestellt. Wegen der weiteren Einzelheiten der dem Angeschuldigten vorgeworfenen Taten wird auf die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Essen vom 4. August 2023 Bezug genommen.
11Die Anklageschrift ist am 8. August 2023 beim Landgericht Essen eingegangen. Mit Verfügung vom 10. August 2023 hat des Vorsitzende der II. großen Strafkammer – Schwurgericht – die Zustellung der Anklageschrift mit einer Stellungnahmefrist von drei Wochen nebst Übersetzung der Anklageschrift in die türkische Sprache veranlasst. Am 29. August 2023 hat der Vorsitzende die Zustellung dieser angefertigten Übersetzung verfügt. Zudem sind mehrere Akten im Zusammenhang mit dem schon seitens der Staatsanwaltschaft Essen in Auftrag gegebenen Gutachten zur Schuldfähigkeit des Angeschuldigten angefordert worden.
12Die II. große Strafkammer – Schwurgericht – hat am 25. Oktober 2023 einen neuen Haftbefehl entsprechend den Vorwürfen aus der Anklageschrift vom 4. August 2023 erlassen. Gestützt wird dieser neue Haftbefehl auf den Haftgrund der Fluchtgefahr sowie den Haftgrund der Schwerkriminalität. Dem Angeschuldigten ist der neue Haftbefehl am 27. Oktober 2023 verkündet worden ist. Hierbei hat der Angeschuldigte die Vorwürfe, bis auf das Geschehen am 1. Mai 2023, in Abrede gestellt.
13Mit Beschluss vom 2. November 2023 hat die II. große Strafkammer beschlossen, dass die Untersuchungshaft aus den Gründen ihrer Anordnung fortdauere und die Akten, vermittelt durch die Staatsanwaltschaft Essen, dem Oberlandesgericht vorgelegt. Dabei hat das Landgericht unter anderem ausgeführt, dass derzeit eine Abstimmung der Termine mit dem Pflichtverteidiger sowie der psychiatrischen Sachverständigen erfolge. Hierbei ergebe sich eine sehr eingeschränkte Schnittmenge. Es sei vorgesehen, spätestens im Januar 2024 mit der Hauptverhandlung zu beginnen.
14Am 9. November 2023 sind die Akten mit dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft auf Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft beim Senat eingegangen.
15Der Angeschuldigte und sein Verteidiger haben von der Gelegenheit zur Stellungnahme keinen Gebrauch gemacht.
16II.
17Eine Haftprüfung nach den §§ 121, 122 StPO ist derzeit nicht veranlasst.
18Der Angeschuldigte befindet sich zwar seit mehr als sechs Monaten in Untersuchungshaft. Allerdings ist wegen der ihm im Haftbefehl des Landgerichts Essen vom 25. Oktober 2023 vorgeworfenen beiden Taten der Vergewaltigung eine neue Sechsmonatsfrist im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO in Gang gesetzt worden. Diese begann am 13. Juli 2023 und ihr Ablauf steht dementsprechend noch nicht bevor.
191.
20Gemäß § 121 Abs. 1 StPO darf der Vollzug der Untersuchungshaft „wegen derselben Tat“ vor dem Erlass eines Urteils nur unter besonderen Voraussetzungen länger als sechs Monate aufrechterhalten werden.
