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Zu einer Ausschlussklausel für Kosten infolge von – näher beschriebenen – „Vorerkrankungen“ in einer Reiserücktrittsversicherung: Wirksamkeit der Klausel offengelassen; Ausschluss im Streitfall verneint für vorbestehende Prostatavergrößerung.
Die Berufung der Beklagten gegen das am 11.11.2022 verkündete Urteil der 15. Zivilkammer des Landgerichts Münster wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten der Berufung.
Das angefochtene Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Berufungsstreitwert: 30.000 €
Gründe:
2I.
3Die Parteien streiten um Ansprüche aus einer Reiserücktrittsversicherung.
4Der Kläger ist über einen Kreditkartenvertrag (H. A. Card) im Rahmen eines zwischen der Beklagten als Versicherer und der H. M. Ltd. als Versicherungsnehmerin geschlossenen Gruppenversicherungsvertrages versichert.
5Dem Versicherungsverhältnis liegen die Allgemeinen Bedingungen für die Gruppenversicherung für H. A. Mitglieder bzgl. Reiserücktritt, Verschiebung und Nichtantritt der Reise (vor Reiseantritt) (im Folgenden: AVB, eGA-I 14 ff. [eGA-I für die elektronische Gerichtsakte erster Instanz und eGA-II für die elektronische Gerichtsakte zweiter Instanz]) zugrunde.
6Unter Ziff. II. B) 1, 1.1, 1.2, 1.2.1 AVB ist ausgeführt:
71 Leistungen für Sie
81.1 Diese Leistungen betreffen folgende Kosten:
9- bei Reiseunterbrechung und Reiseabbruch Ihre angemessenen notwendigen Heimreisekosten sowie
10- bei Reiseunterbrechung Kosten für die Wiederaufnahme Ihrer ursprünglich geplanten Reise oder
11- bei Reiseabbruch für bezahlte oder vorgebuchte und nicht rückerstattbare Kosten Ihrer ungenutzten Reise, Unterbringung, Exkursionen und Freizeitaktivitäten (es werden die nicht in Anspruch genommenen zu den Gesamt-Reisetagen ins Verhältnis gesetzt).
121.2 Sie erhalten insgesamt bis zu EUR 15.000, wenn Sie Ihre Reise ab- oder unterbrechen, weil:
131.2.1 Sie oder eine der mit Ihnen reisenden Personen oder eine Person, die Sie als Hauptziel Ihrer Reise besuchen, von Ihrer Reise einen Unfall hat, erkrankt oder stirbt.
14Der Begriff „Reise“ ist auf S.13 der AVB (eGA-I 149) nach den „Allgemeine(n) Definitionen für die Versicherungsleistungen Unterwegs“ u.a. wie folgt erläutert:
15- eine Reise außerhalb Ihres Heimatlandes, die in Ihrem Heimatland beginnt und endet (…)
16Unter Ziff. II. B) 2 AVB ist u.a. Folgendes ausgeführt:
172 Ausschlüsse
18Neben den allgemeinen Ausschlüssen für alle Reise-Versicherungsleistungen (siehe „Allgemeine Ausschlüsse für die Versicherungsleistungen unterwegs, Seite 12-13) gelten folgende besondere Ausschlüsse für die Verkürzung Ihrer Reise:
192.1 Stornierungskosten, die direkt oder indirekt aus Umständen entstehen, die Ihnen vor der Buchung Ihrer Reise oder als Sie Ihre A. Card und sonstige Karten auf Ihr Kartenkonto beantragten, bekannt waren.
202.2 Kosten infolge von Vorerkrankungen.
21Der Begriff „Vorerkrankungen“ ist unter dem Punkt „Allgemeine Definitionen für die Versicherungsleistungen Unterwegs“ wie folgt definiert (im Folgenden auch: Vorerkrankungsklausel):
22Vorerkrankung bedeutet:
23ein bereits vorher bekannter medizinischer Zustand, der Ihnen bekannt war, als Sie Ihre A. Card und andere Karten auf Ihr Kartenkonto beantragten bzw. vor Buchung Ihrer Reise, je nachdem was am kürzesten zurückliegt, und weswegen Sie:
24- Während der letzten 12 Monate einen Krankenhausaufenthalt hatten,
25- Testergebnisse erwarten oder auf der Warteliste für eine Operation, Konsultation oder Untersuchung stehen,
26- Innerhalb der letzten 3 Monate begonnen haben, Medikamente einzunehmen, oder die Einnahme geändert oder sich in Behandlung begeben haben,
27- alle 12 Monate oder häufiger eine medizinische, chirurgische oder psychiatrische Untersuchung benötigen,
28- die Prognose „unheilbar“ und/oder „chronisch“ erhalten haben.
29Unter Ziff. IV. 1 und 2 AVB heißt es (auszugsweise):
301 Obliegenheiten – was ist nach einem Versicherungsfall zu tun?
31[…]
321.2 Grundsätzlich besteht die Verpflichtung:
331.2.1 Nach Möglichkeit für die Abwendung und Minderung des Schadens zu sorgen.
34[…]
352 Folgen der Nichtbeachtung von Obliegenheiten
36Wird eine nach Eintritt eines Versicherungsfalles zu erfüllende Obliegenheit vorsätzlich verletzt, verlieren Sie den Versicherungsschutz.
