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Auf die Beschwerde der Mutter wird die Entscheidung des Amtsgerichts – Familiengericht – Detmold vom 24.5.2022 teilweise abgeändert und wie folgt ergänzt:
Es wird angeordnet, dass das Kind A B C einstweilen im Haushalt der Mutter verbleibt.
Der Mutter werden folgende Auflagen erteilt:
Sie kehrt mit A in ihre Wohnung in D zurück und ist dort erreichbar.
Sie arbeitet mit dem Ergänzungspfleger zusammen.
A nimmt den regulären Schulbesuch auf und besucht dort den Ganztag.
A und die Mutter stellen sich ohne weitere Verzögerungen dem Hauptsacheverfahren. A nimmt an der dort angeordneten sachverständigen Begutachtung teil.
Beiden Eltern wird auferlegt, dem Ergänzungspfleger eine Erklärung über die Schweigepflichtsentbindung bzgl. der von A besuchten Schule vorzulegen.
Die weitergehende Beschwerde der Mutter und die Beschwerden des Vaters und des Jugendamtes werden zurückgewiesen.
Die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens tragen die Kindeseltern je zur Hälfte; die Erstattung außergerichtlicher Kosten wird nicht angeordnet.
Der Verfahrenswert wird auf 2.000 € festgesetzt.
Gründe:
2I.
3Der Beteiligte zu 1) ist der Vater und die Beteiligte zu 2) ist die Mutter des Kindes A B C , geb. am 00.00.20XX. Die Eltern waren nicht verheiratet und trennten sich im April 2018, indem die Mutter mit dem Kind aus dem gemeinsam gekauften Haus auszog.
4Die Mutter arbeitet Teilzeit als „(…)“ in der X Einrichtung F – G in E. Während der Schwangerschaft erlitt sie einen Bandscheibenvorfall, der nach der Geburt von A B operiert werden musste und durch eine Verletzung der Nerven zu einer dauerhaften Gehbehinderung führte.
5Der Vater arbeitet bei einem „(…)“ in H.
6Seit der Trennung waren sowohl die Sorge als auch v.a. der Umgang des Vaters mit A immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen. Auf den Senatsbeschluss vom 24.9.2020 (5 UF 243/19) wird Bezug genommen. Mit Schreiben vom 13.2.2019 (Bl. 1 - 4 BA 34 F 35/19), auf das wegen der Einzelheiten verwiesen wird, teilte die Kinderklinik des I - Krankenhauses in J dem Amtsgericht einen Verdacht auf sexuellen Missbrauch des Kindes mit, das sich vom 4. - 6.2.2019 stationär dort aufgehalten hatte. Daraufhin leitete das Amtsgericht ein Verfahren nach § 1666 BGB (34 F 35/19) ein. Im diesem Verfahren begehrte die Mutter daraufhin ein Näherungsverbot des Vaters. Mit Beschluss vom 14.2.2019 (34 F 36/19) setzte das Amtsgericht auf Antrag der Mutter den Umgang des Vaters bis zum 14.5.2019 aus. Im Juli 2019 stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen den Vater gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein. Im August 2019 erstattete der gerichtlich bestellte Sachverständige K im Verfahren 34 F 35/19 ein Gutachten (Bl. 187-261 BA.), in dem er wegen einer erheblich eingeschränkten Erziehungsfähigkeit der Mutter den Wechsel des Kindes zum Vater empfahl. Daraufhin nahm das Jugendamt A B am 15.8.2019 in Obhut und übergab ihn in den Haushalt des Vaters. Mit Beschluss vom 12.11.2019 (34 F 171/19) übertrug das Familiengericht dem Vater das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Der Senat übertrug dem Vater zusätzlich die Gesundheitsfürsorge und wies die Beschwerde der Mutter zurück. Auf die Entscheidung vom 24.9.2020 (5 UF 243/19) wird verwiesen.
