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Wird die Diagnose einer akuten Suizidalität vorschnell aufgegeben, kann darin ein grober ärztlicher Behandlungsfehler liegen. Die aktute Suizidgefahr begründet eine gesteigerte Sicherungspflicht des Behandlers.
Es entspricht dem Goldstandard der Psychiatrie den Inhalt eines Patientengesprächs in seinen wesentlichen Einzelheiten zu dokumentieren. Damit wird gewährleistet, dass das gesamte Behandlungsteam den gleichen Informationsstand hat.
1. Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.
2. Auf die Anschlussberufung des Klägers wird das am 10. November 2021 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn (4 O 328/20) wie folgt teilweise abgeändert:
Soweit die Klage auf Zahlung von vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten abgewiesen wurde, wird der Beklagte verurteilt, an den Kläger diese in Höhe von 2.348,94 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20. Oktober 2020 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Anschlussberufung zurückgewiesen.
3. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
4. Dieses und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar.
Dem Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 110% des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
5. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
2I.
3Der am 00.00.1993 geborene Kläger begehrt von dem Beklagten Schmerzensgeld, Feststellung einer weitergehenden Ersatzpflicht und Zahlung vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten wegen einer vermeintlich fehlerhaften psychiatrischen Behandlung.
4Die Parteien streiten insbesondere darüber, ob im Haus des Beklagten am 29. Dezember 2018 eine akute Selbstmordgefährdung des Klägers in vorwerfbarer Weise verkannt wurde und deshalb eine dem Gebot der Sicherung widersprechende Therapiemaßnahme (Beurlaubung) erfolgte.
5Wegen der festgestellten Tatsachen und der Einzelheiten des erstinstanzlichen Parteivorbringens sowie der in der ersten Instanz gestellten Anträge wird gemäß § 540 ZPO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen mit folgenden Ergänzungen und Änderungen:
6Der damals 25-jährige Kläger befand sich vom 00. November 2018 bis zum 00. Dezember 2018 - mit kurzen Unterbrechungen - auf freiwilliger Grundlage in der stationären psychiatrischer Behandlung der A-Klinik B, dessen Träger der Beklagte ist.
7Am 00. November 2018 begab sich der Kläger auf Anraten einer ambulanten Psychotherapeutin in das Haus des Beklagten und bat um stationäre Aufnahme. Im Rahmen der Erstuntersuchung dokumentierte der diensthabende Arzt im Erfassungsbogen unter aktuellen Beschwerden:
8„hört 1 Stimme u.a. suizidimp., Suizidgedanken, drängend (…)“.
9Der Verdacht auf eine schizophrene Störung (ICD 10 F20) wurde gestellt und eine Krankenhausbehandlung und medikamentöse Einstellung empfohlen.
10Der Kläger schloss einen Behandlungsvertrag mit dem Beklagten und unterschrieb eine Einverständniserklärung, wonach er einwilligte, im Bedarfsfall auf der geschlossenen Station behandelt zu werden.
11Der in der Klinik des Beklagten bis dahin unbekannte Kläger wurde auf der allgemeinpsychiatrischen, fakultativ geschlossenen Station aufgenommen. Die Oberärztin der Station verschaffte sich ein Bild von seinem Zustand und dokumentierte ausweislich der Behandlungsunterlagen:
12„Die Anamnese war nur eingeschränkt möglich aufgrund der starken formalen Denkstörungen des Pat. (…) Seit einigen Monaten gehe es ihm schlecht. Er höre eine Stimme, sie sei in seinem Kopf, es sei seine eigene Stimme, sie beeinflusse ihn. Die Stimme hat wohl imperativen Charakter. Auch auf Nachfrage ließ sich nicht klären, ob er unter einer suizidimperativen Stimme leide und/oder selbst Suizidgedanken hat. Fragl. vor Monaten Suizidversuch oder -impuls. (…) Angaben einer inneren Stimme (nicht von außen gemacht) mit wohl imperativen Charakter, fragl. suizidimperativ, keine klassische Ich-Störung. (…) Es lässt sich nicht ausreichend gut explorieren, ob es eine suizidimperative Stimme gibt oder ob SG vorliegen. Auf Station keine Umsetzungsimpulse.“
13Eine weitere Diagnostik wurde für erforderlich erachtet. Als Medikation wurde eine Behandlung mit Olanzapin und Tavor geplant.
14Wegen fehlender Akzeptanz erhielt der Kläger das Mittel Tavor unstreitig nur am ersten Tag seines Klinikaufenthalts. Von dem Mittel Olanzapin wurde ihm täglich eine Dosis von je 5 mg verabreicht. Wegen der Angaben des Klägers zu Suizidgedanken und akustischen Halluzinationen in den ersten Behandlungstagen wird auf die Krankenunterlagen verwiesen. Am 05. Dezember 2018 untersuchte die diensthabende Oberärztin den Kläger erneut und vermerkte, dass nach dessen Angaben die suizidimperativen Stimmen und Suizidgedanken verschwunden seien.
15Am Vormittag des 06. Dezember 2018 verließ der Kläger die Klinik auf eigenen Wunsch gegen ärztlichen Rat. Eine zwangsweise geschlossene Unterbringung wurde nicht beantragt.
16Bereits am Nachmittag des 06. Dezember 2018 kehrte der Kläger auf die Station zurück. In den Krankenunterlagen vermerkten die diensthabenden Behandler:
17„kommt am Nachmittag zur Wiederaufnahme, hat Zuhause wieder Stimmen gehört und will sich jetzt doch auf die Behandlung einlassen“ und „die Stimmen seien wieder da, aktuell ohne Suizidgedanken“.
18Der Kläger wurde auf der Station weiterbehandelt. Als Medikation wurde eine abendliche Dosis von 5 mg Olanzapin beibehalten. Wegen der Angaben des Klägers zu seinem Gesundheitszustand wird auf die Krankenunterlagen verwiesen. Am 12. Dezember 2018 dokumentierte die Oberärztin nach ihrer wöchentlichen Visite:
19„Pat. verlangsamt im Gedankengang mit häufiger Gedankensperrung, fortbestehenden akustischen Halluzinationen in Form von Stimmenhören, Ambivalenzen und Ambitendenz (…)“.
20Für Samstag, den 15. Dezember 2018, genehmigten die Behandler dem Kläger eine Wochenendbeurlaubung bei seinen Eltern. Nachdem der Kläger vormittags die Klinik verlassen hatte, kam er am Nachmittag wieder zurück, da er es laut einem Vermerk in der Krankenakte nicht schaffte, bei seinen Eltern zu übernachten; auf Nachfragen ging er nicht ein.
21Im Rahmen der nächsten Oberarzt-Visite am 19. Dezember 2018 entschloss sich der Kläger, den Klinikaufenthalt erneut abzubrechen. Die Oberärztin dokumentierte:
22„Pat. weiterhin verlangsamt im Gedankengang, verzögert im Rapport, Ambivalenzen und Ambitendenz. Wünscht die Entlassung, (…). Kann nicht von einer aus unserer Sicht notwenigen Verlängerung des Aufenthalts überzeugt werden. Entlassung gegen ärztlichen Rat.“
23Der Kläger lehnte die geplante MRT-Untersuchung zur Feststellung möglicher organischer Ursachen ab. Er unterschrieb ein Formular zur Entlassung gegen ärztlichen Rat und verließ die Klinik. Eine zwangsweise geschlossene Unterbringung wurde nicht beantragt.