37Bei grob fahrlässiger Verletzung einer Obliegenheit ist der Versicherer berechtigt, seine Leistungen in einem der Schwere Ihres Verschuldens entsprechenden Verhältnis zu kürzen. Beides gilt nur, wenn der Versicherer Sie durch gesonderte Mitteilung in Textform auf diese Rechtsfolgen hingewiesen hat.
38Weisen Sie nach, dass Sie die Obliegenheit nicht grob fahrlässig verletzt haben, bleibt der Versicherungsschutz bestehen.
39Nach der tabellarischen Übersicht auf Seite 6-7 der AVB (Bl. 19 f. eGA-II) beträgt die Versicherungssumme im Fall des Reiserücktritts, der Verschiebung und des Nichtantritts einer Reise 15.000,00 €. Nach Ziff. II A) 5 der AVB (Bl. 24 eGA-II) gelten die Versicherungssummen der Reise-Versicherungsleistungen in Höhe von 15.000,00 € pro Person.
40Unter dem 00.05.2021 buchte der Kläger für sich und seine Ehefrau für den Zeitraum vom 20.07.2021 bis 27.07.2021 eine Yacht-Charterreise mit Abfahrt und Ankunft in T. zum Preis von 54.720,00 € (Chartervertrag – eGA-I N01.; Nachtragsvereinbarung Chartervertrag, eGA-I N02), wobei die An- und Abreise nach und aus T. nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Landgerichts per Flug von und nach Deutschland erfolgten sollte.
41Der Kläger war im August 2019 wegen eines akuten Harnverhalts erstmals in ambulanter urologischer Behandlung in der Notaufnahme. Der Kläger erhielt dabei die Diagnose, er leide unter einer chronischen Prostatavergrößerung.
42Am 01.07.2021 begab sich der Kläger wegen Beschwerden in Gestalt eines akuten Harnverhalts in die Notaufnahme eines Krankenhauses.
43Am 02.07.2021 stornierte der Kläger deshalb die gebuchte Yacht-Charterreise. Mit E-Mail vom 02.07.2021 übersandte das Reisebüro ihm den „Cancellation Letter“ zum Chartervertrag und erklärte (Anlage K16, Bl. 385 eGA-I):
44„Wir werden alles versuchen, dass die Yacht erneut zu diesen Daten verchartert werden kann damit Hr. N. möglichst geringe Stornokosten hat.“
45In der Folge wurde der Kläger operiert.
46Mit Schreiben vom 17.12.2021 lehnte die Beklagte über die von ihr beauftragte I. Deutschland GmbH unter Hinweis auf die Vorerkrankungsklausel die Leistung ab.
47Das Landgericht hat der auf Zahlung von 30.000 € (je 15.000 € für Kläger und Ehefrau) nebst Zinsen sowie auf Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten gerichteten Klage bis auf einen geringen Teil der Zinsforderung stattgegeben. Es liege ein bedingungsgemäßer Versicherungsfall vor. Die Vorerkrankungsklausel halte einer AGB-rechtlichen Transparenzkontrolle nicht stand. Die klägerseits bestehende Obliegenheit zur Schadensminderung sei nicht verletzt. Die Beklagte habe hierzu nicht hinreichend vorgetragen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das angefochtene Urteil (Bl. 4 ff. eGA-II) Bezug genommen.
48Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstands in erster Instanz, der Anträge und der Entscheidung des Landgerichts wird auf das angefochtene Urteil (Bl. 4 ff. eGA-II) Bezug genommen.
49Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags mit ihrer Berufung. Erstmals in der Berufungsinstanz behauptet die Beklagte, die Versicherungsbedingungen seien nicht einseitig gestellt, sondern zwischen dem Versicherer (der Beklagten) und dem Versicherungsnehmer (H. M. Ltd.) ausgehandelt worden. Im Übrigen halte Ziffer 2.2 AVB i. V. m. Ziffer II. A) AVB – wie die Beklagte näher ausführt – entgegen der Auffassung des Landgerichts einer Inhaltskontrolle stand. Zuletzt sei es unzutreffend, dass die Beklagte zu einer Weitervermietung der Yacht hätte konkret vortragen müssen und insofern darlegungs- und beweisbelastet sei. Der Kläger sei zur Schadenminderung verpflichtet. Dieser hätte unschwer eine Anfrage an seinen Reisevertragspartner stellen können, ob eine Weitervermietung erfolgt sei. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Berufungsbegründung vom 17.04.2023 (Bl. 52 ff. eGA-II) Bezug genommen.
50Die Beklagte beantragt,
51das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
52Der Kläger beantragt,
53die Berufung zurückzuweisen.
54Er verteidigt das angefochtene Urteil mit näheren Ausführungen.
55Der Senat hat mit Hinweisbeschluss vom 05.07.2023 (Bl. 100 ff. eGA-II) mitgeteilt, dass er die Zurückweisung der Berufung beabsichtige. Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 09.08.2023 Stellung genommen (Bl. 134 ff. eGA-II). Auch darauf wird Bezug genommen.
56Gründe:
571. Der Senat weist die Berufung der Beklagten gemäß § 522 Abs. 2 S. 1 ZPO zurück. Der Senat ist einstimmig davon überzeugt, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung erfordern und eine mündliche Verhandlung auch sonst nicht geboten ist.