21Der Begriff derselben Tat im Sinne dieser Vorschrift weicht vom prozessualen Tatbegriff im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO ab und ist mit Rücksicht auf den Schutzzweck der Norm weit auszulegen. Er erfasst alle Taten eines Täters von dem Zeitpunkt an, in dem sie – im Sinne eines dringenden Tatverdachts – bekannt geworden sind und in einen bestehenden Haftbefehl hätten aufgenommen werden können. Das gilt unabhängig davon, ob sie Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind (st. Rspr. vgl. nur BGH, Beschluss vom 14. Mai 2020 – AK 8/20, BeckRS 2020, 10647 Rn. 6 mwN). Dadurch wird eine sogenannte Reservehaltung von Tatvorwürfen vermieden, die darin bestünde, dass von Anfang an bekannte oder im Laufe der Ermittlungen bekannt gewordene Taten zunächst zurückgehalten und erst kurz vor Ablauf der Sechsmonatsfrist zum Gegenstand eines neuen oder erweiterten Haftbefehls gemacht werden mit dem Ziel, eine neue Sechsmonatsfrist zu eröffnen. Somit löst es keine neue Haftprüfungsfrist gem. § 121 Abs. 1 StPO aus, wenn ein neuer Haftbefehl lediglich auf Tatvorwürfe gestützt bzw. durch sie erweitert wird, die schon bei Erlass des ersten Haftbefehls – im Sinne eines dringenden Tatverdachts – bekannt waren (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Juli 2019 − AK 34/19, NStZ 2019, 626, 627). Tragen dagegen die erst im Laufe der Ermittlungen gewonnenen Erkenntnisse für sich genommen den Erlass eines Haftbefehls und ergeht deswegen ein neuer oder erweiterter Haftbefehl, so wird dadurch ohne Anrechnung der bisherigen Haftdauer eine neue Sechsmonatsfrist in Gang gesetzt (vgl. BGH, Beschluss vom 6. April 2017 – AK 14/17, BeckRS 2017, 108135 Rn. 8). Für den Fristbeginn ist dann der Zeitpunkt maßgeblich, in dem sich der Verdacht hinsichtlich der neuen Tatvorwürfe zu einem dringenden verdichtet hat. Entscheidend ist mithin, wann der neue bzw. erweiterte Haftbefehl hätte erlassen werden können, nicht hingegen, wann die StA ihn erwirkt hat. Dabei ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Haftbefehl spätestens an dem auf die Beweisgewinnung folgenden Tag der veränderten Sachlage anzupassen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 20. September 2023 – AK 54/23, NStZ-RR 2023, 349, 350).
222.
23Daran gemessen hat der neue Haftbefehl vom 25. Oktober 2023 eine neue Sechsmonatsfrist eröffnet, deren Lauf an dem Tag begann, an welchem dieser Haftbefehl hätte erlassen werden können. Der Angeschuldigte ist über die bisherigen Vorwürfe aus dem Haftbefehl des Amtsgerichts Essen vom 12. Mai 2023 hinaus der Vergewaltigung in zwei Fällen dringend verdächtig (hierzu a.). Die entsprechenden Tatumstände sind erst im Laufe der nachfolgenden Ermittlungen im Sinne eines dringenden Tatverdachts zum 13. Juli 2023 bekannt geworden (unten b.). Schließlich rechtfertigen diese auch für sich genommen den Erlass eines Haftbefehls (hierzu c.).
24Im Einzelnen:
25a.
26Der Angeschuldigte ist – über den bereits bestehenden dringenden Tatverdacht wegen des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen – der zweifachen Vergewaltigung zum Nachteil der Zeugin B. U. dringend verdächtig.
27Der dringende Tatverdacht im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO setzt voraus, dass aufgrund bestimmter Tatsachen eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass eine Person als Täter oder Teilnehmer eine Straftat begangen hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 9. März 2020 – 2 BvR 103/20, BeckRS 2020, 3196 Rn. 63). Das ist hier sowohl wegen der beiden Vergewaltigungstaten (hierzu aa.) als auch hinsichtlich der zuvor bestehenden Tatvorwürfe (hierzu bb.) der Fall.
28aa.
29Die Geschädigte B. U., ehemalige Ehefrau des Angeschuldigten, hat im Rahmen ihrer polizeilichen Vernehmung vom 15. Juni 2023 eingehend und widerspruchsfrei ihre Lebenssituation mit dem Angeschuldigten während ihrer Ehe und der Zeit in der gemeinsamen Wohnung in der V.-straße # in A. geschildert. Dabei hat sie ausgeführt, dass es sich um eine von den Familien arrangierte Ehe handele, die in der Türkei geschlossen worden sei. Es habe immer Probleme in ihrer Ehe geben. Auf Bitten der beiden vernehmenden Beamtinnen konnte die Geschädigte zwei Tatgeschehen, die ihr noch konkret in Erinnerung waren, eingehend beschreiben. Dabei hat sie die Abläufe nachvollziehbar bekundet und insbesondere hinsichtlich der zeitlichen Einordnung der beiden Geschehen plausible Anknüpfungspunkte in Gestalt der Schwangerschaften mit ihren Kindern bemüht.
30Für die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben ist zudem die Aussageentstehung in den Blick zu nehmen, schließlich hat die Zeugin B. U. diese Vorwürfe nicht eigenständig zur Anzeige gebracht, sondern dies – beinahe beiläufig – im Rahmen der Ermittlungen zu dem Ausgangstatgeschehen vom 1. Mai 2023 bekundet. Anhaltspunkte für eine gesteigerte Belastungstendenz sind nach Aktenlage nicht ersichtlich. Die Zeugin war nach Aktenlage erkennbar bemüht, lediglich in ihrer Erinnerung befindliches Geschehen zu schildern. Erinnerungslücken, die mit Blick auf den Zeitablauf im Übrigen nachvollziehbar sind, hat sie offen eingeräumt. Dabei tat sich die Geschädigte erkennbar schwer, Abläufe aus ihrer Intimsphäre überhaupt preiszugeben.