24Bereits am Vormittag des Folgetages, den 20. Dezember 2018, wurde der Kläger auf eigenen Wunsch erneut im Haus der Beklagten aufgenommen. Der Kläger unterschrieb einen neuen Behandlungsvertrag und eine neue Einverständniserklärung mit einer Behandlung auf der geschlossenen Station im Bedarfsfall. Er wurde erneut auf der allgemeinpsychiatrischen, fakultativ geschlossenen Station aufgenommen. Der Oberärztin der Station vermerkte nach Untersuchung:
25„(…) Bef.: stark verzögert im Rapport, stark verlangsamt im Gedankengang mit Gedankenabbrüchen, Äußerung von Transsexualität wird als Körper-Ich-Störung gewertet. Kein sicherer Hinweis auf Wahn oder Halluzinationen. Starke Ambivalenz und Ambitendenz. Nahezu starr im Affekt. Nicht suizidal (Bei Erstdiagnose F20 ist bislang kein MRT erfolgt…).“
26Nach seiner Wiederaufnahme konnte mit dem Kläger eine Höherdosierung seiner Medikation erreicht werden. Er erhielt für drei Tage je 10 mg Olanzapin, ab dem 23. Dezember 2018 erhielt er eine Höherdosierung auf 5 mg morgens und 10 mg abends.
27Der Kläger verblieb bei schwankender Stimmungslage über die Weihnachtsfeiertage auf der Station. Wegen der Angaben des Klägers zu seinem Gesundheitszustand sowie zu seinem sonstigen Verhalten wird erneut auf die Krankenunterlagen verwiesen.
28Am 28. Dezember 2018 dokumentierte der diensthabende Arzt:
29„Pat. läuft ziellos auf dem Flur, fordert Gespräch wegen RBE über Feiertagen. Sagt, dass ihm allgemein besser geht, sei mit seiner aktuellen Medikation einverstanden, verneint Stimmenhören. (…) Pat. fordert RBE, will Silvester zu Hause verbringen. Suizidgedanken wurden verneint. (…) laut Bezugspflege spricht nichts dagegen.“
30Dem Kläger wurde Ausgang in die häusliche Obhut zunächst vom 29. auf den 30. Dezember 2018 genehmigt.
31Gegen Mittag des 29. Dezember 2018 wurde der Kläger von seinem Vater aus der Klinik abgeholt. Nach Ankunft begab sich der Kläger mit seinem Fahrrad allein zu einer in der Nähe gelegenen Brücke über eine Bundesstraße und stürzte sich etwa 20 Meter hinunter, wobei er sich schwere Verletzungen zuzog. Er musste bis zum 16. Dezember 2019 im Krankenhaus verbleiben. Wegen der Einzelheiten der erlittenen Sturzverletzungen und Schadensfolgen wird auf den Entlassungsbericht des Klinikums C vom 16. Dezember 2019 wird verwiesen. Der Kläger lebt heute in einer betreuten Wohnform.
32Nachdem der Kläger zur Prüfung eventueller Arzthaftungsansprüche seine Patientenakte bei dem Beklagten angefordert hatte, wurde am 22. Mai 2019 ein Arztbrief über die Behandlungsdauer des Klägers erstellt, auf den Bezug genommen wird (vgl. der erstinstanzlichen Papierakte beiliegende Krankenunterlagen). Darin wird davon berichtet, es habe vor der Entscheidung über die Wochenendbeurlaubung am 28. Dezember 2018 ein ärztliches Tandemgespräch gegeben, in dem der Kläger deutlich besser erlebt worden sei. Aus einer Stellungnahme der Oberärztin Frau D vom 06. Oktober 2020, auf die ebenfalls Bezug genommen wird (Bl. 41 f. d.A. erster Instanz) ergibt sich, dass man den Kläger ab dem 05. Dezember 2018 nicht mehr als akut suizidal eingeschätzt habe. Zudem ist in der Stellungnahme ausgeführt:
33„(Der Kläger) trat am 28. Dezember 2018 mit dem Wunsch nach einer Wochenendbeurlaubung auf seinen Bezugstherapeuten zu. Nach dessen Prüfung und seinem anschließenden Austausch mit der Bezugspflege stimmte er zu. Freitags bzw. vor einem Wochenende wurden und werden zusätzlich die mit den Patienten besprochenen Wochenendbeurlaubungen während der Mittagsübergabe vom Gesamtteam in Anwesenheit der Oberärztin kritisch überprüft. Es wurden keine Hinderungsgründe gesehen.“
34Der Kläger hat erstinstanzlich Behandlungsfehler behauptet. Soweit er Schmerzensgeld begehrt hat, hat er – neben den sich aus den vorgelegten Krankenunterlagen ergebenden Dauerschäden – auch behauptet, er habe einen Gehörverlust links von 85% erlitten und sog. „blinde Flecken“ im linken Auge, die ihn störten.
35Der Beklagte hat gestützt auf ein Privatgutachten des E vom 1. November 2021 Behandlungsfehler bestritten und behauptet, der Suizidversuch des Klägers sei aus ärztlicher Sicht nicht vorhersehbar und damit schicksalhaft gewesen.
36Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen F und dessen ergänzende mündliche Befragung. Auf das schriftliche Gutachten vom 29. April 2021 (der Papier-Akte erster Instanz anliegend) und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 10. November 2021 (Bl. 209 ff. d.A. erster Instanz) wird Bezug genommen.
37Das Landgericht hat - bis auf einige Zinsen und vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten - der Klage stattgegeben und ein Schmerzensgeld in Höhe von 120.000,- € zugesprochen.
38Gestützt auf die Ausführungen des Sachverständigen hat es einen Behandlungsfehler festgestellt und offen gelassen, ob dieser als grob zu qualifizieren ist. Da die haftungsbegründende ursächliche Verknüpfung zwischen dem Behandlungsfehler und den Primärschäden nachgewiesen sei, komme es auf das Vorliegen einer Beweislastumkehr zugunsten des Klägers aufgrund eines „groben Behandlungsfehlers“ nicht an.
39Die akute, fortbestehende Suizidalität des Klägers sei vor seiner Entlassung am 29. Dezember 2018 fehlerhaft nicht erkannt worden. Die behandelnden Ärzte hätten von einer akuten Suizidgefahr am Tag der Aufnahme ausgehen müssen, die auch am Tag der Entlassung noch weiterbestanden habe, denn man habe nicht davon ausgehen dürfen, dass sich der Kläger tragfähig davon distanziert habe und absprachefähig gewesen sei. Zudem habe man die Suizidalität genauer evaluieren müssen; dieser Evaluation komme besondere Bedeutung zu. Aus der fehlenden Dokumentation dazu sei auf ihr Fehlen zu schließen. Auch der Privatgutachter habe festgestellt, dass es keine durchgehende Beurteilung der Suizidalität in der Dokumentation gebe. Im Übrigen beruhten die unterschiedlichen Angaben der Gutachter auf unterschiedlichen wissenschaftlichen Überzeugungen.
40Das Landgericht hat einen umfassenden Ersatzanspruch festgestellt und Schmerzensgeld in Höhe von 120.000,- € für angemessen erachtet. Dabei hat es auch einen Gehörverlust links von 85% und Sehstörungen („blinden Fleck“ im linken Auge) in seine Überlegungen zum Umfang des angemessenen Schmerzensgeldes mit einbezogen. Zinsen hat das Landgericht nur ab Rechtshängigkeit zugesprochen. In den Entscheidungsgründen der angefochtenen Entscheidung ist ausgeführt, dass die Klage im Hinblick auf die außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten aus Versehen abgewiesen wurde.
41Dagegen wendet sich der Beklagte mit seiner Berufung, mit der er vollumfänglich Klageabweisung begehrt.
42Der Beklagte bemängelt die fachliche Qualifikation des Sachverständigen. Dieser sei nicht befähigt, den medizinischen Standard in der konkreten Behandlungssituation zu beurteilen. Das Landgericht habe den praktischen Erfahrungsstand des Sachverständigen unzureichend ermittelt und im Ergebnis zu Unrecht als ausreichend angesehen. Der Beklagte beantragt, ein Obergutachten nach § 412 ZPO einzuholen und einen Sachverständigen aus dem Bereich der Akutpsychiatrie mit aktueller klinischer, insbesondere stationärer Behandlungserfahrung einzusetzen.