58a) Mit seinem Hinweisbeschluss vom 05.07.2023 hat der Senat ausgeführt:
59„Die Berufung ist unbegründet. Das Landgericht hat der Klage jedenfalls im Ergebnis zutreffend stattgegeben. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung der Versicherungsleistung in Höhe von insgesamt 30.000,00 € gemäß Ziff. II. B) 1.1, 1.2 und 1.2.1 AVB i.V.m. dem zwischen der Beklagten (Versicherer) mit der H. M. Ltd. (Versicherungsnehmerin) geschlossenen Gruppenversicherungsvertrages mit eingeschlossener Reiserücktrittsversicherung. Das Berufungsvorbringen der Beklagten rechtfertigt keine andere Entscheidung.
60Gegen die Wirksamkeit der Vorerkrankungsklausel bestehen Bedenken (1.). Die Frage bedarf aber letztlich keiner Entscheidung, weil die Klausel – deren Wirksamkeit unterstellt - dahin auszulegen ist, dass der Ausschluss im Streitfall nicht eingreift (2.). Der Kläger hat auch die Klageforderung erreichende oder diese übersteigende Stornierungskosten getragen (3.) und seine Schadensminderungsobliegenheit nicht verletzt (4.).
61Da die Beklagte das Vorliegen eines versicherten Ereignisses sowie das Nichteingreifen der Subsidiaritätsklausel mit der Berufung – zu Recht – nicht angegriffen hat, kommt es in der Berufungsinstanz nur noch auf diese Fragen an.
621. Es bestehen Bedenken, ob die Vorerkrankungsklausel wirksam ist.
63a) Die AVB des Gruppenversicherungsvertrags, in den der Kläger einbezogen worden ist, sind AGB i.S.v. § 305 Abs. 1 BGB, denn sie sind für eine Vielzahl von Verträgen vorformuliert und enthalten Vertragsbedingungen, die die Beklagte einseitig gestellt hat.
64Soweit die Beklagte erstmals in der Berufungsinstanz behauptet, die streitgegenständlichen Klauseln seien individuell zwischen ihr und der H. M. Ltd. ausgehandelt worden, bleibt dies ohne Erfolg.
65aa) Dieser Vortrag ist bereits aus Rechtsgründen unerheblich. Zwar kommt es für die Frage der Einbeziehung nach § 305 Abs. 2 BGB auf das Verhältnis zwischen Versicherungsnehmer – hier: der H. M. Ltd. – und Versicherer (der Beklagten) an (vgl. Senatsbeschluss vom 12. Oktober 2018 – 20 U 98/18 –, juris Rn. 9). Die Frage des Vorliegens von AGB im Sinne des § 305 Abs. 1 BGB bemisst sich aber bei Gruppenversicherungsverträgen nach Maßgabe des Verhältnisses zwischen den Versicherten und dem Versicherer. Entscheidend ist, ob die Ausschlussklausel für eine Vielzahl von vertraglichen Verhältnissen – nämlich jene zwischen den Versicherten (u.a. dem Kläger) und der Beklagten – vorformuliert ist und den Versicherten gegenüber verwendet wurden, ohne dass diese inhaltliche Gestaltungsmacht hätten ausüben können (vgl. im Einzelnen BGH, Urteil vom 19. November 2009 – III ZR 108/08 –, juris Rn. 12 ff. zu einem zwischen Fondsgesellschaft und Mittelverwendungskontrolleur ausgehandelten Mittelverwendungskontrollvertrag, der (nur) im Verhältnis zu den drittbegünstigten Anlegern der AGB-Kontrolle unterliegt). Im danach maßgeblichen Verhältnis zwischen dem Kläger und der Beklagten hat ein Aushandeln im Sinne des § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB indes nicht stattgefunden.
66bb) Überdies ist dieser das Aushandeln betreffende, erstmals in der Berufungsinstanz aufgestellte – und vom Kläger bestrittene – Vortrag nicht zulassungsfähig, weil von der Beklagten weder dargetan noch ersichtlich ist, weshalb er einen vom Landgericht erkennbar übersehenen oder für unerheblich gehaltenen Gesichtspunkt betreffen sollte oder infolge eines Verfahrensmangels oder ohne Nachlässigkeit der Klägerin nicht bereits erstinstanzlich geltend gemacht wurde (§§ 529 Abs. 1 Nr. 2, 531 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 ZPO).
67b) Es bestehen Bedenken, ob die Vorerkrankungsklausel das Transparenzverbot des § 307 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 S. 2 BGB wahrt, was – wäre dies nicht der Fall – zur Unwirksamkeit der Klausel führte (so im Ergebnis Prölss/Martin/Dörner, VVG, 31. Aufl. 2021, VBRR 2008/2018 Abs. 3 Ziff. 3 Rn. 3; anders – wirksam – für eine ganz ähnliche Klausellage OLG Stuttgart, Urteil vom 20.10.2022 – 7 U 69/21, sowie die von der Beklagten zitierten landgerichtlichen Entscheidungen).
