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Der durch den Fahrzeugerwerb in den „Dieselfällen“ geschädigte Fahrzeugkäufer kann auch im Rahmen von § 852 Satz 1 BGB den kleinen Schadensersatz gegen den Fahrzeughersteller geltend machen.
Für die Berechnung des kleinen Schadensersatzes im Rahmen von § 852 Satz 1 BGB ist eine etwaige Händlermarge ohne Bedeutung, sofern der vom Fahrzeughersteller erlangte Händlereinkaufspreis den objektiven Fahrzeugminderwert im Kaufzeitpunkt übersteigt.
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 18.08.2022 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn, Az. 4 O 85/22, unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, 3.425,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 29.04.2022 an die Klägerin zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die bis zum 10.07.2022 entstandenen Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Klägerin zu 82 % und die Beklagte zu 18 %. Die danach entstandenen Kosten des Rechtsstreits erster Instanz sowie die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Klägerin zu 62 % und die Beklagte zu 38 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
G r ü n d e
2(abgekürzt gemäß § 540 Abs. 2, § 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO)
3I.
4Die Berufung ist zulässig und teilweise begründet.
51. Die Klägerin erwarb mit Bestellung vom 29.01.2013 ein von der Beklagten hergestelltes Neufahrzeug des Typs VW Tiguan zum Preis von 34.250 €. Der in dem Fahrzeug verbaute Dieselmotor der Baureihe EA 189 enthielt die bekannte „Umschaltlogik.“
62. Mit dem Fahrzeugerwerb ist ein Anspruch der Klägerin auf Schadensersatz gemäß §§ 826, 31 BGB entstanden (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316, Rn. 12 ff.). Der geschädigte Fahrzeugkäufer kann im Rahmen eines solchen Anspruchs den sogenannten kleinen Schadensersatz verlangen, wie es die Klägerin vorliegend tut (BGH, Urteil vom 06.07.2021 – VI ZR 40/20, BGHZ 230, 224, Rn. 15 ff.).
7Der Anspruch aus §§ 826, 31 BGB ist jedoch, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt und begründet hat, verjährt. Auf das Software-Update und das darin enthaltene, möglicherweise unzulässige Thermofenster kommt es für die Verjährung nicht an: Eine etwaige erneute Schädigung durch das Update hat keine Hemmung der Verjährung des hier fraglichen, aus dem Fahrzeugerwerb resultierenden Anspruchs bewirkt. Ein womöglich aus dem Update resultierender neuer, selbständig verjährender Schadensersatzanspruch ist nicht streitgegenständlich (vgl. BGH, Urteil vom 10.10.2022 – VIa ZR 652/21, Rn. 12).
83. Ein etwaiger Anspruch der Klägerin auf Ersatz des mit dem Fahrzeugerwerb entstandenen sogenannten Differenzschadens gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV (vgl. BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21, Rn. 28 ff.) ist ebenfalls verjährt (vgl. BGH, Urteil vom 13.06.2022 – VIa ZR 680/21, Rn. 25 ff.). Der Einwand der Berufung, eine auf europarechtliche Vorschriften gestützte Klageerhebung sei aufgrund der entgegenstehenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2020 unzumutbar gewesen, greift nicht durch (vgl. BGH a.a.O., Rn. 27), zumal die Verjährung im vorliegenden Fall schon mit Ablauf des Jahres 2019 vollendet war.
94. Gemäß § 852 Satz 1 BGB kann die Klägerin trotz der Verjährung der genannten Ansprüche noch Zahlung von 3.425 € als sogenannten Restschadensersatz verlangen.
10a) § 852 Satz 1 BGB setzt voraus, dass „der Ersatzpflichtige durch eine unerlaubte Handlung auf Kosten des Verletzten etwas erlangt“ hat. Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt, da die Neuwagenbestellung der Klägerin eine entsprechende Bestellung des Händlers bei der Beklagten auslöste, wodurch die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung des Händlereinkaufspreises erlangte. Nach Erfüllung dieser Forderung durch den Händler setzt sich die Bereicherung der Beklagten gemäß § 818 Abs. 1 Halbsatz 2 BGB an dem vom Händler erlangten Entgelt fort (vgl. BGH, Urteil vom 21.02.2022 – VIa ZR 57/21, Rn. 13 f.).