43Der Beklagte lehnt nach wie vor eine Haftung für das Geschehen ab und behauptet – gestützt auf das Ergebnis des Privatgutachtens aus erster Instanz –, der Kläger sei in seinem Haus im Rahmen des ärztlichen Standards behandelt worden. Entgegen der Auffassung des Sachverständigen habe man am 29. Dezember 2018 nicht von einer akute Suizidalität des Kläger ausgehen müssen. Insoweit habe sich das Landgericht nicht hinreichend mit den Ausführungen in dem Privatgutachten auseinandergesetzt.
44Der Beklagte meint, der Sachverständige habe der Diagnostik der Grunderkrankung des Klägers eine Bedeutung beigemessen, die ihr im vorliegenden Fall nicht zukomme. Er habe – anders als der Privatgutachter – verkannt, dass zumindest anfangs ein akut-psychotisches Zustandsbild bestanden habe, wobei fehlerfrei diagnostische Unsicherheiten verblieben seien, die für das weitere Behandlungsgeschehen nicht ausschlaggebend gewesen seien. Eine Akutbehandlung hänge nicht bzw. kaum von der konkret zu stellenden wissenschaftlichen Diagnose ab.
45Die Befundung des Suizidalität sei zu jeder Zeit ausreichend erfolgt.
46Soweit der Sachverständige eine genauere Evaluation des Zustands des Klägers gefordert und insoweit verlangt habe, man müsse dafür „auf anerkannte Skalen“ zurückzugreifen, könne dies keinen Bestand haben. Die Verwendung von Skalen zur Evaluation sei nirgendwo im Sinne eines zwingend einzuhaltenden ärztlichen Standards vorgeschrieben. Aus der fehlenden Verwendung von Skalen könne nicht auf eine fehlende Evaluation geschlossen werden. Eine Evaluation mittels Skalen sei in der Realität auch nicht üblich. Auch die Ausführungen des Sachverständigen zu einem erforderlichen, aber nicht erfolgten „Suizidvertrag“ seien nicht überzeugend.
47Anders als der Sachverständige habe der Privatgutachter aus der Dokumentation eine Vielzahl von Hinweisen herausgearbeitet, nach der eine Evaluation der Suizidalität sehr wohl stattgefunden habe:
48So sei eine hinreichende Evaluation der Suizidalität bereits daraus abzuleiten, dass der Kläger nicht auf einer geschlossenen Station aufgenommen worden sei, sondern auf einer fakultativ schließbaren Station. Darüber hinaus habe der Kläger bereits in den ersten 4 Tagen seiner stationären Behandlung Ausgang in Personalbegleitung und ab dem 03. Dezember 2018 Ausgang alleine auf dem Gelände erhalten, woraus der Privatgutachter schlussfolgere, dass es ihm ausdrücklich zugetraut worden sei, die Station vorübergehend ohne durchgehende Überwachung zu verlassen. Eine solche Entscheidung lege zugrunde, dass die behandelnden Ärzte und Therapeuten von einer ausreichenden Krankheitseinsicht und Behandlungsbereitschaft ausgingen und zumindest eine ausreichende Kooperation ermöglicht war, zumal der Kläger zu keinem Zeitpunkt versucht habe, sich der Behandlung unabgesprochen zu entziehen.
49Das wesentliche Behandlungsgeschehen bedeute eine „ausreichende Evaluation der Suizidalität, welche akut zu keinem Zeitpunkt während der stationären Behandlung gegeben gewesen sei bzw. respektive zumindest trotz entsprechender Evaluation nicht erkennbar gewesen sei“. Insoweit bietet der Beklagte Beweis an durch die Krankenunterlagen und die Vernehmung der Oberärztin D als Zeugin (vgl. Berufungsbegründung vom 07. März 2022, Seite 9/10, Bl. 53/54 eA zweiter Instanz).
50Demgegenüber habe der Sachverständige fehlerhafte Ausführungen gemacht:
51In einer unzulässigen ex post-Betrachtung habe er angenommen, dass die Besserung der psychischen Beschwerden in den letzten Tagen vor dem Suizid auf eine Erleichterung durch einen bereits gefassten Suizidentschluss zurückzuführen gewesen sei. Ein derartiges Geschehen sei zwar durchaus bekannt, jedoch keineswegs so häufig, dass es als typisch bezeichnet werden könnte. Ein derartiger Rückschluss habe sich hier nicht aufdrängen müssen.
52Vielmehr habe man davon ausgegangen dürfen, dass die verordnete antipsychotische Medikation in der Lage gewesen sei, bereits positive Effekte zu erzielen. Vorauszusetzen, dass eine pharmakologische Wirkung noch nicht zu erwarten gewesen wäre, sei – so der Privatsachverständige – verfehlt.
53Anders als der Sachverständige meint, sei die Ambivalenz und Ambitendenz des Klägers hier auch nicht Ausdruck für eine subjektive Ausweglosigkeit gewesen. Vielmehr sei zu berücksichtigen, dass der Kläger bereits eine längerfristige Zukunftsperspektive hinsichtlich einer beruflichen Orientierung, zumindest jedoch eine kurzfristige Zukunftsplanung aufgewiesen habe.
54Der Beklagte meint – ebenfalls gestützt auf das Ergebnis des Privatgutachters –, dass eine zwangsweise Unterbringung und Behandlung des Klägers weder medizinisch sinnvoll noch ethisch gerechtfertigt gewesen wäre; eine Unterbringung wäre explizit falsch gewesen und hätte jegliche Kooperation mit dem Patienten zurückgeworfen und langfristig das Krankheitsrisiko sogar erhöht. Insoweit verweist er auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Dresden, wonach bei suizidgefährdeten Patienten die Inkaufnahme des Risikos einer Selbstschädigung therapeutisch geboten sein könne und der Umstand, dass ein Patient Suizidgedanken äußert, für sich genommen noch nicht den Schluss auf einen Behandlungsfehler zulasse, wenn er im Anschluss hieran einen Suizidversuch unternimmt (OLG Dresden, Beschluss vom 2. November 2021, 4 U 1646/21, juris).
55Schließlich meint der Beklagte, das Landgericht habe bei der Bemessung des Schmerzensgeldes Umstände zugrunde gelegt, die nicht ordnungsgemäß nachgewiesen worden seien. Hinsichtlich der geltend gemachten Folgeschäden wäre die Einholung entsprechender Sachverständigengutachten notwendig gewesen, denn die vermeintlich sturzbedingten Dauerfolgen seien bestritten worden, insbesondere der Gehörverlust und die sog. blinden Flecken im Auge.
56Der Beklagte beantragt,
57das Urteil des Landgerichts Paderborn vom 10. November 2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
58Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt,
59die Berufung zurückzuweisen
60Im Wege der Anschlussberufung beantragt er,
61festzustellen, dass der Beklagte die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten des Klägers diesem zu erstatten habe.
62Der Senat hat den Kläger persönlich angehört und den Sachverständigen F ergänzend befragt. Wegen des Inhalts der Anhörung und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 08.11.2022 (Bl. 104 eA zweiter Instanz) und den Berichterstattervermerk vom selben Tag (Bl. 121 eA zweiter Instanz) verwiesen. Der Senat hat den Parteien eine 3-wöchige Schriftsatzfrist eingeräumt, um zum Ergebnis der Beweisaufnahme Stellung zu nehmen. Mit Schriftsatz vom 21. November 2022, auf den Bezug genommen wird (Bl. 145 eA zweiter Instanz) hat die Beklagtenvertreterin die Verlängerung der Frist zur Stellungnahme bis zum 10. Januar 2023 beantragt. Eine Fristverlängerung ist nach Senatsberatung mit Verfügung vom 22. November 2022 aus senatsinternen Gründen nicht genehmigt worden (Bl. 148 eA zweiter Instanz). Auf die erneute Beantragung der Verlängerung der Stellungnahmefrist mit Schriftsatz vom 29. November 2022 (Bl. 159 ff. eA zweiter Instanz) wird verwiesen.
63Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den wechselseitigen Parteivortrag nebst Anlagen sowie die Krankenunterlagen Bezug genommen.
64II.
65Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet. Die Anschlussberufung des Klägers hat wie aus dem Tenor ersichtlich im Wesentlichen Erfolg.
66A.
67Die Berufung bleibt ohne Erfolg. Die Entscheidung des Landgerichts ist insoweit nicht zu beanstanden.
68Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Schmerzensgeld und Feststellung einer weitergehenden Ersatzpflicht gemäß §§ 630a, 280 Abs.1, 278, 823 Abs.1, 831, 249 ff., 253 Abs.2 BGB aus Vertrag und Delikt, denn der Kläger hat Schäden an Körper und Gesundheit erlitten, die auf einer grob fehlerhaften ärztlichen Behandlung im Haus des Beklagten beruhen.
69Der Senat kommt nach eigener Beweisaufnahme und umfassender Würdigung der Gesamtumstände zu der Überzeugung, dass die psychiatrische Behandlung des Klägers im Haus des Beklagten im Dezember 2018 in besonderem Maße hinter dem ärztlichen Standard zurückblieb mit der Folge, dass die Diagnose einer akuten Suizidalität vorschnell aufgegeben wurde und – auf letztlich unzureichender Befundlage – am 29. Dezember 2018 eine Klinikbeurlaubung als Therapiemaßnahme erfolgte, die dem Sicherungsgebot widersprach und die es dem Kläger ermöglichte, einen Suizidversuch mit erheblichen bleibenden Schäden durchzuführen.
70Den behandelnden Ärztinnen und Ärzten hätte es am 29. Dezember 2018 oblegen, den Kläger von der Zurückstellung seines Beurlaubungswunsches zu überzeugen und – bei Erfolglosigkeit – die vorübergehende geschlossene Unterbringung nach dem PsychKG zu beantragen.
71Dabei stützt sich der Senat auf die Erkenntnisse aus den Krankenunterlagen, der persönlichen Anhörung des Klägers sowie den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen F, der sein Gutachten aus erster Instanz vor dem Senat – unter erneuter Auseinandersetzung mit dem Privatgutachten – anschaulich wiederholt und vertieft hat. Auch auf eingehende Nachfrage ist der Sachverständige in seinen Angaben widerspruchsfrei und klar geblieben. Dabei hat er sich mit den entscheidungserheblichen Fragen sachlich und ohne erkennbare Belastungstendenz auseinander gesetzt.
72I.
73Der Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger wegen eines groben Behandlungsfehlers ein angemessenes Schmerzensgeld in Höhe von 120.000,- € zu zahlen, § 253 Abs.2 BGB.
741.
75Dem beweisbelasteten Kläger gelingt der Nachweis, dass die Ärztinnen und Ärzte des Beklagten ihn nicht nach medizinischem Standard behandelt haben. Dabei wurde so eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln verstoßen, dass von einem groben Behandlungsfehler auszugehen ist. Auf der Grundlage der Krankenunterlagen stellt der sachverständig beratene Senat Versäumnisse fest, die aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheinen, weil sie einem Arzt oder einer Ärztin in dem entsprechenden Fachbereich schlechterdings nicht unterlaufen dürfen.
76a.
77Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte schulden dem Patienten nicht den gewünschten Erfolg, sondern nur die sachgerechte Behandlung (§ 630a Abs.2 BGB), wobei sich der medizinische Standard nach dem Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft zur Zeit der Behandlung beurteilt (BGH, Urteil vom 10. Mai 1983, VI ZR 270/81, juris; OLG Hamm, Urteil vom 27. Januar 1999, 3 U 26/98, juris). Er gibt Auskunft darüber, welches Verhalten von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation erwartet werden kann und repräsentiert den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat (vgl. Geiß/Greiner, Arzthaftungsrecht, 8. Auflage, 2022, S.79, Rd.2). Da die Frage, ob ein Arzt seine berufsspezifischen Sorgfaltspflichten verletzt hat, nach medizinischen Maßstäben zu beurteilen ist, darf der Tatrichter den medizinischen Standard nicht ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens ermitteln (BGH, z.B. Urteil vom 29. November 1994, VI ZR 189/93, juris; BGH, Beschluss vom 12. März 2019, VI ZR 278/18, juris). Es gilt der Facharztstandard.
78Begibt sich ein Patient wegen einer möglichen latenten oder akuten Suizidgefahr in Behandlung oder wird eine solche Gefahr im Rahmen einer Behandlung offenbar, so gilt: Ein Suizid ist nicht absolut vorherseh- oder vermeidbar (vgl. auch: BGH, Urteil vom 31. Oktober 2013, III ZR 388/12, juris). Die Verwirklichung der Selbsttötung oder der Versuch dessen ist nicht schon ein Indiz für eine Pflichtverletzung des behandelnden Arztes (vgl. Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 8. Februar 2000, 1 U 140/99, juris). Dem Patienten obliegt auch in Fällen des (versuchten) Suizids der volle Nachweis eines schadenskausalen Behandlungsfehlers.
79Kommt der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass eindeutig und in besonderem Maße gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen wurde, weil zum Beispiel zwingend gebotene Befunde nicht erhoben wurden oder auf Befunde nicht nach gefestigten und bekannten Regeln der ärztlichen Kunst reagiert wurde oder sonst eindeutig gebotene Maßnahmen zu Bekämpfung eines erkannten Risikos unterblieben, kann dies die Behandlung als grob fehlerhaft erscheinen lassen (st. Rspr. BGH, Beschluss vom 7. November 2017, VI ZR 173/17; BGH, Urteil vom 25. Oktober 2011,VI ZR 139/10; BGH, Urteil vom 21. Januar 2014, VI ZR 78/13, jeweils juris). Die Beurteilung obliegt insoweit dem Tatrichter unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls (BGH, Urteil vom 25. Oktober 2011, VI ZR 139/10, juris).
80Unter Beachtung dieser Grundsätze ist das Behandlungsgeschehen als grob fehlerhaft zu werten.
81b.
82Der Senat hat sich zur Frage des medizinischen Standards sachverständig beraten lassen und dabei – ebenso wie das Landgericht – die Expertise des Sachverständigen F zugrunde gelegt.
83Der Sachverständige ist befähigt, den maßgeblichen Facharztstandard zu beurteilen.
84Ein Verstoß gegen den Grundsatz der fachgleichen Beurteilung liegt nicht vor. Bei der Auswahl des Sachverständigen, die gemäß § 404 Abs.1 Satz 1 ZPO dem Prozessgericht obliegt, ist auf die Sachkunde in demjenigen medizinischen Fachgebiet abzustellen, in das die zu beurteilende Behandlung fällt (BGH, Urteil vom 19. Mai 1987, VI ZR 147/86, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 13. März 2006, 3 U 239/05, juris). Der Sachverständige F ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Das stellt auch der Beklagte nicht in Abrede.
85Soweit der Beklagte rügt, der Sachverständige sei zur Beurteilung des hier fraglichen Geschehens nicht befähigt, weil es ihm an klinischer Erfahrung bei der Behandlung suizidaler Patienten im (akut-)psychiatrischen, insbesondere stationären Setting mangele, hat er damit keinen Erfolg.