7In der Folgezeit wohnte A B im Haushalt des Vaters. Er hatte regelmäßig umfangreiche Umgangskontakte zur Mutter, nämlich von freitags bis montags alle zwei Wochen und einen Übernachtungskontakt in der Woche dazwischen. Von Februar bis Mai 2021 nahm A B in der Ärztlichen Beratungsstelle gegen Vernachlässigung und Misshandlung 12 Diagnosetermine wahr. Auf den ärztlichen Bericht vom 1.6.2021 (Bl. 194 GA), mit dem die Therapeutin N ein Wechselmodell oder einen Wechsel in den Haushalt der Mutter vorschlug, wird verwiesen. Aufgrund des Berichts leitete die Mutter mit Antragsschrift vom 10.09.2021 ein weiteres Sorgeverfahren 34 F 205/21 ein, mit dem sie die Abänderung der Entscheidung des Senats vom 24.9.2020 begehrt. Im November 2021 stellte sie Kontakt mit einer Frau L, Mitglied im Betroffenenbeirat des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs beim Bundesfamilienministerium, her, die sodann Ende Dezember 2021 das Schreiben der Kinderklinik vom 13.2.2019 und den Bericht vom 1.6.2021 dem LKA übersandte. Daraufhin wurde erneut ein Ermittlungsverfahren gegen den Vater wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs eingeleitet. Die Mutter stellte über Frau L noch eine Audioaufnahme von A vom 25.11.2021 zur Verfügung. Für A wurde Ergänzungspflegschaft betreffend die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts eingerichtet. Die Ergänzungspflegerin konnte das Kind nicht anhören, entschied jedoch das Zeugnisverweigerungsrecht nicht auszuüben. Eine Vernehmung von A B kam bislang nicht zustande, da die Mutter das Kind am 10.1.2022 nicht verabredungsgemäß zum Vater zurückbrachte und sich seither mit ihm an einem unbekannten Ort aufhält. A hat die Schule seit den Weihnachtsferien 2021 nicht mehr besucht.
8Das Jugendamt meldete die Einleitung des Ermittlungsverfahrens mit Schreiben vom 4.12.2022 an das Familiengericht.
9Das Jugendamt hat beantragt,
10den Eltern im Wege einstweiliger Anordnung die Sorge bzgl. Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitsfürsorge, Recht auf Antragstellung nach dem SGB VIII und das Umgangsbestimmungsrecht zu entziehen.
11Die Mutter hat beantragt,
12den Antrag des Jugendamtes zurückzuweisen,
13dem Vater die Teilbereiche Aufenthaltsbestimmung und Gesundheitsfürsorge, zu entziehen und ihr das Sorgerecht insgesamt zu übertragen,
14hilfsweise ihr das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitsfürsorge, das Recht auf Antragstellung nach dem SGB VIII, Schulangelegenheiten und das Umgangsbestimmungsrecht vorläufig allein zu übertragen.
15Der Vater hat beantragt,
16den Antrag des Jugendamtes und den Antrag der Mutter zurückzuweisen,
17sowie die Sorge insgesamt, hilfsweise die Bereiche Schulangelegenheiten und Umgangsbestimmungsrecht auf ihn allein zu übertragen.
18Das Amtsgericht – Familiengericht – hat eine Verfahrensbeiständin bestellt und die Beteiligten mit Ausnahme des Kindes angehört. Mit dem angefochtenen Beschluss hat es den Eltern – entsprechend dem Antrag des Jugendamtes - Teile der elterlichen Sorge entzogen und als Ergänzungspfleger das Kreisjugendamt M bestellt. Zur Begründung hat es ausgeführt, es bestehe ein dringendes Bedürfnis, die Entscheidung des Senats vom 24.9.2020 vorläufig abzuändern. Aufenthaltsbestimmungsrecht und Gesundheitsfürsorge des Vaters könnten nicht mehr kindeswohldienlich umgesetzt werden, nachdem die Mutter sich seit dem 10.1.2022 mit dem Kind verborgen halte. Es sei davon auszugehen, dass A Vorbehalte gegen den Vater hege und eine übergangslose Rückkehr nicht möglich sei. Eine Übertragung der Sorge auf die Mutter komme nicht in Betracht, denn die Mutter habe mit ihrem Verhalten gezeigt, dass sie nicht in der Lage sei, ihre Handlungen am Kindeswohl auszurichten.
19Hiergegen wenden sich beide Eltern mit der Beschwerde.