11Der besagte Zusammenhang zwischen der Fahrzeugbestellung der Klägerin und der Bestellung des Händlers ergibt sich aus dem Vortrag der Klägerin und aus der Anlage K1 zur Klageschrift („Verbindliche Volkswagen-Bestellung“ vom 29.01.2013, Bl. 36 eGA I). Letztere belegt durch die Angabe „Liefertermin: KW 17.2013 unverbindlich“, dass das Fahrzeug noch von der Beklagten produziert und geliefert werden musste. Der Händler hatte das Fahrzeug also nicht etwa unabhängig von der Bestellung der Klägerin auf eigene Kosten und eigenes (Absatz-)Risiko erworben (vgl. BGH, Urteil vom 21.03.2022 – VIa ZR 275/21, Rn. 28).
12b) Der Restschadensersatzanspruch ist nicht verjährt. Die zehnjährige Verjährungsfrist gemäß § 852 Satz 2 BGB war bei Klageerhebung noch nicht abgelaufen, sodass die Verjährung gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB gehemmt ist.
13c) Der durch den Fahrzeugerwerb in den „Dieselfällen“ geschädigte Fahrzeugkäufer kann auch im Rahmen von § 852 Satz 1 BGB den kleinen Schadensersatz verlangen (OLG München, Urteil vom 19.05.2022 – 24 U 4614/21, juris Rn. 16; OLG Köln, Urteil vom 17.08.2022 – 22 U 30/22, juris Rn. 22; OLG Köln, Urteil vom 23.08.2022 – 3 U 190/21, juris Rn. 23; OLG München, Urteil vom 21.12.2022 – 7 U 6463/21, juris Rn. 44; OLG Dresden, Urteil vom 01.02.2023 – 13 U 1920/22, juris Rn. 7; OLG Frankfurt, Urteil vom 06.03.2023 – 26 U 65/22, juris Rn. 22; a.A. OLG München, Urteil vom 27.06.2022 – 17 U 8117/21, juris Rn. 38). Sowohl der große als auch der kleine Schadensersatz dienen dem Ausgleich des durch den Fahrzeugerwerb entstandenen Schadens. Ist dem Hersteller durch den Fahrzeugerwerb ein Vermögensvorteil zugeflossen, gibt § 852 Satz 1 BGB dem Geschädigten die Möglichkeit, zur Befriedigung seines an sich verjährten Anspruchs auf diesen Vorteil zuzugreifen. Es besteht kein rechtlicher oder tatsächlicher Grund, den Geschädigten dabei auf eine der beiden (gleichwertigen) Arten der Schadensberechnung festzulegen.
14Ob auch der Differenzschaden gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV im Rahmen von § 852 Satz 1 BGB geltend gemacht werden kann, kann dahinstehen, da er jedenfalls im vorliegenden Fall dem kleinen Schadensersatz entspricht (vgl. zur Berechnung des Differenzschadens BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21, Rn. 40 a.E., 71 ff.).
15d) Die Höhe des zuerkannten Restschadensersatzes resultiert aus folgenden Erwägungen:
16aa) Im Ausgangspunkt ist der kleine Schadensersatz in den „Dieselfällen“ auf den Ausgleich der Differenz zwischen dem Kaufpreis und dem objektiven Fahrzeugwert im Kaufzeitpunkt gerichtet. Zu berücksichtigen sind die mit der unzulässigen Abschalteinrichtung verbundenen Nachteile, insbesondere das Risiko behördlicher Anordnungen (BGH, Urteil vom 06.07.2021 – VI ZR 40/20, BGHZ 230, 224, Rn. 23 f.; Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21, Rn. 76).
