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1. Zum Vorliegen einer bürgerlichen Rechtsstreitigkeit im Sinne des § 102 Abs. 1 EnWG.
2. Hat erstinstanzlich ein für Energiewirtschaftssachen unzuständiges Landgericht entschieden, ist bei der Prüfung der berufungsgerichtlichen Zuständigkeit nach § 106 Abs. 1 EnWG materiell darauf abzustellen, ob eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit im Sinne des § 102 Abs. 1 EnWG vorliegt.
I.
Der Senat weist darauf hin, dass das Oberlandesgericht Hamm für die Durchführung des Berufungsverfahrens nicht zuständig ist.
Gemäß § 106 Abs. 1 des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) entscheiden die bei den Oberlandesgerichten gebildeten Kartellsenate über die Berufung gegen Endurteile in den in § 102 Abs. 1 EnWG bezeichneten bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten.
1. Nach § 2 der nordrhein-westfälischen „Verordnung über die Bildung gemeinsamer Kartellgerichte und über die gerichtliche Zuständigkeit in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten nach dem Energiewirtschaftsgesetz“ vom 30.08.2011 (GV.NRW. 2011, 469) bestehen in Nordrhein-Westfalen Kartellsenate – mit Zuständigkeit für das gesamte Bundesland – nur bei dem Oberlandesgericht Düsseldorf. Für die Prüfung der Zuständigkeit des Oberlandesgerichts – Kartellsenat – nach § 106 Abs. 1 EnWG scheidet ein ausschließlich formales Abgrenzungskriterium wie etwa die Anknüpfung an die Entscheidung des Landgerichts in seiner Eigenschaft als für Energiewirtschaftssachen zuständiges Gericht aus (BGH, Beschluss vom 17.07.2018 – EnZB 53/17 –, juris, Rdnr. 24). Wenn – wie im vorliegenden Falle mit dem Landgericht Essen – ein für Energiewirtschaftssachen unzuständiges Gericht entschieden hat, ist vielmehr materiell darauf abzustellen, ob eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit im Sinne des § 102 Abs. 1 EnWG vorliegt.
22. Bei dem vorliegenden Rechtsstreit handelt es sich um eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit im Sinne des § 102 Abs. 1 EnWG. Nach § 102 Abs. 1 Satz 1 EnWG sind dies bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, die sich „aus dem Energiewirtschaftsgesetz ergeben“; hiervon sind nach § 102 Abs. 1 Satz 2 EnWG auch diejenigen Fälle erfasst, in denen die Entscheidung eines Rechtsstreits ganz oder teilweise von einer Entscheidung abhängt, die nach dem Energiewirtschaftsgesetz zu treffen ist.
3Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist im Ergebnis die Frage, ob der Beklagten gegen die Klägerin ein Zahlungsanspruch aufgrund von Stromlieferungen im Zeitraum vom 01.01.2019 bis zum 27.01.2019 zustand, wobei die Beklagte sich vorrangig auf einen vertraglichen Zahlungsanspruch und hilfsweise auf außervertragliche Anspruchsgrundlagen (Geschäftsführung ohne Auftrag, ungerechtfertigte Bereicherung) beruft.