31Die abschließende Bewertung der Glaubhaftigkeit der Angaben obliegt selbstverständlich dem Tatrichter am Ende der Hauptverhandlung aufgrund der persönlichen Vernehmung. Allerdings ist es grundsätzlich von Rechts wegen unbedenklich, einen dringenden Tatverdacht allein auf die Angaben eines Zeugen zu stützen, wenn die weiteren Ermittlungen – wie hier – den Tatverdacht nicht entkräften können (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juni 2019 – StB 10/19, NStZ-RR 2019, 282).
32bb.
33Zudem streitet für die Glaubhaftigkeit, dass auch die weiteren Angaben der Zeugin B. U. zu den übrigen Vorwürfen aus der Anklageschrift vom 4. August 2023 in den sonstigen Ermittlungsergebnissen Bestätigung finden.
34Der Angeschuldigte selbst räumt das Geschehen vom 1. Mai 2023 ausweislich des Protokolls vom 27. Oktober 2023 anlässlich der Verkündung des neuerlichen Haftbefehls offenbar ein. Dieses Geschehen, und damit auch die insoweit getätigten Angaben der Zeugin B. U., werden zudem durch unbeteiligte Dritte, wie der Fahrerin der in den Haltestellenbereich einfahrenden Straßenbahn (Zeugin I.) sowie eine Insassin der Straßenbahn (Zeugin J.) gestützt. Entsprechendes gilt durch die vorhandenen Videos von Überwachungskameras, die das Tatgeschehen aufgezeichnet haben.
35Des Weiteren hat auch die Zeugin L. U. in ihren polizeilichen Vernehmungen vom 9. und 10. Mai 2023 jeweils glaubhaft beschrieben, wie der Angeschuldigte einem entsprechenden Tatmuster folgend, auch sie am 26. April 2016 aus dem Küchenfenster auf die Straße geworfen habe.
36Schlüssig in all dies fügen sich zudem die noch vorhandenen Krankenunterlagen der beiden Zeuginnen B. und L. U. zu den Folgen der Taten vom 26. April 2008 und 13. April 2016 ein. Mit Blick auf die Verletzungen an den unteren Extremitäten liegt ein jeweiliger Sturz aus großer Höhe mit massiver Krafteinwirkung nahe. Der Senat verkennt nicht, dass dies, ebenso wie die Übereinstimmung der Schilderungen von Mutter und Tochter, nicht zwingend für ein vom Angeschuldigten vorsätzlich verursachtes Tatgeschehen sprechen muss. Allerdings sind zugleich keine hinreichenden Umstände ersichtlich, die für ein abgesprochenes und geplantes Vorgehen der beiden Zeuginnen sprechen.
37Die jeweils drohende Lebensgefahr für die beiden Zeuginnen belegen die Ausführungen des Sachverständigen Dr. Z. vom Institut für Rechtsmedizin an dem Universitätsklinikum A. vom 12. Juni 2023. Im Übrigen nimmt der Senat Bezug auf die überzeugenden Ausführungen zur Beweiswürdigung in der Anklageschrift vom 4. August 2023.
38cc.
39Nach alledem besteht gegen den Angeschuldigten zum derzeitigen Verfahrensstand sowohl ein dringender Tatverdacht für zwei Fälle der Vergewaltigung als auch für drei Fälle des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Für einen jeweils denkbaren Rücktritt des Angeschuldigten von diesen drei Taten liegen derzeit keine hinreichenden Anhaltspunkte vor.
40b.
41Soweit es die Vergewaltigungsvorwürfe betrifft, sind diese erst nach Erlass des Haftbefehls vom 12. Mai 2023 bekannt geworden. Sie bestehen im Sinne eines dringenden Tatverdachtes erst seit dem 13. Juli 2023.