68aa) Nach dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 1 BGB ist der Verwender Allgemeiner Geschäftsbedingungen gehalten, Rechte und Pflichten seines Vertragspartners möglichst klar und durchschaubar darzustellen. Dabei kommt es nicht nur darauf an, dass die Klausel in ihrer Formulierung für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer verständlich ist. Vielmehr gebieten Treu und Glauben, dass die Klausel die wirtschaftlichen Nachteile und Belastungen soweit erkennen lässt, wie dies nach den Umständen gefordert werden kann. Dem Versicherungsnehmer soll bereits im Zeitpunkt des Vertragsschlusses vor Augen geführt werden, in welchem Umfang er Versicherungsschutz erlangt und welche Umstände seinen Versicherungsschutz gefährden. Nur dann kann er die Entscheidung treffen, ob er den angebotenen Versicherungsschutz nimmt oder nicht. Der durchschnittliche Versicherungsnehmer braucht nach ständiger Rechtsprechung nicht mit Lücken im Versicherungsschutz zu rechnen, ohne dass eine Klausel ihm dies hinreichend verdeutlicht (vgl. nur BGH, Urteil vom 26. Januar 2022 – IV ZR 144/21 –, juris Rn. 29 m.w.N.). Ein Versicherer, der ein Leistungsversprechen durch nachfolgende Versicherungsklauseln einschränken will, muss dem Versicherungsnehmer aufgrund des Transparenzgebotes deutlich vor Augen führen, in welchem Umfang Versicherungsschutz trotz der Klausel noch besteht (BGH, NJW 2019, 3582 Rn. 21; BGH, NJW-RR 2015, 801 Rn. 23 m. w. N.). Die Allgemeinen Versicherungsbedingungen sind aus sich heraus zu interpretieren. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (BGH, Urteil vom 26.3.2014 – IV ZR 422/12 = NJW 2014, 2038, 2040 Rn. 37).
69Allgemeine Versicherungsbedingungen sind dabei so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen kann. Dabei ist im Regelfall auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und auch auf seine Interessen abzustellen (BGH, Urteil vom 10. Dezember 2014 – IV ZR 289/13 –, Rn. 22, juris). Liegt – wie hier – ein Gruppenversicherungsvertrag vor, so kommt es allerdings auch auf die Verständnismöglichkeiten durchschnittlicher Versicherter und ihre Interessen an (BGH a.a.O., m.w.N.).
70bb) Hieran gemessen bestehen Bedenken, ob der durchschnittliche Versicherte dem Ausschluss wegen Vorerkrankungen nach Ziff. II. B) 2 2. AVB hinreichend klar entnehmen kann, wann der Ausschluss greift.
71Zwar hält der Senat – anders als das Landgericht – die Definition der „Vorerkrankung“ als solche noch für hinreichend transparent im Sinne des § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB (1). Es ist aber möglicherweise nicht hinreichend transparent, in welchen Fällen eine Grunderkrankung zu einem Ausschluss des Versicherungsschutzes führt (2).
72(1) Anders als die Vorinstanz und das Amtsgericht Frankfurt a.M. (30 C 3330/18 – juris Rn. 16 ff.) hält der Senat die Definition der „Vorerkrankung“, auf die der Ausschluss aufbaut, als solche noch für hinreichend transparent im Sinne des § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB.
73(a) „Vorerkrankung“ ist nach den zitierten AVB „ein bereits vorher bekannter medizinischer Zustand, der Ihnen bekannt war, als Sie Ihre A. Card und andere Karten auf Ihr Kartenkonto beantragten bzw. vor Buchung Ihrer Reise, je nachdem was am kürzesten zurückliegt, und weswegen“ einer der in den nachfolgenden Spiegelstriche genannten Umstände vorliegt, wobei aus der Klausel für den durchschnittlichen Versicherten hinreichend deutlich hervorgeht, dass der Eintritt eines einzigen der unter den Spiegelstrichen genannten, auf dem „medizinischen Zustand“ beruhenden Umstände für den Ausschluss ausreicht.
74Der Senat hält den Begriff des „medizinischen Zustands“ als solchen für hinreichend transparent. Schon dadurch, dass er zur Definition der „Vorerkrankung“ herangezogen wird, kann der durchschnittliche Versicherte mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, dass es sich bei dem „medizinischen Zustand“ um einen pathologischen Zustand, also einen Zustand mit Krankheitswert handeln muss. Als „Erkrankung“ oder „Krankheit“ wird nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ein objektiv nach ärztlichem Urteil bestehender anormaler, regelwidriger Körper- oder Geisteszustand verstanden, der eine nicht ganz unerhebliche Störung körperlicher oder geistiger Funktionen mit sich bringt (vgl. BGH, Urteil vom 19. Oktober 2022 – IV ZR 185/20 –, juris Rn. 28).
75Aus den nachfolgend aufgeführten Umständen, die aus diesem Zustand erwachsen sind, namentlich ein Krankenhausaufenthalt in den letzten 12 Monaten (erster Spiegelstrich), zu erwartende Ergebnisse aus einer vorgenommenen Testung oder die Aufnahme auf eine Warteliste für eine Operation, Konsultation oder Untersuchung (zweiter Spiegelstrich), die Einnahme von Medikamenten, die Änderung einer solchen Einnahme oder das Begeben in Behandlung innerhalb der letzten drei Monate (dritter Spiegelstrich), die Notwendigkeit einer medizinischen, chirurgischen oder psychiatrischen Untersuchung alle 12 Monate (vierter Spiegelstrich) oder die Stellung der Prognose „unheilbar“ und/oder „chronisch“ (fünfter Spiegelstrich), geht hinreichend deutlich hervor, dass dieser Zustand mit Krankheitswert („medizinischer Zustand“) die genannten Maßnahmen (von Heilkundigen) zu deren Erkennung oder Behandlung nach sich gezogen haben muss.
76(b) Wie aus der Definition der „Vorerkrankung“ weiter hinreichend deutlich hervorgeht, muss der medizinische Zustand dem Versicherten bereits „vorher“ bekannt geworden sein, wobei der maßgebliche Zeitpunkt entweder die Beantragung der Karte oder „vor Buchung [der] Reise“ ist, wobei es auf den späteren Zeitpunkt ankommt („je nachdem was am kürzesten zurückliegt“). Aus der Sicht des verständigen Versicherungsnehmers beschreibt die Wendung „vor Buchung [der] Reise“ auch keinen unbestimmten und unbestimmbaren Zeitraum vor der Reisebuchung, sondern die juristische Sekunde, bevor die Buchung durchgeführt wird und damit im praktischen Ergebnis den Buchungszeitpunkt selbst.