20Die Mutter trägt vor, es sei abwegig, das Jugendamt zu bestellen, da es bereits mehrfach falsche Entscheidungen getroffen und den Verdacht gegen den Vater systematisch ignoriert habe. Zudem stehe eine mögliche Strafbarkeit der Mitarbeiter des Jugendamtes im Raum, da sie das Kind trotz der Hinweise auf Missbrauch beim Vater belassen hätten. Daher sei aus Eigenschutzgründen nicht mit einer umfassenden Aufklärung zu rechnen. Das Jugendamt habe Recht und Gerichte missachtet und ebenso wie die Familienrichterin die jetzige Situation zu verantworten. Grund der Inobhutnahme sei eine tiefe, persönliche Abneigung gegen die Mutter gewesen. Die Mutter sei die Einzige, die kindeswohlorientiert handele. Sie sei bereit, A in eine Diagnosegruppe außerhalb von M zu bringen, was ihm aber nur möglich sei, wenn er seine engste Bindungsperson bei sich habe. Ihr sei nach der Herausgabeentscheidung des Familiengerichts vom 12.1.2022 (Bl. 8 BA 34 F 9/22) keine andere Wahl geblieben, als unterzutauchen. A habe den Beschluss abgelehnt. Eine Auslieferung an das Jugendamt ließe ihn zerbrechen. Der Zustand müsse zum Vorteil des Kindes – unter der Bedingung wenn überhaupt nur begleiteten Umgangs des Vaters - legalisiert werden, da dann eine Vernehmung, ein Schulbesuch und ein öffentliches soziales Leben möglich würde.
21Die Mutter wiederholt ihren Antrag aus der ersten Instanz.
22Der Vater beantragt,
23den Beschluss abzuändern und ihm im Wege einstweiliger Anordnung die alleinige Sorge für A B zu übertragen, hilfsweise den Beschluss aufzuheben soweit ihm die Sorge entzogen wurde und die Ergänzungspflegschaft aufzuheben.
24Das Jugendamt beantragt,
25die Beschwerde zurückzuweisen und darüber hinaus, den Eltern auch die Sorge bzgl. „Schulangelegenheiten“ zu entziehen.
26Der Vater trägt vor, die Begründung des Familiengerichts überzeuge nicht. Bereits 2019 sei A von einem auf den anderen Tag in seinen Haushalt gewechselt. Hierbei habe es keine Probleme oder Auffälligkeiten gegeben. Zudem gebe es Freunde aus der Schule und der Kita, die unterstützen können. Die permanenten Versuche der Mutter, ihn bei A schlecht zu machen, hätten zu keiner Beeinträchtigung geführt. Zudem habe niemand A angehört. Dieser habe ihm stets erklärt, bei ihm bleiben zu wollen. Die Mutter habe ihm gedroht, ihn nicht mehr lieb zu haben, wenn er nicht sagen würde, was sie wolle. Sie versuche das Verfahren zu verzögern, um den Jungen weiterhin einer Gehirnwäsche unterziehen zu können.
27Das Jugendamt trägt vor, in dem aktuellen Verhalten der Mutter seien keine Hinweise zu erkennen, dass sie einen Sinn und ein Auge für die Bedarfe des Kindes habe. Einerseits ergreife sie „Schutzmaßnahmen“, andererseits sei sie zu dem Handel bereit gewesen, das Kind zum Vater zu geben, wenn es nicht in Obhut genommen werde. Sie scheine gefangen in der konflikthaften Auseinandersetzung mit den Institutionen und dem Vater. Sie entspreche in ihrer eigenen Wahrnehmung einem Mutterideal; Ansätze von Selbstreflexion fänden sich nicht. Ihr Plan, das Kind um jeden Preis im eigenen Verfügungsbereich zu lassen, gebe Anlass zu umfassender Sorge. Eine Kehrtwende zu kooperativen kindeswohlförderlichen Lösungen sei nicht zu erwarten. Auf beiden Seiten sei ein grundlegender Eskapismus vorhanden.
28Der Senat hat die Beteiligten, auch das Kind A B, angehört. Auf die Berichterstattervermerke vom 2.9., 9.9. und 5.10.2022 wird Bezug genommen.
29II.
30Auf die Beschwerde der Eltern und des Jugendamtes ist eine Verbleibensanordnung bei der Mutter zu treffen. Im Übrigen haben die Beschwerden keinen Erfolg.
311.)
32Das Familiengericht hat den Eltern zu Recht die Sorge für A B im Wege einstweiliger Anordnung entzogen.
33Nach § 1666 Abs. 1 BGB hat das Familiengericht, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes gefährdet wird und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, bzw. die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Voraussetzung für ein Eingreifen des Familiengerichts ist eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder eine Gefahr gegenwärtig in einem solchen Maße besteht, dass sich bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. (vgl. BVerfG, FamRZ 2014, 907; FamRZ 2010, 713; BGH, FamRZ 2010, 720 ff; BGH, FamRZ 2005, 344, 345 m.w.N.). Auch bei einer Sorgerechtsentziehung im Eilverfahren sind hohe Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung zu stellen. Eine gesicherte Ermittlungsgrundlage wird im einstweiligen Rechtsschutzverfahren wegen des typischerweise bestehenden Eilbedürfnisses aber gerade nicht gefordert (BVerfG FamRZ 2018, 1084, Rn. 28). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je schwerer der drohende Schaden wiegt.