42Zwar hat die Zeugin B. U. bereits in ihrer ersten polizeilichen Vernehmung am 10. Mai 2023 von Vergewaltigungen durch den Angeschuldigten gesprochen. Allerdings erfolgte dies lediglich unkonkret und abstrakt. Die Vernehmung hatte im Wesentlich die ursprünglichen Vorwürfe zu den versuchten Tötungsdelikten bzw. den gefährlichen Körperverletzungen zum Gegenstand. Eine nähere Befassung mit den von der Zeugin erwähnten Vergewaltigungen fand nicht statt. Vielmehr wurde die Vernehmung wieder auf Würfe aus den Fenstern bzw. auf die Straßenbahnschienen gelenkt. Die zu den Vergewaltigungen durch den Angeschuldigten maßgebliche weitere polizeiliche Vernehmung der Zeugin B. U. erfolgte dann erst am 15. Juni 2023. Erst bei dieser Gelegenheit wurden die Tatumstände so konkret geschildert, dass sie einer rechtlichen Bewertung zugänglich waren.
43Für die Beurteilung der Frage, wann ein diesbezüglicher dringender Tatverdacht vorlag, wird zwar grundsätzlich auf den auf die Vernehmung folgenden Tag abgestellt (vgl. BGH, Beschluss vom 20. September 2023 – AK 54/23, NStZ-RR 2023, 349, 350). Zu berücksichtigen ist jedoch auch, dass eine angemessene Prüfung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht sowie Sorgfalt bei der Formulierung zu gewähren ist (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Juli 2019 − AK 34/19, NStZ 2019, 626, 628 Rn. 42). Deshalb kann vorliegend nicht nur auf das Vernehmungsdatum abgestellt werden. Zugleich ist die Gestaltung der Vernehmung in den Blick zu nehmen. Diese fand mittels Tonbandaufzeichnung statt. Eine Verschriftlichung der Angaben der Geschädigten lag zu diesem Zeitpunkt nicht vor. Jedoch ist eine solche für die Beurteilung der Aussage zwingend erforderlich ist. Gerade aufgrund des Zeitablaufs sowie dem – auch deshalb – Fehlen von sonstigen Beweismitteln, kommt es auf den konkreten Inhalt der Zeugenaussage an. Nur so war der Staatsanwaltschaft die Prüfung eines (dringenden) Tatverdachts für diese neuen Vorwürfe erlaubt. Deshalb ist vor der Verschriftlichung der Aussage auch keine Anpassung an eine neue Sachlage möglich gewesen.
44Das schriftliche Vernehmungsprotokoll war ausweislich der Verfügung der zuständigen Dezernentin bei der Staatsanwaltschaft Essen zur Akteneinsicht an den Pflichtverteidiger des Angeschuldigten spätestens am 25. Juli 2023 in den Akten (vgl. Bd. II Bl. 434). Zugleich ist aus der Akte nach der Verfügung vom 27. Juni 2023 (vgl. Bd. II Bl. 393) ersichtlich, dass die Vernehmung noch nicht vollständig verschriftlicht war. Zwar lässt sich an einer weiteren handschriftlichen Verfügung in der Akte vom 20. Juli 2023 (Bd. II Bl. 420) ersehen, dass die Verschriftlichung der Staatsanwaltschaft Essen immer noch nicht vorlag. Allerdings erscheint dies auch vor dem Hintergrund des Zeitablaufs wenig nachvollziehbar.
45Nach Auffassung des Senats hätte das schriftliche Vernehmungsprotokoll, trotz des erheblichen Umfangs, spätestens drei Wochen nach der Vernehmung vorliegen können. Eine weitere Woche erscheint erforderlich, aber auch angemessen, um der Staatsanwaltschaft eine entsprechende rechtliche Prüfung nebst Antragstellung zu ermöglichen. Nach alledem ist daher ein Zeitpunkt von vier Wochen nach der Vernehmung, mithin der 13. Juli 2023, für die Erwirkung eines neuen Haftbefehls für die beiden Vergewaltigungsvorwürfe zugrunde zu legen.
46c.
47Aufgrund des erheblichen Strafrahmens von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe für jeden Fall der Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB in der zur Tatzeit geltenden Fassung vom 1. Januar 1999, hätten allein diese Vorwürfe den Erlass eines Haftbefehls gerechtfertigt. Auch insoweit hätte der Angeschuldigte, trotz des Zeitablaufs, mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen mit dem daraus folgenden Fluchtanreiz. Dies gilt auch im Übrigen für die weiteren Vorwürfe sowie die weiteren Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls. Insoweit tritt der Senat den zutreffenden Ausführungen der Strafkammer in ihrem Beschluss vom 2. November 2023 bei.
483.
49Nach alledem läuft die neue Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO noch bis zum 13. Januar 2024. Sollte die Hauptverhandlung bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht begonnen haben, wird die Strafkammer die Akten für die dann vorzunehmende Haftprüfung durch den Senat wiederum vorzulegen haben.