77(c) Sodann begegnet die Klausel auch keinen Transparenzbedenken insoweit, wie die unter dem ersten und dritten Spiegelstrich genannten, auf dem „medizinischen Zustand“ beruhenden und zum Ausschluss führenden Umstände in zeitlicher Hinsicht eingegrenzt sind (erster Spiegelstrich: „während der letzten 12 Monate einen Krankenhausaufenthalt hatten“; zweiter Spiegelstrich: „innerhalb der letzten 3 Monate begonnen haben, Medikamente einzunehmen, oder die Einnahme geändert oder sich in Behandlung begeben haben“).
78Hieraus ergibt sich für den durchschnittlichen Versicherten, dass ihm bekannte „medizinische Zustände“, die nicht chronifiziert oder unheilbar sind (ansonsten greift der Ausschluss nach dem fünften Spiegelstrich), bei einem länger als 12 Monate zurückliegenden Krankenhausaufenthalt (erster Spiegelstrich) bzw. länger als 3 Monate zurückliegenden medikamentösen Behandlungsmaßnahmen (dritter Spiegelstrich, mit weiteren Einzelheiten) den Versicherungsschutz nicht gefährden.
79Der durchschnittliche Versicherte kann auch – wie erforderlich (vgl. BGH, Urteil vom 10. Dezember 2014 – IV ZR 289/13 –, juris Rn. 31) – den Zwölf- bzw. Dreimonatszeitraum bestimmen. Aus den Spiegelstrichen selbst geht zwar nicht hervor, wann der jeweilige Zeitraum beginnen und demgemäß enden soll. Nimmt aber der um Verständnis bemühte durchschnittliche Versicherte den einleitenden Satz in den Blick, so wird er erkennen, dass das Ende des Zeitraums auf den letzten der dort definierten Zeitpunkte, regelmäßig also den Buchungszeitpunkt (siehe oben), fallen soll.
80(d) Dies zu Grunde gelegt wird der durchschnittliche Versicherte bei „medizinischen Dauerzuständen“, aus denen „Akutzustände“ erwachsen können, sowohl den Dauerzustand als auch den Akutzustand als Anknüpfungspunkt für eine zum Ausschluss führende „Vorerkrankung“ in Betracht zu ziehen haben. Denn bei beiden Zuständen handelt es sich um „medizinische Zustände“ im vorgenannten Sinne. Dem entspricht, dass der Bundesgerichtshof – wenn auch betreffend die Leistungsbeschreibung (und nicht den Risikoausschluss) einer Reiserücktrittsversicherung – zum Begriff der „unerwarteten und schweren Erkrankung“ ausgeführt hat, dass der durchschnittliche Versicherungsnehmer die schlechte Entwicklung einer Dauererkrankung als eigenständige „Erkrankung“ ansehen wird (vgl. BGH, Urteil vom 19. Oktober 2022 – IV ZR 185/20 –, juris Rn. 28). Auf diese Weise hat der Bundesgerichtshof die unerwartete schlechte Entwicklung einer Dauererkrankung in den Versicherungsschutz einbezogen.
81Beispielhaft und auf den hier zu entscheidenden Fall bezogen ist demgemäß sowohl eine Prostatavergrößerung als auch ein hieraus erwachsender akuter Harnverhalt als eigenständiger „medizinischer Zustand“ zu begreifen.
82(2) Die Klausel in Ziff. II. B) 2 2. AVB, die Kosten „infolge“ Vorerkrankungen ausschließt, beantwortet nun aber möglicherweise nicht hinreichend klar die Frage, ob, wenn (erst) der Eintritt eines Akutzustands, bei welchem keine der Voraussetzungen der in der Klausel genannten Spiegelstriche erfüllt ist, die Kosten hat entstehen lassen, gleichwohl der Ausschluss greift.
83(a) Für letzteres kann angeführt werden, dass das Wort „infolge“ nach allgemeinem Sprachgebrauch einen allgemeinen Ursächlichkeitszusammenhang beschreibt, der durch die Klausel sprachlich nicht begrenzt wird.
84Nimmt der um Verständnis bemühte durchschnittliche Versicherte indes Ziff. II. B) 2 1. AVB in den Blick, der für den Kausalzusammenhang zwischen „bekannten Umständen“ und „Stornierungskosten“ ausdrücklich sowohl unmittelbare als auch mittelbare Kausalität ausreichen lässt („direkt oder indirekt“), so erscheint zweifelhaft, ob mit der Verwendung des abweichenden Begriffs „infolge“ in Ziff. II. B) 2 2. AVB eine abweichende Regelung beabsichtigt gewesen ist.
85(b) Neben dem Wortlaut wird der durchschnittliche Versicherte auch den für ihn erkennbaren Vertragszweck in die Auslegung miteinbeziehen (vgl. BGH, Urteil vom 19. Oktober 2022 – IV ZR 185/20 –, juris Rn. 29). Auch das spricht gegen ein Verständnis im Sinne eines weitreichenden Ausschlusses, wie die Beklagte ihn geltend macht.