86Ob es im Einzelfall geboten sein kann, an die Qualifikation eines medizinischen Sachverständigen über die mit der Facharztausbildung einhergehende theoretische und praktische Erfahrung weitere Anforderungen zu stellen – so hat das Thüringische Oberlandesgericht in einem Fall einen „klinisch erfahrenen Facharzt aus dem gleichen Fachgebiet“ gefordert (OLG Jena, 31. Mai 2011, 4 U 635/10, juris) –, bedarf hier keiner Entscheidung. Der Sachverständige verfügt über langjährige praktische Erfahrung auch in der Behandlung von suizidalen Patienten im (akut-)psychiatrischen stationären Setting. Der berufliche Werdegang und die Berufserfahrung des Sachverständigen sind im Senatstermin ausführlich erörtert worden. Der Senat hat an der Eignung des Sachverständigen keinen Zweifel.
87Der Sachverständige arbeitete nicht nur im stationären Setting einer Akutpsychiatrie in einer Klinik des Schwester-(..)verbandes des Beklagten im G, sondern auch in einer psychiatrischen Klinik in (..) H, zunächst als Oberarzt, später als Klinikdirektor, wobei der Sachverständige erklärt hat, dass er – entsprechend der Hschen Krankenhausorganisation – auch in seiner Funktion als Klinikdirektor weit überwiegend in der direkten Patientenbetreuung tätig war, wozu auch die Akutpsychiatrie gehörte. Die Behandlung suizidaler Patienten gehörte und gehört zu seinem Arbeitsalltag. Bis heute arbeitet der Sachverständige regelhaft im nervenärztlichen Notdienst in Deutschland.
88Dass der Sachverständige neben seiner praktizierenden Tätigkeit seit 20 Jahren ein Gutachterbüro betreibt, schadet nicht.
89Dass der Sachverständige seinen Beruf einige Zeit in einem europäischen Nachbarland ausübte, stellt sein Erfahrungswissen nicht in Frage und hindert ihn nicht, den berufsspezifischen Sorgfaltsmaßstab in Deutschland beurteilen zu können. Der Sachverständige hat zudem auf Nachfrage keine signifikanten Unterschiede in der psychiatrischen Behandlung von Suizidpatienten zwischen (..) H und Deutschland benennen können.
90c.
91Der Kläger wurde im Haus des Beklagten grob fehlerhaft behandelt.
92aa.
93Zwar sind keine Fehler bei der Diagnose und Behandlung der psychischen Grunderkrankung des Klägers feststellbar. Wie der Sachverständige nachvollziehbar erklärt hat, wurde im Haus des Beklagten zu Recht der Verdacht einer psychischen Grunderkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis erhoben. Eine spezifischere Diagnose war seinerzeit nicht möglich. Dass der Sachverständige sich in seinem schriftlichen Gutachten auch eingehend mit der Diagnostik der Grunderkrankung des Klägers beschäftigt hat, ist - worauf der Privatgutachter hinweist – vorliegend nicht entscheidungserheblich, letztlich aber unschädlich.
94Auch die am Aufnahmetag festgelegte und dem Kläger im Verlauf verabreichte antipsychotische Medikation ist nicht zu beanstanden. Nach den nachvollziehbaren Angaben des Sachverständigen – die im Einklang mit der Einschätzung des Privatgutachters stehen – war die Medikamentengabe notwendig und sinnvoll. Liegt - wie hier - eine gute Verdachtsdiagnose vor, ist eine pharmakologische Behandlung der Grunderkrankung geboten. Sowohl die Wahl des Mittels Olanzapin als auch die Gabe des zur Akutbehandlung bei schizophrenen Psychosen geeigneten Mittels Tavor – welches indes nur einmal verabreicht wurde – war korrekt. Die Dosierung erfolgte fehlerfrei.
95bb.
96Auch haben die Ärztinnen und Ärzte des Beklagten am Aufnahmetag die akute Suizidgefährdung des Klägers erkannt und dessen unmittelbare stationäre Krankenhausbehandlung veranlasst.
97Nach den Ausführungen des Sachverständigen war es auf der Grundlage der Anamnese und Befunderhebung am Aufnahmetag einzig richtig, von einer akuten Suizidgefahr auszugehen. Der Kläger, ein bis dahin im Haus des Beklagten unbekannter Patient, zeigte am 28. November 2018 ein komplexes Störungsbild aus dem schizophrenen Formenkreis mit starken formalen – und die Diagnostik erschwerenden – Denkstörungen, wobei aus ärztlicher Sicht damals nicht hinreichend sicher beurteilt werden konnte, ob der Kläger nur eigene, depressive Suizidgedanken hatte oder ob er eine ich-fremde suizidimperative Stimme hörte, der er sich zu widersetzen versuchte. Der Sachverständige hat insoweit eindeutig ausgeführt, dass die krankhafte Wahrnehmung von akustischen Halluzinationen in Form von Stimmenhören, die dem Patienten befehlen, sich das Leben zu nehmen („suizidimperative Stimme“) einer der wenigen psychiatrischen Notfälle ist. Dies sei fachpsychiatrisches Grundwissen. Allein die Möglichkeit, dass ein Patient eine solche Stimme höre, sei ein Grund, eine akute Suizidalität anzunehmen und die Therapie danach auszurichten. Zudem – so der Sachverständige weiter – zeigte der Patient am Aufnahmetag neben einer Störung des Ich-Erlebens mit Wahn und Halluzinationen auch Symptome eines depressiven Störungsbildes mit Äußerungen der Hoffnungslosigkeit und affektiver Herabgestimmtheit, so dass auch ein eigener Suizidwunsch in Betracht kam. Es habe eine doppelt risikobehaftete Situation vorgelegen.
98Diese akute Suizidalität erkannten die Ärztinnen und Ärzte des Beklagten am Aufnahmetag des 28. November 2018. Die damals diensthabende Oberärztin Frau D hat in ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 06. Oktober 2020, ausgeführt, man sei erst ab dem 05. Dezember 2018 nicht mehr von einer akuten Suizidalität ausgegangen (Bl. 41 ff. d.A. erster Instanz). Auf die Stellungnahme der Oberärztin hat der Beklagte mehrfach verwiesen und sie zum Inhalt seines Parteivortrags gemacht. Soweit der Beklagte in seinen vorbereitenden Schriftsätzen dazu widersprüchlich ausgeführt hat, es habe von Anfang an nur eine „latente“ Suizidgefahr vorgelegen, legt der Senat dies nicht zugrunde. Der interessengerechte Parteivortrag, der sich auf die Angaben der damals behandelnden Oberärztin stützt, ist maßgeblich, denn er zeugt von größerer Nähe zum Geschehen und spiegelt sich in den Krankenunterlagen wieder.
99Zwar hat der Sachverständige die am Aufnahmetag erhobenen Befunde als knapp und nicht in allen Bereichen aussagekräftig genug bezeichnet. Er hat aber keinen Zweifel daran gelassen, dass man den Krankenunterlagen entnehmen kann, dass die behandelnden Ärzte zunächst am 28. November 2018 eine akute Suizidgefahr im Blick hatten.
100Auch die Ausführungen des Privatgutachters stehen dem nicht entgegen. Da der Beklagte selbst vorträgt, bis zum 05. Dezember 2018 von einer akute Suizidalität des Klägers ausgegangen zu sein, kommt es nicht darauf an, dass der Privatgutachter der Patientendokumentation Hinweise entnehmen will, wonach die behandelnden Ärztinnen und Ärzte zu keinem Zeitpunkt – auch nicht zu Beginn – die Suizidalität als akut angesehen hätten (vgl. Seite 10 des Privatgutachtens vom 1. November 2021, Bl. 200 d.A. erster Instanz).
101Insbesondere bestand keine Veranlassung, bereits am 28. November 2018 beim zuständigen Amtsgericht einen Antrag nach dem PsychKG auf geschlossene Unterbringung des Klägers zu stellen. Der Kläger hatte sich aus eigenem Antrieb in die Klinik begeben, um sich dort behandeln zu lassen. In einer solchen Situation ist für staatliche Zwangsmaßnahmen kein Raum.