34Das dringende Bedürfnis zu sofortigem, einstweiligem Einschreiten besteht, wenn eine Folgenabwägung ergibt, dass die Nachteile, die für die Rechte und Interessen der Beteiligten entstehen, wenn die einstweilige Anordnung unterbleibt, die Hauptsache aber im Sinne des Antragstellers entschieden würde, schwerer wiegen als die Nachteile, die durch die vorläufige Maßnahme eintreten können, die aber aufzuheben und rückabzuwickeln ist, wenn sich der Antrag in der Hauptsache als erfolglos erweisen sollte (OLG Koblenz ZKJ 2020, 469, 471; OLG Brandenburg, FamRZ 2015, 1515 Rn. 19 und Beschluss vom 05.09.2019, 13 UF 138/19 Rn. 14–19).
35Nach dieser Maßgabe ist den Eltern die Sorge zu Recht teilweise entzogen worden.
36a.)
37Für eine Gefährdung durch sexuellen Missbrauch seitens des Vaters bestehen keine zureichenden Anhaltspunkte.
38Bei einem sexuellen Missbrauch besteht die Gefahr schwerwiegender Schäden des Opfers; es besteht ein Grund, das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu entziehen und das Kind aus dem Haushalt zu nehmen, da dem Täter die Erziehungsfähigkeit fehlt. Steht – wie vorliegend – der Vorwurf eines sexuellen Missbrauchs eines Kindes im Raum, entscheidet sich die Frage, ob und gegebenenfalls welche Maßnahmen in Bezug auf die Sorge mit dem verdächtigten Elternteil zu treffen sind, nach dem Grad der Gewissheit, mit dem die Frage, ob ein sexueller Missbrauch tatsächlich stattgefunden hat, beantwortet werden kann. Der bloße Verdacht stellt für sich allein keinen Grund dar, Maßnahmen zu ergreifen. Wenn der von einem Elternteil vorgebrachte Verdacht des sexuellen Missbrauchs des Kindes im summarischen Verfahren nicht geklärt werden kann, ist eine umfassende Risikoabwägung unter Berücksichtigung des Kindeswohls vorzunehmen. Dabei kommt es entscheidend auf die Frage an, inwieweit es gesicherte Anzeichen für einen Verdacht gibt (KG 17 UF 50/12, Beschluss vom 5.4.2012, zit. nach Juris, Rn. 26, 28; Cirullies in: Heilmann, Praxiskommentar Kindschaftsrecht, 2. Aufl. 2020, § 1666 BGB Rn. 30). Die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens genügt nicht für Maßnahmen nach § 1666 BGB, denn die Staatsanwaltschaft ist nach § 152 Abs. 2 StPO verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, also ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, sofern nach kriminalistischer Erfahrung zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Anderenfalls hätte es nämlich ein Elternteil immer auf recht einfache Weise in der Hand, den anderen Elternteil vom Kontakt mit seinem Kind auszuschließen (OLG Bamberg, Beschluss vom 11.04.1994 - 2 WF 45 u. 50/94, NJW-RR 1995, 7 (7 f.); OLG Frankfurt, Beschluss vom 30.06.1995 - 6 UF 60/95 -, FamRZ 1995, 1432, 1433). Denn jede in Richtung eines sexuellen Missbrauchs gehende Anzeige löst intensive und nachhaltige Ermittlungen aus, die wegen der typischen Aufklärungsschwierigkeiten bei derartigen Tatkomplexen regelmäßig geraume Zeit in Anspruch nimmt (OLG Bamberg, a.a.O.).
39Legt man diesen Maßstab zugrunde, genügen die Anhaltspunkte nicht, um dem Vater die Sorge teilweise zu entziehen.