86Durch den Abschluss einer Reise-Rücktrittsversicherung oder Reiseabbruch-Versicherung möchte der durchschnittliche Versicherungsnehmer vor den Kosten geschützt werden, die dadurch entstehen, dass er oder die versicherte Person eine gebuchte Reise krankheitsbedingt nicht planmäßig antreten oder fortsetzen können. Dabei wird er sich bewusst sein, dass ein Versicherer im Hinblick auf seine Prämiengestaltung grundsätzlich keine Gefahren versichert, die bereits bei Vertragsschluss oder bei Antritt der Reise bekannt sind, im vorliegenden Fall also keinen versicherten Personen Schutz gewähren möchte, die schon bei Abschluss der Versicherung von ihrer krankheitsbedingten Reiseunfähigkeit wissen. Ist einem Versicherten der Antritt oder die Fortsetzung einer Reise wegen der Verschlechterung einer Dauererkrankung nicht zumutbar, so wird der durchschnittliche Versicherte diesen als "unerwartet“ ansehen, wenn der Versicherte bei Vertragsschluss nicht mit der Verschlechterung gerechnet hat (vgl. BGH, Urteil vom 19. Oktober 2022 – IV ZR 185/20 –, juris Rn. 29).
87Diese Erwägungen des Bundesgerichtshofs sind auf die hiesige Ausschlussklausel übertragbar. Zwar stellt diese nicht ausdrücklich auf die „mangelnde Erwartbarkeit“ einer Erkrankung ab. Indem Ziff. II. B) 2 1. und Ziff. II. B) 2 2. AVB aber auf die „Bekanntheit“ des Umstands bzw. „medizinischen Zustands“ abstellen, wird die versicherte Person – zugleich unter Einbeziehung der unter den Spiegelstrichen zu Ziff. II. B) 2 2. AVB aufgeführten Umstände – erkennen, dass der Versicherer grundsätzlich keinen Versicherungsschutz für bekannte „medizinische Zustände“ versprechen will, die in der Vergangenheit zu Maßnahmen der Behandlung oder Diagnostik geführt haben oder führen werden und deshalb hinreichend absehbar (mithin: erwartbar) zu einer Reiseunfähigkeit führen könnten. Insofern hat die Beklagte – für den durchschnittlichen Versicherer erkennbar – mit den Spiegelstrichen gleichsam Fälle typischer Erwartbarkeit definiert.
88Der durchschnittliche Versicherte wird dabei nicht davon ausgehen, dass auch weit verbreitete Beschwerden mit chronifiziertem Krankheitswert – wie etwa Bluthochdruck, Übergewicht oder Diabetes –, die ggf. gut „eingestellt“ sind und als solche einer Reise nicht entgegenstehen, sich bei unglücklichem Verlauf aber zu unvorhergesehen Akutzuständen entwickeln können, stets und unabhängig von ihrem Schweregrad und ihres Risikos für Komplikationen den Versicherungsschutz gefährden können sollen (vgl. BGH, Urteil vom 10. Dezember 2014 – IV ZR 289/13 –, juris 26 zur Ratenschutzversicherung). Auf dieser Linie liegt es auch, wenn der Bundesgerichtshof einen Herzinfarkt, der auf einer bekannten – insbesondere auch koronare – Vorerkrankung beruht, trotzdem als versicherte „unerwartete“ Erkrankung angesehen hat (BGH, Beschluss vom 21. September 2011 – IV ZR 227/09 –, juris Rn. 4).
89Damit widerspräche es möglicherweise dem für den durchschnittlichen Versicherten erkennbaren Vertragszweck, wenn bei chronifizierten Grunderkrankungen stets auch an diese – und nicht nur an den Akutzustan – als dem Versicherten bekannter „medizinischer Zustand“ angeknüpft werden könnte, wie es indes Wortlaut und Systematik der Ausschlussklausel zulassen.
902. Der Senat kann die Frage nach der Wirksamkeit der Klausel indes vorliegend offenlassen.
91Denn jedenfalls wird der durchschnittliche Versicherte bei Lektüre der Klausel nicht davon ausgehen, dass eine Prostatavergrößerung, welche selbst der Reise nicht entgegensteht, ein „Zustand“ sei, infolge dessen (Reiserücktritts-)Kosten entstehen könnten. Bei der Auslegung von Ausschlüssen ist zu berücksichtigen, dass der durchschnittliche Versicherungsnehmer nicht mit Lücken im Versicherungsschutz zu rechnen braucht, ohne dass eine Klausel ihm dies hinreichend verdeutlicht (vgl. Nachweise oben).
92Die Beklagte hat – durch die Definition des Begriffs Vorerkrankung – für den Ausschluss darauf abgestellt, ob ein bestimmter „Zustand“ des Versicherten (Reiserücktritts-)Kosten zur Folge hat. Die Prostatavergrößerung des Klägers ist nun zwar ein „medizinischer Zustand“, der dem Kläger zum Zeitpunkt der Buchung bekannt war und dessentwegen der Kläger die Prognose „chronisch“ erhalten hatte (fünfter Spiegelstrich). Eine vergrößerte Prostata, wie der Kläger sie hatte, war aber nach dem Verständnis eines durchschnittlichen Versicherten, der dabei die vorstehend erörterten Überlegungen anstellen wird, nicht ein „Zustand“, welcher der Reise entgegenstand und welcher deshalb (Reiserücktritts-)Kosten zur Folge haben könnte. Der Zustand Prostatavergrößerung erlaubte die Reise ohne Weiteres und ist als solcher unverändert geblieben. Nicht dieser Zustand, sondern allein die Akuterkrankung Harnverhalt, ein ganz anderer „Zustand“, stand der Reise entgegen.