102Insoweit ergibt sich auch kein Widerspruch zwischen den Ausführungen des Sachverständigen und denen des Privatgutachters. Soweit der Privatgutachter darauf verweist, dass auch das Hören von akustischen suizidimperativen Halluzinationen nicht stets eine geschlossene Unterbringung erfordere sondern nur eine Kontrolle im Einzelfall, und daraus den Schluss zieht, dass es damals keiner sofortigen geschlossene Unterbringung des Klägers bedurft habe, trägt dies dem Umstand Rechnung, dass wegen dessen freiwilligen Verbleibs eine Zwangsmaßnahme entbehrlich war. Der gerichtliche Sachverständige hat demgegenüber darauf abgestellt, dass dann, wenn der Kläger am 28. November 2018 nicht freiwillig im Krankenhaus zur Behandlung verblieben wäre, ein Antrag nach dem PsychKG auf zwangsweise geschlossene Unterbringung hätte gestellt werden müssen. Ein Widerspruch liegt in diesen beiden Einschätzungen nicht.
103cc.
104Die nachfolgende Behandlung des Klägers wurde jedoch dem ärztlichen Standard in besonderem Maße nicht gerecht.
105Die akute Suizidgefahr begründete das Erfordernis einer fachgerechten Behandlung verbunden mit einer gesteigerten Sicherungspflicht des behandelnden Krankenhauses (zu letzterem vgl. BGH, Urteil vom 20. Juni 2000, VI ZR 377/99, juris, mit Verweis auf die entspr. OLG-Rechtsprechung). Dem wurde hier nicht genüge getan. Die Diagnose der akuten Suizidalität wurde aufgrund unzureichender Befunderhebung vorschnell fallen gelassen und die Behandlungsversäumnisse führten zu der Fehleinschätzung, dem Kläger am 29. Dezember 2018 eine Beurlaubung vom Klinikaufenthalt als Therapiemaßnahme zu genehmigen.
106Nicht nur blieb die Befunderhebung nach Häufigkeit und inhaltlicher Tiefe deutlich hinter dem psychiatrischen Standard bei einem Patienten wie dem Kläger zurück (Ziff. 2.2), auch ließ die durchgeführte Befunderhebung und das gezeigte Verhalten des Klägers nicht mehr in vertretbarer Weise den medizinischen Rückschluss zu, die akute Suizidalität habe sich bis zum 29. Dezember 2018 entaktualisiert (Ziff. 2.3).
107Davon ist der Senat auf Grundlage der eindeutigen und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen überzeugt, wobei zugunsten der Klägerseite die Patientendokumentation ein Indiz dafür ist, dass das, was nicht dokumentiert wurde, auch nicht erfolgte.
108(1)
109Der Senat hat sich zu dem medizinischen Standard bei der Behandlung eines als akut suizidal eingeschätzten Patienten mit den von dem Kläger gezeigten Symptomen beraten lassen.
110Der Sachverständige, der bereits in seinem Gutachten in erster Instanz den einschlägigen Facharztstandard nachvollziehbar dargelegt hat, hat diese Ausführungen in seiner Befragung durch den Senat vertieft und verständlich und – zum Teil unter Zuhilfenahme von Beispielen - anschaulich erklärt.
111Bei einem Patienten mit akuter Suizidalität, bei dem sowohl eigene Suizidgedanken als auch das Hören „suizidimperative Stimmen“ im Raum stehen, bedarf es einer fundierten Evaluation, bevor man als Behandler von einer Entaktualisierung des Geschehens ausgehen kann. Der Facharztstandard sieht für Hochrisikopatienten wie den Kläger eine kontinuierliche, regelmäßige – bei Fortbestehen der akuten Suizidalität tägliche – Befundung des psychischen Erlebens und der Gemütsverfassung vor, um die Entwicklung im Verlauf beurteilen zu können und eine sichere Grundlage für eine Diagnoseänderung und für erforderliche Therapiemaßnahmen zu schaffen. Insoweit geht es um eine systematische Evaluation, d.h. um die regelhafte Abfrage von möglichen Symptomen im Hinblick auf die Suizidalität. So hätte im Falle des Klägers detailliert und genau erfragt werden müssen, von welcher Art die „Stimme“ genau ist und wie sie wahrgenommen wird, um herauszufinden, welche Denkinhalte dahinter stehen. Es ist beispielsweise zu erfassen, welche und wie viele Stimmen wie oft gehört werden, was sie genau sagen, wie sich ein Patient einen möglichen Suizid konkret vorstellt und wie er sich verhalten würde, wenn er wieder suizidimperative Stimmen hört. Aus psychiatrischer Sicht ist es – so der Sachverständige – wichtig zu wissen, wie das „Erklärungsmodell“ des Betroffenen für die „Stimme“ ist, woher die Stimme kommt bzw. warum sie da ist. Es ist eingehend, wiederholt und immer wieder nachzufragen. Auch die depressive Verstimmung und mögliche eigene Suizidgedanken hätten abgefragt werden müssen. Um regelmäßig einen medizinisch vollständigen, ausführlichen und vergleichbaren psychopathologischen Befund zu erhalten, muss im Patientengespräch – je nach Erkrankungsbild – ein normierter Fragenkatalog abgearbeitet werden. Das gilt auch im Falle einer akuten Suizidgefahr wie hier. Um diesem Facharztstandard gerecht zu werden, ist es – wie der Sachverständige erläutert hat – dem behandelnden Arzt beispielsweise möglich, als Hilfestellung – um bei der Befragung alle relevanten Fragestellungen im Blick zu behalten – Formulare von der Arbeitsgemeinschaft Methoden in der Psychiatrie (AMDP) zu verwenden oder mit wissenschaftlich anerkannte Skalen zu arbeiten, die geeignet sind, als Grundlage für eine objektivierbare Verlaufsbeurteilung zu dienen. Derartige Skalen sind zwar – was der Sachverständige in Übereinstimmung mit dem Privatgutachter betont hat – nicht zwingend zu verwenden, um dem Facharztstandard zu genügen. Die fortlaufende Erfassung der Entwicklung muss aber – egal wie – sichergestellt werden.
112Den sog. „Suizidvertrag“ hat der Sachverständige lediglich im Rahmen der Behandlungsmöglichkeiten erläutert und als eine anerkannte, nicht aber zwingende Therapieoption im Rahmen des medizinischen Standards beschrieben.
113(2)
114Der medizinische Standard ist hier in nicht mehr verständlicher Weise verlassen worden.
115(2.1)
116Der Senat hat als Anknüpfungstatsachen, die der Sachverständige seiner Begutachtung zugrunde gelegt hat, allein die schriftlichen Krankenunterlagen ermittelt.
117(2.1.1) Die im Arzthaftungsprozess vorgelegte Dokumentation im Form von Arztbriefen, Krankenblatt oder Patientenakte kann Aufschluss geben über das tatsächlich Vorgehen und ist bei der gerichtlichen Überzeugungsbildung grundsätzlich zu würdigen (vgl. BGH, Urteil vom 16. April 2013, VI ZR 44/12, Rn. 10-11, juris). Insoweit kann eine Dokumentation, die in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit der Behandlung erfolgt (§ 630f Abs.1 Satz 1 BGB) Indizwirkung für ihren Inhalt entfalten, nämlich dass die darin genannten Behandlungsmaßnahmen durchgeführt wurden bzw. dass das, was nicht dokumentiert ist, auch nicht geschehen ist (Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 8. Auflage, 2022, S. 217, Rd. 202). Das Fehlen der Dokumentation einer aufzeichnungspflichtigen Maßnahme begründet die Vermutung, dass die Maßnahme unterblieben ist. Einem Patienten kommen insoweit Beweiserleichterungen zugute (st. Rspr. BGH, Urteil vom 22. Oktober 2019, VI ZR 71/17, BGH, Urteil vom 11. November 2014, VI ZR 76/13, jeweils juris).
118Diese Vermutungswirkung greift auch hier.