40Die in 2018/2019 bekannt gewordenen Tatsachen begründen derzeit keinen stichhaltigen Verdacht gegen den Vater. Auf die Erörterungen im Beschluss vom 24.9.2020 wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen. Die Stellungnahme der Ärztlichen Beratungsstelle vom 1.6.2021 (B 79R), die A in 12 Diagnostikterminen von Februar bis Mai 2021 untersucht hat, führt zu keinem anderen Ergebnis. Demnach ist für A ein Drache in Verbindung mit Schmerzen am Anus zwar ein „Belastungsthema“. A gab jedoch an, nicht mehr zu wissen, was der Drache gemacht hat und reagierte sehr abweisend. Die Therapeutin geht abschließend davon aus, dass das „Drachenerlebnis“ 2,5 (mittlerweile 3,5 Jahre) zurückliegt. A war damals 3,5 Jahre alt und konnte das Erlebnis nicht in einen passenden Kontext setzen und nur schwer erinnern. Sie sieht die psychische Belastung in einem gleichstarken Loyalitätskonflikt. A erzähle zuverlässig genau das, was er glaubt, was das jeweilige Elternteil hören möchte. Der Kindesvater zeige wenig Orientierung an und Einfühlung in A´s Bedürfnisse. Eine gezielte Diagnostik sei zu diesem Zeitpunkt nicht möglich. A sei zurzeit nicht mit dem Thema Grenzverletzung beschäftigt, sondern mit der Trennung und dem Streit der Eltern. Trotz der Hochstrittigkeit empfehle sie das Wechselmodel oder alternativ den Lebensmittelpunkt bei der Kindesmutter. Aus dieser Empfehlung kann nur der Schluss gezogen werden, dass eine aktuelle Gefährdung des Kindeswohls durch sexuelle Übergriffe des Vaters nach der Diagnostik nicht gesehen wurde.
41Ferner liegen der neuerlichen Anzeige behauptete Äußerungen A´s zugrunde, der Papa käme manchmal nachts in sein Zimmer. Er wisse nicht, was der Vater macht. Dann täte es weh. Die mit der Audioaufnahme belegte Aussage von A vom 26.11.2021 genügt nicht. Sie ist zum einen recht unspezifisch – man kann nicht herleiten, ob und ggfs. was da passiert ist –, zum anderen ist unklar, welche Gespräche mit der Mutter, die im November 2021 erneut in einem Sorgerechtsverfahren steckte, der Aufnahme vorangingen. Die Diagnostik hatte – wie geschildert - keinen aktuellen objektiven Verdacht auf einen Missbrauch erbracht. Es ist denkbar und wird vom Vater auch – unter Verweis auf Aussagen A ihm gegenüber „unter Tränen“ - vorgetragen, dass die Mutter ihn auf eine solche Aussage „gelenkt“ hat. Gegen eine spontane Aussage spricht die Anfertigung von Audioaufnahmen. Gezielte Falschaussagen von Kindern in A´s Alter sind selten, allerdings sind ihre Aussagen oft Ergebnis irrtümlicher Induktion durch dritte Personen, die von den Kindern subjektiv als wahr übernommen werden. Ggf. liegt dann nicht eine gänzlich frei erfundene Aussage vor, sondern zumeist ein Gemenge von tatsächlichen Begebenheiten, unkritischen Übernahmen von Äußerungen relevanter Erwachsener und eigenen Ergänzungen, wobei es Aufgabe eines psychologischen Sachverständigen ist, diese ,,Anteile'' herauszufinden (Carl, FamRZ 1995, 1183, 1185). Es bedarf nicht nur der Erfahrung und einer fachlichen Schulung, um die Befragung eines Kindes tatsächlich neutral durchführen zu können, es bedarf auch einer neutralen Haltung der befragenden Person dazu, ob etwas vorgefallen ist (Ehmke, FamRZ 2016, 1132, 1134). In diesem Bereich ist die Anzahl der falschen Verdächtigung mit geschätzt 25 % und 50 % sehr hoch. (MAH Strafverteidigung - Hiebl, 3. Aufl., 2022, § 33 Zivil-, arbeits- und familienrechtliche Konsequenzen und Folgen des Strafverfahrens, Rn. 238; Carl, a.a.O., vgl. auch Ehmke, a.a.O. 1135: nur in 4 von 36 Fällen waren die Aussagen erlebnisbasiert.). Hier steht im Raum, dass die Mutter das Thema „Drachen“ seit 3,5 Jahren bei A präsent hält. Ferner soll er Aussagen zu Drachen auch anderen Personen gegenüber gemacht haben, „beispielhaft“ wird die Tante und eine Bekannte benannt (Bl. 12R d. BA 34 F 205/21), wobei – nach Angaben des Vaters - die Mutter ihn dazu gedrängt habe. Hinzu kommt, dass A – nach Angaben der Therapeutin N - zuverlässig genau das sagt, was er glaubt, dass das jeweilige Elternteil hören möchte (Bl. 195 GA). Der Beweiswert der Audioaufnahme ist aus all diesen Gründen gering einzuschätzen.