17Vorliegend schätzt der Senat den aus der „Umschaltlogik“ resultierenden objektiven Minderwert des Fahrzeugs im Kaufzeitpunkt gemäß § 287 ZPO auf 10 % des Kaufpreises, also auf 3.425 €. Aufgrund der evidenten Rechtswidrigkeit der „Umschaltlogik“ bestand die ernstzunehmende Gefahr behördlicher Maßnahmen bis hin zur Betriebsuntersagung (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316, Rn. 21). Allzu hoch war dieses Risiko allerdings nicht, da die Stilllegung von Millionen Fahrzeugen gutgläubiger Kunden schwer zu vermitteln gewesen wäre. Es lag daher – auch aus der gebotenen Sicht ex ante – deutlich näher, dass eine technische Lösung (auf Kosten des Herstellers) angeordnet werden würde. Der Behauptung der Klägerin, der objektive Minderwert habe mindestens 25 % des Kaufpreises betragen, ist daher nicht zu folgen.
18Die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Wertfrage ist nicht veranlasst (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – VIa ZR 335/21, Rn. 78 zum Differenzschaden). Es ist nicht ersichtlich, auf welcher Basis ein Gutachter belastbare Feststellungen zum objektiven Minderwert treffen könnte. Das insoweit maßgebliche Stilllegungsrisiko im Kaufzeitpunkt kann ein Sachverständiger nicht besser beurteilen als der Senat. Das Vorbringen der Beklagten zur tatsächlichen Wertentwicklung nach Aufdeckung des Abgasskandals bietet keine brauchbaren Anknüpfungstatsachen, da im fraglichen Zeitraum bereits eine technische Lösung in Aussicht stand.
19bb) Eine Anspruchskürzung nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung findet im vorliegenden Fall nicht statt.
20(1) Im Rahmen des kleinen Schadensersatzes ist eine etwaige nachträgliche Aufwertung des Fahrzeugs durch ein Software-Update als Vorteil zu berücksichtigen. Dies kommt allerdings nur in Betracht, wenn und soweit das Update die Gefahr von Betriebsbeschränkungen signifikant reduziert, was wiederum nur dann der Fall sein kann, wenn es nicht seinerseits eine unzulässige Abschalteinrichtung beinhaltet. Die Beweislast trägt der Hersteller (vgl. BGH, Urteil vom 06.07.2021 – VI ZR 40/20, BGHZ 230, 224, Rn. 24; Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21, Rn. 80).
21Vorliegend macht die Beklagte geltend, dass das im Software-Update enthaltene Thermofenster keine unzulässige Abschalteinrichtung darstelle. Das ist rechtlich zweifelhaft (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 08.11.2022 – C-873/19, juris Rn. 83 ff.). So legt die Beklagte nicht dar, dass keine andere technische Lösung zur Stickoxidreduzierung ohne die mit dem Thermofenster verbundenen Limitierungen bestanden habe, etwa mittels eines SCR-Systems (vgl. EuGH a.a.O., Rn. 94). Im Ergebnis besteht zumindest eine erhebliche rechtliche Unsicherheit, sodass eine signifikante Werterhöhung durch das Software-Update zu verneinen ist.
22(2) Der vom Käufer gezogene Nutzungsvorteil und der aktuelle Restwert des Fahrzeugs sind im Rahmen des kleinen Schadensersatzes schadensmindernd anzurechnen, wenn und soweit sie – zusammengenommen – den objektiven Fahrzeugwert im Kaufzeitpunkt übersteigen (BGH, Urteil vom 24.01.2022 – VIa ZR 100/21, Rn. 16 ff., insb. Rn. 22).
23Vorliegend schätzt der Senat den objektiven Fahrzeugwert im Kaufzeitpunkt, wie bereits dargelegt, auf 90 % des Kaufpreises, also auf 30.825 €.