119Die medizinisch gebotene Evaluation wäre in Form von vollständigen und ausführlichen psychopathologischen Befunden einschließlich der Erfassung von sog. Nichtbefunden dokumentationspflichtig gewesen. Davon ist der sachverständig beratene Senat überzeugt.
120Die Dokumentation dient der Gewährleistung einer sachgerechten, medizinischen Behandlung. Aufzeichnungspflichtig sind damit grundsätzlich die für die Diagnose und Therapie wesentlichen medizinischen Fakten in einer für den Fachmann verständlichen Form (Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 6. Auflage, 2021, D 209). Negativbefunde sind nur dann zu dokumentieren, wenn ein konkreter Anlass dafür besteht, etwa dann, wenn ein bestimmter Verdacht auszuräumen ist (vgl. OLG Naumburg, Urteil vom 16. November 2015, 1 U 96/14, juris; OLG Dresden, Beschluss vom 14. September 2017, 4 U 975/17, juris).
121Geht es um die Befundung einer akuten psychiatrischen Erkrankung oder – wie hier – um die Befundung einer akuten Suizidalität erfolgt die Befunderhebung im Wesentlichen durch Gespräche mit dem Patienten. Insoweit ist es – so der Sachverständige eindeutig - der Goldstandard der Psychiatrie, den Inhalt eines Patientengesprächs in seinen wesentlichen Einzelheiten zu dokumentieren. Es gehört gerade zur psychiatrischen Kernarbeit, den psychiatrischen Befund nicht nur fachlich korrekt zu erheben, sondern auch so zu dokumentieren, dass die Dokumentation als Grundlage für das Behandlungsteam zur Einschätzung von Sicherungs- und Therapiemaßnahmen genügt. Es muss gewährleistet sein, dass das gesamte ärztliche und pflegerische Team den gleichen Informationsstand hat. Auf Nachfrage hat der Sachverständige deutlich gemacht, dass es keinesfalls genügt, nur das Ergebnis eines Gesprächs zu dokumentieren. Angaben wie „diskrete Suizidgedanken“, „kein sicherer Hinweis auf Wahn“ oder „kommentierende Stimmen“ seien ohne weitere Angaben auch für einen Fachmann nicht aussagekräftig. Gilt es – wie hier – eine akute Suizidalität im Verlauf auszuschließen, ist auch die Dokumentation von Negativbefunden unumgänglich.
122(2.1.2) Über das in den schriftlichen Krankenunterlagen Dokumentierte hinaus hat der Senat keine Behandlungen oder Befundungen, Therapiemaßnahmen oder Gespräche von dem Bezugstherapeuten, der Bezugspflege oder den Psychiaterinnen oder Psychiatern der Abteilung mit dem Kläger feststellen können. Eine Parteianhörung des Beklagten als Krankenhausträger kommt insoweit nicht in Betracht. Ordnungsgemäße Beweisantritte – zum Beispiel durch Zeugenbeweis – liegen nicht vor. Von Amts wegen ist insoweit nichts zu veranlassen, auch eines Hinweises nach § 139 ZPO bedarf es nicht.
123Zwar sind auch in der Berufungsinstanz die Grundsätze des Bundesgerichtshofs zu beachten, wonach in Arzthaftungsprozessen eine gesteigerte Verpflichtung des Gerichts zu Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen besteht (vgl. Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 6. Auflage, 2021, B 331 m.w.N.). So kann – als Ausdruck der Waffengleichheit zwischen dem Patienten als Laien und dem sachkundigen Behandler - die Beiziehung von Krankenunterlagen und die Einholung eines Sachverständigengutachtens auch ohne entsprechenden Antrag geboten sein (§§ 142 Abs.1, 144 Abs.1 ZPO) (BGH, Beschluss vom 12. März 2019, VI ZR 278/18, Rn. 8-9, juris; BGH, Urteil vom 19. Februar 2019, VI ZR 505/17, juris). Der Beibringungsgrundsatz tritt jedoch nicht zugunsten einer reinen Amtsaufklärung zurück. So ist der Tatrichter auch in einem Arzthaftungsprozess nicht gehalten, ohne Beweisantritt oder zu Ausforschungszwecken Zeugen zu vernehmen. Können mögliche Anknüpfungstatsachen für eine sachverständige Beurteilung nur mittels Zeugenbeweis erbracht werden, bedarf es eines ordnungsgemäßen Beweisantritts, zu welchen Tatsachen der zumindest individualisierbare Zeuge bekunden können soll. Daran fehlt es hier.
124Dem – im Übrigen erstmals in zweiter Instanz erfolgten – Beweisangebot des Beklagten, wonach die Oberärztin D und ein Zeuge N.N. bezeugen können sollen, dass über die Dokumentation hinaus die „Suizidalität sehr wohl abgefragt bzw. evaluiert worden sei“ und dass „das wesentliche Behandlungsgeschehen eine ausreichende Evaluation der Suizidalität ergebe“, wonach keine akute Suizidalität erkennbar gewesen sei (vgl. Berufungsbegründung vom 7. März 2022, Seite 9/10, Bl. 53/54 eA zweiter Instanz), ist als reinem Ausforschungsbeweis nicht nachzugehen. Der Beklagte trägt keine konkreten, dem Zeugenbeweis zugänglichen Tatsachen vor, wann was genau – über das Dokumentierte hinaus - erfragt oder evaluiert worden sein soll. Gleiches gilt für den im Senatstermin zu Protokoll gegebenen Beweisantritt, die Zeugin D könne bekunden, dass die Suizidalität des Klägers während der gesamten Behandlung durchgängig und insbesondere vor der Entscheidung der Beurlaubung vom 29. Dezember 2018 den Standards der Beklagten entsprechend, insbesondere durch Gespräche mit ihr, evaluiert worden sei. Auch insoweit käme eine Vernehmung der Zeugin einer Ausforschung gleich, ob und ggf. welche Befundungen es über das Dokumentierte hinaus gegeben haben könnte. Es fehlt auch jede nähere Darlegung zum Inhalt des als maßgeblich herangezogenen Standards. Eine Vernehmung als sachverständige Zeugin kommt ebenfalls nicht in Betracht. Ein ordnungsgemäßer Beweisantritt unter Darlegung konkreter Tatsachen wäre dem Beklagten aber möglich und zumutbar gewesen, da es sich um Vorgänge aus seiner Wahrnehmungssphäre handelt.
125(2.2)
126Die Befunderhebung weist nach Häufigkeit und inhaltlicher Tiefe deutliche Versäumnisse auf.
127Der Sachverständige hat die Krankenunterlagen ausgewertet und auf dieser Grundlage Fehler bei der psychiatrischen Behandlung des Klägers festgestellt, die schlechterdings aus objektiver ärztlicher Sicht nicht passieren dürfen. Auf Grundlage der Dokumentation ist von einer völlig unzureichenden Evaluation der Suizidgefahr im Verlauf der Behandlung auszugehen. Anhand der einzelnen Eintragungen in der Patientenkartei hat der Sachverständige ausführlich erklärt, warum die dokumentierten Befunde und Gesprächsergebnisse nicht den Rückschluss auf ein standardgerechtes Vorgehen zulassen. Die an Aufnahmetagen und ansonsten einmal wöchentlich erfolgten Untersuchungen durch die Oberärztin der Station genügen auch in Zusammenhang mit den unregelmäßigen Untersuchungen durch die Stationsärzte und den Befunderhebungen durch die Pflege nicht. Darüber hinaus fehlt es an einer systematischen und inhaltlich hinreichenden Befragungstiefe. Anhand verschiedener Beispiele hat der Sachverständige dargelegt, dass über die gesamte Behandlungsdauer zu wenige und zu ungenaue bzw. nicht aussagekräftige Befunde erhoben wurden.
128Diese Einschätzung wird nicht durch das Privatgutachten in Zweifel gezogen.