93Dann aber greift der Ausschluss nicht ein. Denn der Kläger hatte nicht „während der letzten 12 Monate“ (vor der Buchung) einen Krankenhausaufenthalt wegen eines Harnverhalts (erster Spielstrich) und auch keiner der anderen Spiegelstriche ist feststellbar einschlägig.
943. Der Kläger hat Stornierungskosten in Höhe von 36.000 € – nd damit in Höhe eines die Klageforderung übersteigenden Betrags – getragen.
95Wie der Kläger mit erstinstanzlichem Schriftsatz vom 05.09.2022 (dort S. 16 = Bl. 248 eGA-I) unter Bezugnahme auf den Chartervertrag nebst Ergänzungsabrede (Anlage K10 und K11 = Bl. N01 ff. eGA-I) näher dargelegt hat, blieb er zur Zahlung der Charter Fee i.H.v. 36.000 € verpflichtet. Dem ist die Beklagte auch nicht weiter entgegengetreten.
96Die der Würdigung des Landgerichts zugrundeliegende Feststellung, weder sei dem Kläger die Chartermiete (anteilig) aufgrund einer erfolgten Weitevermietung zurückerstattet worden, noch sei dieser von seinem Reisebüro von einer Weitervermietung in Kenntnis gesetzt worden, greift die Beklagte mit ihrer Berufung nicht an.
97Damit ist aber festgestellt, dass der Kläger Stornokosten in einer die Klageforderung übersteigenden Höhe getragen hat.
984. Ob der Kläger – entsprechend dem letztgültigen Vortrag der Beklagten erster Instanz (Schriftsatz vom 21.12.2022, dort S. 3 – Bl. 391 eGA-I) sowie ihrem Berufungsangriff – durch eine Anfrage beim Reisebüro in Erfahrung hätte bringen können, ob eine Weitervermietung erfolgt ist, betrifft allenfalls die Frage – wie die Beklagte mit ihrer Berufung selbst erkennt (Berufungsbegründung, S. 5 = Bl. 56 eGA-II) – der Schadensminderungsobliegenheit nach Ziff. IV. 1.2.1 AVB (siehe aber auch OLG Stuttgart, Urteil vom 22. Dezember 2000 – 7 U 110/00 –, juris Rn. 37 ff.: keine Obliegenheit des Versicherungsnehmers in der Rechtsschutzversicherung, an der Rückforderung überhöhter Rechtsanwaltsgebühren mitzuwirken; näher Prölss/Martin/Voit, VVG, 31. Aufl. 2021, § 82 Rn. 11 ff.).
99Hieran gemessen scheidet jedenfalls eine zur Leistungskürzung berechtigende grobe Fahrlässigkeit nach Ziff. IV. 2 AVB aus. Der Kläger durfte sich aufgrund der E-Mail des Reisebüros vom 02.07.2021 darauf verlassen, dass das Reisebüro hinreichende Bemühungen zur Weitervercharterung der Yacht entfalten und ihn im Erfolgsfalle kontaktieren würde. Das Unterlassen eigener Nachforschungen hinsichtlich etwaiger Rückforderungsansprüche kann deshalb nicht als grob fahrlässig angesehen werden.“
100b) An dieser Beurteilung hält der Senat nach erneuter Prüfung und unter Berücksichtigung der mit Schriftsatz vom 04.07.2023 erhobenen Einwendungen der Beklagten fest und verweist auch im Übrigen auf den Hinweisbeschluss.
101aa) Soweit die Beklagte einwendet, die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu „unerwarteten Vorerkrankungen“ sei auf die hier in Rede stehende Klausel nicht übertragbar, trifft es im Ausgangspunkt zu und hat auch der Senat ausdrücklich anerkannt, dass die hier in Rede stehende Klausel nicht auf „unerwartete Vorerkrankungen“, sondern auf einen „bereits vorher bekannten medizinischen Zustand“ abstellt.
102Die Klausel schließt aber nicht schlechthin alle bekannten „medizinischen Zustände“ aus dem Versicherungsschutz (Ersatz von „Kosten infolge Vorerkrankungen“) aus, sondern nur solche, die – wie es im Einzelnen in den Spiegelstrichen geregelt ist – in der Vergangenheit zu Maßnahmen der Behandlung oder Diagnostik geführt haben oder noch (avisiert) führen werden. Mit dieser Ausgestaltung errichtet die Klausel nach ihrem für den durchschnittlichen Versicherten erkennbaren Sinn und Zweck nicht nur eine gewisse Erheblichkeitsschwelle betreffend den „medizinischen Zustand“, sondern stellt in der Sache auf solche „medizinischen Zustände“ ab, die (noch) nicht (mit hinreichender Sicherheit) „ausgeheilt“ sind und deshalb hinreichend absehbar (und damit eben doch: für den Versicherten „erwartbar“) zu einer Reiseunfähigkeit und damit zum Eintritt des Versicherungsfalls führen könnten. Dies erkennt letztlich auch die Beklagte in ihrer Stellungnahme, wenn sie ausführt, dass mit den Spiegelstrichen „ausschließlich solche Fälle ausgeschlossen [werden], welche ein erhöhtes Risiko für eine Reiseunfähigkeit mit sich bringen“.