4Zahlungsansprüche aus Energielieferverträgen unterfallen zwar grundsätzlich nicht § 102 Abs. 1 EnWG (BGH, Beschluss vom 17.07.2018 – EnZB 53/17 –, juris, Rdnr. 23 m.w.N.). Von diesem Grundsatz gibt es indes gewichtige Ausnahmen: Geht es um das „Ob“ eines Vertragsschlusses im Zusammenhang mit der Grundversorgungspflicht des § 36 EnWG, greift § 102 Abs. 1 EnWG ein (BGH, Beschluss vom 17.07.2018 – EnZB 53/17 –, juris, Rdnr. 23, unter Hinweis auf BGH, Urteil vom 07.03.2017 – EnZR 56/15 –, juris). Der aktuellen Entscheidung „Verbrauchsstelle Goldbuschfeld“ des Kartellsenats des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 10.05.2022 – EnZR 54/21 – [Verbrauchsstelle Goldbuschfeld], juris) ist darüber hinaus zu entnehmen, dass der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs das Vorliegen einer Rechtsstreitigkeit im Sinne des § 102 Abs. 1 EnWG bejaht, wenn die Frage des Zustandekommens eines Energieliefervertrages oder des Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen einer Geschäftsführung ohne Auftrag oder einer ungerechtfertigten Bereicherung von der Frage abhängt, welchem Energieversorgungsunternehmen der an einer bestimmten Lieferstelle entnommene Strom nach energiewirtschaftsrechtlichen Grundsätzen wirtschaftlich zuzuordnen ist oder – anders ausgedrückt – „wessen“ Strom an dieser Lieferstelle verbraucht wird, wobei eine fehlerhafte bilanzielle Zuordnung durch den Netzbetreiber keine Bindungswirkung für die Gerichte entfaltet (vgl. insoweit BGH, Urteil vom 10.05.2022 – EnZR 54/21 – [Verbrauchsstelle Goldbuschfeld], juris, Rdnr. 27).
5Der letztgenannten Fallgruppe gehört auch der vorliegende Rechtsstreit an. Das Zustandekommen eines Energieliefervertrages zwischen der Beklagten und der Klägerin oder das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen einer Geschäftsführung ohne Auftrag oder einer ungerechtfertigten Bereicherung hängen von der Frage ab, ob der der Klägerin an der hier in Rede stehenden Lieferstelle zur Verfügung gestellte Strom wirtschaftlich der Beklagten zuzuordnen ist. Nur bei Bejahung dieser Frage kann in der Zurverfügungstellung des Stroms als solcher überhaupt ein Vertragsangebot der Beklagten in Form einer Realofferte gesehen werden, nur bei Bejahung dieser Frage könnte der Beklagten – falls (in welcher Form auch immer und für welchen Zeitraum auch immer) ein Energieliefervertrag zustandegekommen sein sollte – ein vertraglicher Zahlungsanspruch gegen die Klägerin zugestanden haben (weil sie andernfalls nämlich überhaupt keine Leistung gegenüber der Klägerin erbracht hätte), und schließlich können außervertragliche Ansprüche der Beklagten aus Geschäftsführung ohne Auftrag oder aus ungerechtfertigter Bereicherung nur dann bestehen, wenn die Klägerin an der hier in Rede stehenden Lieferstelle den „Strom der Beklagten“ – und nicht den Strom irgendeines anderen Energieversorgungsunternehmens – verbraucht haben sollte. Die Frage der wirtschaftlichen Zuordnung des von der Klägerin entnommenen Stroms hängt wiederum von energiewirtschaftsrechtlichen Grundsätzen ab. So hat der Netzbetreiber der Klägerin mit Schreiben vom 27.12.2018 (Anlage B1 = Blatt 48-49 der in Papierform geführten erstinstanzlichen Gerichtsakte) mitgeteilt, er habe die Beklagte als „zuständigen Grundversorger“ „gemäß den gesetzlichen Regelungen“ „mit der Übernahme der Ersatzversorgung zum 01.01.2019 beauftragt“. Ferner hat sich die Beklagte der Klägerin in ihrem Schreiben vom 04.01.2019 (Anlage K2 = Blatt 9-18 der in Papierform geführten erstinstanzlichen Gerichtsakte) als „örtlicher Grund- und Ersatzversorger“ vorgestellt. Diese Formulierungen verweisen konkludent auf die in § 38 EnWG getroffenen Regelungen über die Ersatzversorgung mit Energie. Da diese Regelungen nach § 38 Abs. 1 Satz 1 EnWG indes nur für die Versorgung mit elektrischer Energie in Niederspannung gelten, während die Klägerin, ihren Bedürfnissen als Industrieunternehmen entsprechend, unstreitig mit elektrischer Energie in Mittelspannung versorgt wurde, ist hier die energiewirtschaftsrechtliche Frage zu klären, ob es – gegebenenfalls in analoger Anwendung des § 38 EnWG – auch eine „Ersatzversorgung“ mit elektrischer Energie in Mittelspannung geben kann. Ferner ist die energiewirtschaftsrechtliche Frage zu beantworten, welchen Inhalt das dem zwischen der Klägerin und dem Netzbetreiber bestehenden „Anschlussnutzungsvertrag Strom“ (Anlage B3 = Blatt 100-109 der in Papierform geführten erstinstanzlichen Gerichtsakte) – offenbar handelt es sich hierbei um einen Netznutzungsvertrag im Sinne des § 24 der aufgrund des Energiewirtschaftsgesetzes erlassenen Stromnetzzugangsverordnung – als Anlage beigegebene „Preisblatt 15“ (Blatt 109 der in Papierform geführten erstinstanzlichen Gerichtsakte) hat und ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen eine diesem „Preisblatt“ möglicherweise zu entnehmende Ermächtigung des Netzbetreibers, auch oberhalb des Niederspannungsbereichs eine Ersatzbelieferung des Kunden zu veranlassen und zu organisieren, mit den Bestimmungen und Grundsätzen des Energiewirtschaftsgesetzes vereinbar ist. Schließlich ist die energiewirtschaftsrechtliche Frage zu klären, ob der von der Klägerin ab dem 01.01.2019 entnommene Strom nicht der Beklagten, sondern vielmehr der Nebenintervenientin wirtschaftlich zuzurechnen ist, weil zwischen dieser und der Klägerin unstreitig bis zum 31.12.2018 ein ordnungsgemäß beim Netzbetreiber gemeldeter Energieliefervertrag bestand und die Nebenintervenientin damit – falls es keine wie auch immer rechtlich einzuordnende „Ersatzversorgung“ gegeben haben sollte – Lieferantin innerhalb der letzten rechtlichen Lieferbeziehung war (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 10.05.2022 – EnZR 54/21 – [Verbrauchsstelle Goldbuschfeld], juris, Rdnr. 26) oder weil die Klägerin und die Nebenintervenientin eine – dem Netzbetreiber allerdings unstreitig erst im Laufe des Monats Januar 2019 gemeldete – Verlängerung des Energieliefervertrages über den 31.12.2018 hinaus vereinbart hatten.
6II.
7Der Senat beabsichtigt daher, das Berufungsverfahren in entsprechender Anwendung des § 281 Abs. 1 Satz 1 ZPO (vgl. zur analogen Anwendbarkeit von Bestimmungen des § 281 ZPO in der vorliegenden Fallkonstellation: BGH, Beschluss vom 17.07.2018 – EnZB 53/17 –, juris, Rdnr. 26) von Amts wegen an das Oberlandesgericht Düsseldorf – Kartellsenat – zu verweisen. Eines hierauf gerichteten Antrages einer Partei bedarf es nicht. Da die Berufung fristwahrend auch bei dem Oberlandesgericht Hamm eingelegt werden konnte (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 17.07.2018 – EnZB 53/17 –, juris, Rdnr. 18 ff.), kommt eine Verwerfung durch das Oberlandesgericht Hamm nicht in Betracht; die einzig verbleibende Möglichkeit zur weiteren Förderung des Verfahrens ist die Verweisung des Berufungsverfahrens von Amts wegen an das zuständige Berufungsgericht.
8Die Parteien und die Nebenintervenientin erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb von drei Wochen nach der Zustellung dieses Beschlusses.
9Hamm, 12.09.20224. Zivilsenat
10Auf den Hinweisbeschluss vom 12.09.2022 erging der Verweisungsbeschluss vom 25.10.2022.