24Den von der Klägerin gezogenen Nutzungsvorteil schätzt der Senat auf 17.695,83 €. Der Betrag resultiert nach der üblichen Berechnungsformel (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 354/19, BGHZ 226, 322, Rn. 12 f.) aus dem Bruttokaufpreis von 34.250 €, der unstreitigen aktuellen Laufleistung von 155.000 km und einer geschätzten Gesamtlaufleistung von 300.000 km.
25Eine Vorteilsausgleichung nach dem oben dargelegten Grundsatz würde somit voraussetzen, dass der aktuelle Restwert des Fahrzeugs einen Betrag 13.129,17 € übersteigt (30.825 € minus 17.695,83 €). Ein derart hoher Wert ist – auch im Wege der Schätzung – nicht feststellbar. Erstinstanzlich hat die darlegungs- und beweisbelastete Beklagte einen Restwert von lediglich 9.922 € behauptet. Ihr neuer Vortrag, der Restwert betrage 17.122 €, basiert auf der offensichtlich ungeeigneten Formel „Restwert gleich Kaufpreis minus Nutzungsvorteil“ und stellt sich daher als unbeachtliche Behauptung „ins Blaue hinein“ dar. Jedenfalls bietet der neue Vortrag weder eine geeignete Schätzgrundlage noch Anlass für eine Begutachtung.
26cc) Der Umstand, dass die Beklagte nicht den gesamten Kaufpreis von 34.250 € vereinnahmt hat, sondern nur den um eine Händlermarge von maximal 15 % (so der unbestrittene Vortrag der Klägerin) reduzierten Händlereinkaufspreis, führt ebenfalls zu keiner Anspruchskürzung. Der Händlereinkaufspreis betrug nach dem Gesagten mindestens 29.112,50 € (34.250 € x 85 %). Die Beklagte hat somit einen Betrag erlangt, der den als Schaden geltend gemachten Fahrzeugminderwert (deutlich) übersteigt. Die Begrenzung des Restschadensersatzes auf das Erlangte im Sinne von § 852 Satz 1 BGB kommt daher vorliegend, anders als beim großen Schadensersatz (vgl. BGH, Urteil vom 21.02.2022 – VIa ZR 57/21, Rn. 16), nicht zum Tragen.
275. Die Klägerin hat antragsgemäß Anspruch auf Prozesszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz gemäß §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB. Für den Zinsbeginn ist auf den Tag nach Zustellung der Klageschrift abzustellen, also auf den 29.04.2022, obwohl mit der Klageschrift noch der große Schadensersatz gefordert wurde (vgl. Hager in Erman, BGB, 16. Aufl., § 291 Rn. 3).
286. Der mit der Berufung erneut geltend gemachte Anspruch auf Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.100,51 € besteht nicht. Ein etwaiger Freistellungsanspruch aus § 826 BGB ist verjährt (vgl. BGH, Urteil vom 21.02.2022 – VIa ZR 8/21, BGHZ 233, 16, Rn. 74 ff.). Von § 852 Satz 1 BGB wird die hier fragliche Schadensposition nicht erfasst, da die vorgerichtliche Anwaltstätigkeit das Vermögen der Beklagten nicht gemehrt hat (vgl. BGH, Urteil vom 14.11.2022 – VIa ZR 260/22, Rn. 9). Ein Anspruch unter dem Gesichtspunkt des Schuldnerverzugs (§ 280 Abs. 1 und 2, § 286 Abs. 1 BGB) ist ebenfalls nicht ersichtlich.
29II.
30Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10, § 713 ZPO.
31Eine Zulassung der Revision ist nicht veranlasst, da die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht erfüllt sind. Die Rechtssache weist weder grundsätzliche Bedeutung auf noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs. Insbesondere entspricht die Ansicht des Senats, dass der kleine Schadensersatz auch im Rahmen des § 852 Satz 1 BGB verlangt werden kann, der ganz überwiegenden obergerichtlichen Auffassung. Die abweichende Entscheidung des OLG München vom 27.06.2022 – 17 U 8117/21 – ist vereinzelt geblieben.