103Insofern hat die Beklagte – für den durchschnittlichen Versicherer erkennbar – mit den Spiegelstrichen gleichsam Fälle „typischer Erwartbarkeit“ definiert. Dieser für den durchschnittlichen Versicherten erkennbare Vertragszweck ist – wie im Hinweisbeschluss ausgeführt – in die Auslegung miteinzubeziehen (vgl. BGH, Urteil vom 19. Oktober 2022 – IV ZR 185/20 –, juris Rn. 29).
104Aus diesem Grund hält der Senat die Wertungen des Bundesgerichtshofs zu Klauseln, die auf „unerwartete Vorerkrankungen“ abstellen, für grundsätzlich auf die hiesige Klausel übertragbar, insbesondere also, dass der durchschnittliche Versicherte, der die Reise wegen der Verschlechterung einer Dauererkrankung nicht antreten kann, nach dem Leistungsversprechen des Versicherers Versicherungsschutz genießen soll, wenn die Verschlechterung nicht im Sinne der Spiegelstrichaufzählung „typisiert erwartbar“ war (vgl. BGH, Urteil vom 19. Oktober 2022 – IV ZR 185/20 –, juris Rn. 29).
105Diesem für den durchschnittlichen Versicherten erkennbaren Vertragszweck kann – unter Zurückstellung der im Hinweisbeschluss ausgeführten Wirksamkeitsbedenken –durch Auslegung zur Geltung verholfen werden. Weil die Vorerkrankungsklausel aufgrund ihres offenen Kausalitätsmaßstabs („infolge“) offen lässt, ob bei der Verschlechterung von Dauererkrankungen auf die Grunderkrankung oder den Akutzustand (oder beide) abzustellen ist, lässt sie – wie im Hinweisbeschluss ausgeführt – auch eine vertragszweckentsprechende Auslegung des Inhalts zu, dass bei der unerwarteten Verschlechterung einer Dauererkrankung nur der Akutzustand – und nicht die Grunderkrankung – der maßgebliche „medizinische Zustand“ ist.
106bb) Entgegen der Auffassung der Beklagten ist ein solcher Fall der unerwarteten Verschlechterung einer Dauererkrankung hier auch gegeben.
107Das Landgericht hat mit dem – von der Beklagten unangegriffenen – unstreitigen Tatbestand festgestellt, dass sich der Kläger am 01.07.2021 „wegen Beschwerden in Gestalt eines akuten Harnverhalts in die Notaufnahme eines Krankenhauses“ begab und „deswegen“ am Folgetag die gebuchte Yacht-Charterreise stornierte. Soweit die Beklagte mit ihrer Stellungnahme nunmehr nahelegen will, der Kläger habe sich im Juli 2021 nicht wegen eines akuten Harnverhalts, sondern allein wegen der Grunderkrankung „Prostatavergrößerung“ in medizinische Behandlung begeben, ist dies deswegen mit dem tatbestandlich als unstreitig festgestellten übereinstimmenden Parteivortrag unvereinbar.
108Sollte die Beklagte insoweit mit ihrer Stellungnahme beabsichtigt haben, erstmals in der Berufungsinstanz abweichend vorzutragen, wäre dieser – streitige, weil dem erstinstanzlichen Klägervorbringen widersprechende – Vortrag nicht nach Maßgabe des § 529 Abs. 1 Nr. 2 ZPO berücksichtigungsfähig, weil weder dargetan noch erkennbar ist, dass dieser Vortrag infolge eines Verfahrensmangels im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht wurde (§ 531 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) oder die Nichtgeltendmachung nicht auf einer Nachlässigkeit der Beklagten (§ 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO) beruht. Es sind damit die landgerichtlichen Feststellungen zu Grunde zu legen.
109Zutreffend ist zwar, dass der akute Harnverhalt auf der auf der im August 2019 diagnostizierten Grunderkrankung „chronische Prostatavergrößerung“ beruhte und deswegen dieser „medizinische Zustand“ die Reiserücktrittskosten mittelbar hervorgebracht hat. Wie ausgeführt, muss der Leistungsausschluss („Kosten infolge Vorerkrankungen“) aber für Fälle einer akuten und (nach Maßgabe der Spiegelstriche typisiert) „unerwarteten“ Verschlechterung einer Dauererkrankung so ausgelegt werden, dass für die Kausalitätsbeziehung („infolge“) zwischen „medizinischem Zustand“ und „Kosten“ an den Akutzustand anzuknüpfen ist, es also darauf ankommen, ob hinsichtlich des Akutzustandes einer der Spiegelstriche einschlägig ist. Dass dies hinsichtlich des „medizinischen Zustands“ des akuten Harnverhalts nicht der Fall war, stellt die Beklagte zu Recht nicht in Abrede.
1102. Die Ausführungen des Senats zur Höhe der Stornierungskosten und der Nichtverletzung der Schadensminderungsobliegenheit hat die Beklagte mit ihrer Stellungnahme nicht angegriffen, so dass sich weitere Ausführungen hierzu erübrigen.
1113. Der Senat kann nach § 522 Abs. 2 ZPO verfahren. Die Entscheidung beruht auf einer Anwendung der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung. Abweichende obergerichtliche Rechtsprechung ist nicht ersichtlich. Soweit – entgegen den hier formulierten Bedenken – in der obergerichtlichen Rechtsprechung vergleichbare Vorerkrankungsklauseln für wirksam gehalten wurden, begründet dies keine Divergenz, weil der Senat die Wirksamkeit der Klausel offenlässt.
112III.
113Die Nebenentscheidungen ergeben sich aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der angefochtenen Entscheidung folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.