42Allerdings kann das Risiko des Missbrauchs i. E. dahingestellt bleiben, weil eine Rückkehr in den Haushalt des Vaters derzeit aus anderen Gründen nicht möglich ist. A ist, nachdem er zehn Monate mit seiner Mutter untergetaucht ist, dem Vater entfremdet. A lebte in dieser Zeit in der Angst vor der Entdeckung und wähnte sich nur bei seiner Mutter sicher. Er ist sich bewusst, dass er außerhalb der Norm lebt, weil er nicht zur Schule geht. Die Angst ist ihm – nach Angaben der Mutter – nachvollziehbar gerade im Zusammenhang mit der beabsichtigten Anhörung vor dem Familiengericht und der Aussage vor der Polizei bewusst geworden, die gescheitert sind, weil in diesem Zusammenhang eine Inobhutnahme bzw. ein „Zugriff“ des Vaters möglich gewesen wäre. Laut Mutter, die sich in allem – in ihrem Entschluss zum Untertauchen, wegen der Anhörung durch Institutionen usw. nach dem Willen des Siebenjährigen richtet – hat A vor beidem Angst, weil er unbedingt bei ihr bleiben will. Die rigorose Ablehnung des Vaters ist insbesondere im Termin des Kindes mit der Verfahrensbeiständin und in der Kindesanhörung vor dem Senat deutlich geworden. Bei beiden Terminen schilderte A, er wolle nicht bei seinem Vater wohnen, der sei nicht nett und schreie ihn an. Gegenüber der Verfahrensbeiständin gipfelte die Ablehnung in der Äußerung A´s, er wolle den Vater gern an ein anderes Kind abgeben, damit er nicht mehr sein Vater sei. Die Verfahrensbeiständin führt aus, A habe im Rahmen ihres Gesprächs die Person und alle Erlebnisse mit dem Vater konsequent negativ bewertet. Die Abwertung des Vaters erfolgt, ohne dass A in der Lage war, einen nachvollziehbaren Grund zu nennen. Seine Argumente wirkten oftmals bemüht und lächerlich. Laut Gesprächsvermerk der Verfahrensbeiständin hat z.B. beklagt, dass er mit dem Vater an seinem Geburtstag im O Park war. Nach dem Grund gefragt, führte er aus, er wolle dort öfter hin und es sei doof, dass Papa nur einmal mit ihm dort gewesen sei. Ob der Wille A´s autonom gebildet ist, also Ausdruck der eigenen Bedürfnisse und nicht nur Reaktion auf die - auch nur vermeintlichen - Wünsche eines Elternteils, kann ohne sachverständige Hilfe im vorliegenden Verfahren der einstweiligen Anordnung nicht ermittelt werden. Es ist zwar davon auszugehen, dass die Mutter und ihr Umfeld die ertrotzte Alleinobhut genutzt haben, um A zu beeinflussen und ihn dem Vater zu entfremden. Andererseits kann die Überidentifikation mit einem Elternteil und die kompromisslose Ablehnung des anderen Elternteils – psychologisch gesehen – auch ein rationales Verhalten des Kindes sein, die Belastung durch den Elternstreit zu reduzieren und zu bewältigen (KG FamRZ 2005, 1768, 1769, Juris Rn. 15). Die psychologische Bewertung des Kindeswillens muss dem Hauptsacheverfahren überlassen werden. Dennoch ist sein Wille auch im vorliegenden Verfahren zu berücksichtigen. Denn er ist intensiv und zielgerichtet; A will v.a. bei der Mutter bleiben und insofern wirkt der geäußerte Wille authentisch, zumal die Therapeutin N bereits ermittelt hat, A wünsche mehr Kontakt zur Mutter und vermisse sie.
43A´s Wohl wird von der Mutter beeinträchtigt. Die Mutter ist nicht in der Lage, ihre eigenen Interessen an einem exklusiven Zusammenleben mit A unter Ausschaltung des Vaters dem Wohl des Kindes unterzuordnen. Sie ist mit A untergetaucht und entzieht ihn seit 10 Monaten dem Verfahren. Das Handeln der Mutter wirkt sich nach Überzeugung des Senats in vielerlei Hinsicht negativ auf A´s Wohl aus:
44Die Mutter hat A von einem Tag auf den anderen aus seinem gewohnten sozialen Umfeld gerissen. Das Kind lebt mit der Angst vor Entdeckung und entwickelt Ängste und Misstrauen gegenüber dem Vater, den Behörden, den Gerichten; es sieht sich von feindlichen Absichten umzingelt, mit der Folge einer noch engeren Bindung an die Mutter als einzig verbliebener Bezugsperson. Die Gefahr langfristiger psychischer Störungen ist jedenfalls nicht auszuschließen. A besucht nicht die Schule und hat daher auch nicht die üblichen sozialen Kontakte, die sich im Rahmen einer Klassengemeinschaft ergeben.
