Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
Zur Frage, ob ein Bewährungswiderruf wegen einer zwischen dem Ende der ursprünglichen Bewährungszeit und dem Verlängerungsbeschluss, der eine Verlängerung der ursprünglichen Bewährungszeit bestimmt, begangenen Straftat ausgeschlossen ist.
Die angefochtenen Beschlüsse werden aufgehoben.
Der Antrag der Staatsanwaltschaft Bielefeld auf Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung wird abgelehnt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Verurteilten fallen der Staatskasse zur Last.
G r ü n d e:
2I.
3Das Amtsgericht Bad Oeynhausen hat den Beschwerdeführer am 20. September 2016 in Verbindung mit dem Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 8. März 2017, rechtskräftig seit dem 16. März 2017, wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt, deren Vollstreckung das Landgericht Bielefeld zur Bewährung ausgesetzt hat.
4Die Bewährungszeit war zunächst auf vier Jahre, mithin bis zum 15. März 2021, festgesetzt worden.
5Mit Verfügungen vom 28. Januar und 16. Februar 2021 hat die Staatsanwaltschaft Bielefeld jeweils zum Bewährungsheft mitgeteilt, dass ein weiteres Strafverfahren mit dem Aktenzeichen 901 Js 1569/20 gegen den Beschwerdeführer anhängig ist. Überdies hat die Bewährungshelferin mit Schreiben vom 12. März 2021 zum Bewährungsheft mitgeteilt, dass ein Verfahren vor dem Amtsgericht Minden anhängig ist und Hauptverhandlungstermin für den 20. April 2021 anberaumt worden sei.
6Mit Urteil vom 20. April 2021, rechtskräftig seit dem 28. April 2021, hat das Amtsgericht Minden (Az.: 13 Cs 901 Js 1569/20 – 107/21) den Beschwerdeführer wegen fahrlässigen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 40,00 € verurteilt. Die dieser Verurteilung zugrundeliegende Tat hatte der Beschwerdeführer am 28. Oktober 2020 – mithin innerhalb der Bewährungszeit – begangen.
7Über diese Verurteilung hatte die Bewährungshelferin das Amtsgericht Minden mit Schreiben vom 5. Mai 2021 in Kenntnis gesetzt. Überdies handelte es sich bei dem die Bewährung überwachenden Dezernenten des Amtsgerichts Minden um denselben Amtsrichter, der den Beschwerdeführer als Tatrichter des Amtsgerichts Minden am 20. April 2021 verurteilt hatte.
8Im Hinblick auf die Verurteilung vom 20. April 2021 hat das das Amtsgericht Minden die Staatsanwaltschaft Bielefeld mit Verfügung vom 12. Mai 2021 um Stellungnahme gebeten und die Auffassung vertreten, dass trotz der neuen Verurteilung – vorbehaltlich weiterer Ermittlungsverfahren – ein Straferlass vertretbar sei.
9Mit Verfügung vom 21. Mai 2021 hat die Staatsanwaltschaft Bielefeld beantragt, die Bewährungszeit um ein Jahr zu verlängern.
10Mit Verfügung vom 1. Juni 2021 hat das Amtsgericht Minden den Beschwerdeführer zur Verlängerung der Bewährungszeit angehört.
11Einen Hinweis auf eine frühere Mitteilung an den Beschwerdeführer, dass die Bewährungszeit mit Blick auf das Verfahren mit dem Aktenzeichen 901 Js 1569/20 verlängert werden könnte oder sogar der Bewährungswiderruf droht, lässt sich weder dem Bewährungsheft noch dem Hauptverhandlungsprotokoll vom 20. April 2021 in der beigezogenen Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Bielefeld zum Aktenzeichen 901 Js 1569/20 entnehmen. Den schriftlichen Urteilsgründen im Urteil des Amtsgerichts Minden vom 20. April 2021 lässt sich lediglich entnehmen, dass eine Entscheidung über den Straferlass noch nicht getroffen worden sei.
12Mit Beschluss vom 27. Juli 2021 hat das Amtsgericht Minden die Bewährungszeit „um ein Jahr bis zum 15.03.2022 verlängert“.
13Am 13. Mai 2021 hat sich der Beschwerdeführer wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen strafbar gemacht. Deswegen ist er am 6. Mai 2022 vom Amtsgericht Minden, rechtskräftig seit dem 4. Januar 2023, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt worden. Diese Gesamtfreiheitsstrafe hat der Beschwerdeführer ab dem 22. März 2023 in der Justizvollzugsanstalt A verbüßt.
14Im Hinblick auf die neuerlichen Taten hat die Staatsanwaltschaft Bielefeld nach Rechtskraft der neuen Verurteilung mit Verfügung vom 13. April 2023 beantragt, die Strafaussetzung zur Bewährung zu widerrufen.
15Das Widerrufsverfahren war mit Verfügung vom 18. April 2023 zunächst vom Amtsgericht Minden eingeleitet worden, das die Sache allerdings mit Verfügung vom 5. Juli 2023 der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bielefeld vorgelegt hat. Diese hat den Beschwerdeführer unter dem 19. Juli 2023 schriftlich angehört und sodann mit dem angefochtenen Beschluss vom 28. August 2023 in Verbindung mit dem Berichtigungsbeschluss vom 6. September 2023 die Strafaussetzung zur Bewährung wegen der neuen Straftaten vom 13. Mai 2021 widerrufen. Eine Entscheidung über die Anrechnung von Leistungen im Sinne von § 56f Abs. 3 StGB enthält diese Entscheidung nicht.