45Die Mutter behindert mit ihrem Vorgehen die Aufklärung des Vorwurfs gegen den Vater. Für das Untertauchen macht sie A mitverantwortlich, indem sie sich damit rechtfertigt, A habe es sich gewünscht. Schließlich besteht durch das Handeln der Mutter die Gefahr, dass A in der Öffentlichkeit als Missbrauchsopfer stigmatisiert wird. Denn durch die Einschaltung von Presse und Fernsehen sind A und der Sorgerechtsstreit einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden.
46Anzeichen von Selbstreflexion sind nicht erkennbar. Die Mutter steckt in ihrer Blase – verstärkt durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, die Missbrauchsbeauftragte, Instagram Follower und Journalisten - und fühlt sich völlig im Recht. Sie geht von einem Missbrauch aus und verhält sich so. Selbst den Loyalitätskonflikt haben angeblich die Gerichte verursacht (vgl. eidesstattliche Versicherung der Mutter Bl. 137 GA). Dass es für ein Kind auch eine große Belastung darstellen kann, mit der – falschen - Gewissheit aufzuwachsen, Opfer sexueller Grenzüberschreitungen geworden zu sein (vgl. Ehmke, a.a.O. 1132), blendet die Mutter aus.
47b.)
48Nach alledem hat das Familiengericht die Sorgebereiche Aufenthaltsbestimmung, Gesundheit, öffentliche Hilfen und Umgangsbestimmung zu Recht zur Wahrung des Kindeswohls den Eltern vorläufig entzogen.
49Anlass, die Ergänzungspflegerin auszutauschen, besteht nicht. Das Familiengericht hat zu Recht das gemäß § 87c Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ausschließlich örtlich zuständige Kreisjugendamt M bestellt. Der Senat ist überzeugt, dass sich keine geeignete Privatperson findet, die freiwillig bereit ist, im Fokus der Öffentlichkeit und unter dem Druck einseitiger Presseberichterstattung Entscheidungen in schwierigen Familiensachen zu treffen.
50Die Schulangelegenheiten verbleiben bei den Eltern. Eine Übertragung auf die Mutter ist schon deswegen nicht angezeigt, weil diese die Schulpflicht seit Januar 2022 missachtet. Eine Entziehung des Sorgerechts bzgl. der Schulangelegenheiten gemäß § 1671 BGB (mit Übertragung an den Vater) oder § 1666 BGB (mit Übertragung auf den Ergänzungspfleger) wird nicht angeordnet, da nicht damit zu rechnen ist, dass bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens sorgerechtlich relevante Entscheidungen zu treffen sind. Die Betreuung im Ganztag und die Einbeziehung des Ergänzungspflegers ist als Auflage geregelt (s. 2 e.).
512.)
52Allerdings ist im Rahmen der einstweiligen Anordnung eine Verbleibensanordnung für den Haushalt der Mutter unter Auflagen zu treffen.
53Nach § 1632 Abs. 4 BGB kann das Familiengericht anordnen, dass das bereits seit geraumer Zeit in Familienpflege lebende Kind bei der Pflegeperson verbleibt, wenn und solange das Kindeswohl durch die Wegnahme von der Pflegeperson gefährdet ist.
54a.)
55§ 1632 Ab. 4 BGB ist auch anwendbar, wenn – wie hier - ein Pfleger, dem das Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen wurde, die Herausgabe des Kindes verlangt (BeckOGK-Kerscher, BGB, Stand 1.9.23022, § 1632, Rn. 100).
56b.)
57Für die Familienpflege im Sinne des § 1632 Abs. 4 BGB genügt wie bei den §§ 1685, 1630 Abs. 3 BGB jedes faktische Pflegeverhältnis familienähnlicher Art, gleichgültig ob ein Pflegevertrag oder eine etwa erforderliche Pflegeerlaubnis vorliegt (BGH FamRZ 2001, 1449, Juris, Rn. 20; JurisPK-Hamdan, BGB, 9. Aufl., § 1632, Rn. 28). Familienpflege liegt auch bei der Betreuung durch Verwandte vor (Staudinger/Salgo, BGB (2020), § 1632, Rn. 65).