16Gegen diesen, seinem Verteidiger am 7. September 2023 zugestellten Beschluss wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner sofortigen Beschwerde, die er mit beim Landgericht Bielefeld am selben Tag eingegangenen Schriftsatz seines Verteidigers vom 7. September 2023 eingelegt und begründet hat.
17Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
18II.
19Die gemäß § 453 Abs. 2 Satz 3 StPO grundsätzlich statthafte und auch ansonsten zulässige sofortige Beschwerde ist begründet.
20Der Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56f Abs.1 Satz 1 Nr. 1 StGB setzt voraus, dass der Verurteilte "in der Bewährungszeit eine Straftat begeht". Die ursprüngliche auf 4 Jahre festgesetzte Bewährungszeit war mit Ablauf des 15. März 2021 verstrichen, so dass die Taten des Beschwerdeführers vom 13. Mai 2021 nach Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit begangen wurden.
21Jedoch schließt sich die mit Beschluss des Amtsgerichts Minden vom 27. Juli 2021 erfolgte Verlängerung der Bewährungszeit um ein Jahr rückwirkend unmittelbar an die abgelaufene Bewährungszeit an (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Februar 1995 - 2 BvR 168/95 –, NStZ 1995, 437; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 56f Rdnr. 17c), so dass dies jedenfalls formal zur Folge hat, dass die neuen Straftaten vom 13. Mai 2021 in die Bewährungszeit fallen.
22Ob Straftaten, die in der jedenfalls zunächst "bewährungsfreien Zeit" (hier vom 16. März 2021 bis zum 27. Juli 2021) begangen wurden, auch als Anlasstaten im Sinne des § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB gewertet werden können, ist hingegen umstritten.
23Der bislang überwiegende Teil der Rechtsprechung vertritt die Auffassung, dass ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung aufgrund einer zwischen dem Ende der ursprünglichen Bewährungszeit und dem Verlängerungsbeschluss begangenen Straftat ausgeschlossen ist (vgl. Fischer, StGB, 70. Auflage, § 56f, Rdnr. 3a m.w.N.).
24Nach Auffassung eines anderen Teils der Rechtsprechung sowie des Senats (vgl. Fischer, a.a.O.) ist ein Widerruf in diesen Fällen hingegen nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Vielmehr ist es eine Frage des allgemeinen Vertrauensschutzgrundsatzes (Art. 20 Abs. 3 GG), ob neue Straftaten, die zwischen dem Ende der regulären Bewährungszeit und dem Verlängerungsbeschluss begangen wurden, als Anknüpfungspunkt für einen Widerruf der Strafaussetzung herangezogen werden können. Zu prüfen ist deshalb, ob bei dem Verurteilten ein schutzwürdiges Vertrauen auf die Beendigung der Bewährungszeit vorlag, als er die neue Straftat beging oder nicht. Nicht schutzwürdig ist das Vertrauen danach dann, wenn der Verurteilte bereits vor dem Ende der regulären Bewährungszeit von der Prüfung der Verlängerung der Bewährungszeit im Hinblick auf einen früheren Bewährungsbruch erfahren hat und demnach nicht ohne Weiteres davon ausgehen durfte, dass die Bewährungszeit nicht verlängert wird (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 20. Oktober 2009 – 3 Ws 386/09 – NStZ-RR 2010, 127, 128 m.w.N.).
25Nach beiden Auffassungen scheiden demnach die Straftaten vom 13. Mai 2021 als Widerrufsgründe aus, da das formlos an den Beschwerdeführer übersandte Schreiben des Amtsgerichts Minden vom 1. Juni 2021, mit dem er zur beantragten Verlängerung der Bewährungszeit angehört wurde, den Beschwerdeführer erst nach Begehung der Straftaten vom 13. Mai 2021 erreicht haben kann.
26Hinweise darauf, dass der Beschwerdeführer bei Begehung der Straftaten vom 13. Mai 2021 aufgrund anderer Umstände damit rechnen musste, dass die ursprünglich bereits abgelaufene Bewährungszeit (nachträglich) noch verlängert werden könnte, lassen sich weder der beigezogenen Ermittlungsakte noch dem Bewährungsheft entnehmen, zumal selbst das Amtsgericht Minden einen Straferlass trotz der der Verurteilung vom 20. April 2021 zugrundeliegenden Straftat noch am 12. Mai 2021 für vertretbar hielt.
27Soweit die Formulierung in den schriftlichen Urteilsgründen des Amtsgerichts Minden vom 20. April 2021, wonach eine Entscheidung über den Straferlass noch nicht getroffen worden sei, als Umstand gewertet werden könnte, der einem schutzwürdigenden Vertrauen entgegensteht, konnte dem Abgangsvermerk in der beigezogenen Ermittlungsakte entnommen werden, dass die schriftlichen Urteilsgründe am 11. Mai 2021 formlos an den Beschwerdeführer abgesandt wurden, so dass jedenfalls nicht positiv festgestellt werden kann, dass die Urteilsgründe dem Beschwerdeführer vor Begehung der Straftaten vom 13. Mai 2021 bekannt waren.
28Die Kostenentscheidung ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.