58A befindet sich seit längerer Zeit bei der Mutter, die bezogen auf den Aufenthalt nicht sorgeberechtigt ist. Das Merkmal der „längeren Zeit“ ist kinderpsychologisch zu verstehen (OLG Köln FamRZ 2009, 989; OLG Hamm FamRZ 2013, 389, Juris Tz. 39 OLG Frankfurt FamRZ 2014, 1787). Entscheidend ist, dass sich das Kind bei der Pflegeperson eingelebt und bei ihr seine Bezugswelt gefunden hat und sich dort zu Hause fühlt, so dass ein vor allem unvermutetes Herausreißen aus der gewohnten Umgebung das Kind nur schädigen könnte. Das ist hier der Fall, weil A seit 10 Monaten mit der Mutter untergetaucht ist.
59c.)
60Eine Verbleibensanordnung ist gerechtfertigt, wenn mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht auszuschließen ist, dass die Trennung von der Pflegeperson physische oder psychische Schädigungen nach sich ziehen kann (BVerfG FamRZ 2010, 865, 866; OLG Hamm FamRZ 2010, 1747, 1748; OLG Frankfurt JAmt 2013, 218, 221).
61Das ist nach der im einstweiligen Anordnungsverfahren durchzuführenden summarischen Prüfung nicht auszuschließen. A hat durch den anhaltenden intensiv geführten Elternstreit bereits Schaden genommen. Auf die Stellungnahme der Therapeutin N vom 1.6.2021 (Bl. 16 BA 34 F 205/21) wird Bezug genommen. Demnach leidet A an einem starken Loyalitätskonflikt; die Enuresis ist ein Hinweis für seine psychische Belastung. A ist emotional nicht gesund, sondern höchst angepasst. Er erzählt zuverlässig das, was er glaubt, das das jeweilige Elternteil hören möchte.
62Es besteht die Gefahr, dass A, der durch die ertrotze Alleinobhut maximal eng an seine Mutter gebunden wurde, im Rahmen einer erzwungenen Trennung und Inobhutnahme Schaden erleidet. Die grundsätzliche Bindung an die Mutter ist zudem durchaus „echt“ und als psychische Tatsache zu berücksichtigen (vgl. BGH NJW 1985, 1702, 1703). Die Bindung beruht nicht nur auf dem kindeswohlschädlichen eigenmächtigen Verhalten der Mutter seit Januar 2022 sondern war bereits vorher durch die langjährige alleinige Betreuung der Mutter sowie den regelmäßigen Umgang entstanden.
63d.)
64Dem Vater ist zuzugeben, dass eine Verbleibensanordnung bei der Mutter den Eindruck erwecken kann, Eltern könnten ihre persönlichen Ziele mit „krimineller Energie“ erreichen. Allerdings ist zuvörderst das Kindeswohl Richtlinie familiengerichtlicher Entscheidungen, § 1697a Abs. 1 BGB. A´s Wohl darf nicht beeinträchtigt werden, um die Mutter für ihre rechtswidrigen Handlungen zu bestrafen.
65Da dem Ergänzungspfleger auch das Umgangsbestimmungsrecht übertragen wurde, ist die Befürchtung des Vaters, er müsse sich mit der Mutter wegen des Umgangs auseinandersetzen, nicht begründet.
66e.)
67Die Verbleibensanordnung bei der Mutter ist mit Auflagen zu verbinden, um das Wohl des Kindes zu sichern. Insbesondere ist der Mutter aufzuerlegen, mit A in ihre Wohnung in D zurückzukehren und den Jungen in seine Grundschule Q zu geben sowie mit der Ergänzungspflegerin zusammenzuarbeiten. Beide Eltern haben dafür Sorge zu tragen, dass der Ergänzungspfleger Rücksprache mit der Schule nehmen kann.
68Zusätzlich ist - entsprechend dem Vorschlag der Therapeutin – anzuordnen, dass A dort den Ganztag besucht. Zudem ist die Mutter zu verpflichten, sich mit A dem Hauptsacheverfahren zu stellen und ihn an der dort angeordneten Begutachtung teilnehmen zu lassen. Eine Verpflichtung der Mutter, sich selbst im Verfahren untersuchen zu lassen, kann der Senat hingegen nicht anordnen (vgl. BGH FamRZ 2010, 720).
69III.
70Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 FamFG, der Verfahrenswert ergibt sich aus § 41, 45 FamGKG.