129Soweit der Privatgutachter die Dokumentation als Indiz für eine hinreichende Befunderhebung und Diagnostik ausreichen lässt, kann dem nicht gefolgt werden.
130Der Privatgutachter geht bereits von falschen Anknüpfungstatsachen aus, denn er legt seiner Beurteilung nicht allein die geschriebene Dokumentation zugrunde, sondern knüpft an eine vermeintliche Vermutung an, wonach in Fällen der vorliegenden Art - wegen der besonderen Bedeutung der Suizidbehandlung in der Psychiatrie - auch bei fehlender Dokumentation davon auszugehen sei, dass die Suizidalität stets Gegenstand der ärztlichen Gespräche und Befragungen gewesen sei (vgl. Privatgutachten vom 1. November 2021, Seite 9, Bl.199 d.A. erster Instanz: „Vorausgeschickt sei, dass Suizidalität vor allem in psychiatrischen Institutionen das Problem ist (…) Es kann also – auch wenn dies nicht durchgängig dokumentiert ist – davon ausgegangen werden, dass das Thema Suizidalität immer präsent ist, gerade bei Patienten, bei denen dies (wie im Fall des Klägers) von Anfang der Behandlung an thematisiert wurde“.).
131So kommt der Privatsachverständige zum Beispiel zu der Einschätzung, dass dem Vermerk zu der Oberarzt-Visite vom 19. Dezember 2018
132„Pat. weiterhin verlangsamt im Gedankengang, verzögert im Rapport, Ambivalenzen und Ambitendenz. Wünscht die Entlassung, (…). Kann nicht von einer aus unserer Sicht notwenigen Verlängerung des Aufenthalts überzeugt werden. Entlassung gegen ärztlichen Rat.“
133zumindest indirekt der Hinweis entnommen werden könne, dass – auch ohne Dokumentation – eine Abfrage von Suizidalität erfolgt sei, die keine entsprechende Gefährdungslage ergeben habe.
134Ein derart typisierter Geschehensablauf kann indes nicht angenommen werden. Über die bloße Dokumentation hinaus gibt es zugunsten der Beklagtenseite keine Vermutungswirkung.
135Im Übrigen wird auch von dem Privatgutachter nicht in Abrede gestellt, dass die schriftliche Dokumentation über den 06. Dezember 2018 hinaus keine konkreten Aufzeichnungen zu suizidimperativen Stimmen und/oder Suizidgedanken enthält.
136Soweit der Sachverständige und der Privatgutachter zu unterschiedlichen Ansätzen und Schwerpunktsetzungen in ihrer Beurteilung kommen, beruhen die Widersprüche im Wesentlichen auf den vorab dargestellten Gründen.
137Verbleibende Unterschiede sind auflösbar. Der Sachverständige kann die sich aus dem Privatgutachten ergebenden Einwendungen ausräumen. Für die Einholung des von dem Beklagten begehrten weiteren Gutachtens gemäß § 412 ZPO ist kein Raum (vgl. insoweit auch: BGH, Beschluss vom 12. Januar 2011, IV ZR 190/08, juris). Auf die nachfolgenden Ausführungen wird verwiesen.
138(2.3)
139Es war aus medizinischer Sicht nicht mehr vertretbar, auf Grundlage der bis zum 29. Dezember 2018 erhobenen Befunde die Diagnose der akuten Suizidalität fallen zu lassen. Einen solchen Rückschluss ließ das Behandlungsgeschehen – so wie es dokumentiert ist – nicht zu.
140Davon ist der Senat unter Würdigung der Krankenunterlagen, die er mit dem Sachverständigen erörtert hat, überzeugt. Der Sachverständige ist im Rahmen einer umfassenden Bewertung zu dem eindeutigen Schluss gekommen, dass die dokumentierten Befunderhebungen aus Sicht eines Psychiaters keinen sicheren Anhalt boten, dass die akute Suizidalität des Klägers im Behandlungsverlauf abgeklungen war und am 29. Dezember 2018 nicht mehr vorlag.
141(2.3.1) Die dem Kläger verabreichte Medikation ließ zum 29. Dezember 2018 noch kein sicheres Abrücken von der Diagnose der akuten Suizidalität zu.
142Ungeachtet der nicht zu beanstandenden Auswahl und Dosierung der antipsychotischen Medikamente, reichte allein deren Verabreichung vom Aufnahmetag bis zum 29. Dezember 2018 nicht aus, um ein Eindämmen der akuten psychotischen Störung mit Auswirkungen auf die Suizidalität sicher beurteilen zu können. Das Mittel Tavor erhielt der Kläger unstreitig nur am ersten Tag seines Klinikaufenthalts. Sichere Erkenntnisse zur Besserung des Gesamtzustandes des Klägers ließ aber auch die Verabreichung des Mittels Olanzapin (noch) nicht zu. Zu diesem Ergebnis kommen sowohl der Sachverständige wie auch der Privatgutachter, denn auch letzterer geht lediglich davon aus, dass die Dosierung und Dauer der Gabe des Olanzapin damals bereits positive Effekte erzielt haben könnte, ohne dies als wahrscheinlich oder gar sicher zu qualifizieren.
143Wie der Sachverständige vor dem Senat erklärt hat, ist es für die medizinische Beurteilung, ob ein Medikament bei einem Patienten Wirkung zeigt, erforderlich, den Wirkstoffspiegel zu bestimmen und eine klinische Betrachtung vorzunehmen.
144Vorliegend ist bereits nicht feststellbar, welchen Wirkstoffspiegel der Kläger bis zum 29. Dezember 2018 im Blut angereichert hatte. Obwohl der Sachverständige angegeben hat, dass ein solcher Wirkstoffspiegel bei Olanzapin in der Regel wöchentlich abgeklärt werde, wurde bei dem Kläger erstmals am 28. Dezember 2018 – einen Monat nach Erstaufnahme – eine Blutprobe genommen, wobei das Ergebnis der Laborkontrolle im Zeitpunkt der Entscheidung über die Beurlaubung zum 29. Dezember 2018 unstreitig noch nicht vorlag.
145Auch ansonsten gab es keine Anhaltspunkte dafür, dass sich im Blut des Klägers bereits ein ausreichender Wirkstoffspiegel angereichert hatte. Unstreitig erhielt der Kläger die ersten 22 Tage seines Klinikaufenthalts – wegen fehlender Medikamentenakzeptanz – nur 5 mg Olanzapin, was sowohl der Sachverständige als auch der Privatgutachter als unterdurchschnittliche Dosierung beschrieben haben. Erst ab dem 19. Dezember 2018 erhielt der Kläger für drei Tage 10 mg Olanzapin, danach für 6 Tage 15 mg, wobei insoweit Zweifel bleiben, ob der Kläger die Medikation jeden Tag sicher eingenommen hat. Der Senat stützt diese Zweifel auf den unstreitigen Umstand, dass der Kläger seinerzeit der Medikamentengabe insgesamt kritisch bis ablehnend gegenüberstand sowie auf die Dokumentation vom 13. Dezember 2018, wo u.a. vermerkt ist „Pat. gibt an, die Medikation zur Nacht ausgespuckt zu haben, erhält nochmal das Medikament und wird für Ehrlichkeit gelobt.“
146Auch die klinischen Auswirkungen der Medikation bleiben nach der Dokumentation wage. So ist allein für den 25. und 26. Dezember 2018 vermerkt, „Pat. kann noch keine klare Aussage treffen, ob Med. hilfreich ist oder nicht > möchte noch abwarten“ und „Pat. räumt ein, dass Tabletten den Stress etwas red. würden.“
147(2.3.2) Auch die bis zum 29. Dezember 2018 dokumentierten Gesprächsinhalte rechtfertigten keine Abkehr von der Diagnose einer akuten Suizidgefahr. Die Angaben gaben weder Anlass, darauf zu vertrauen, dass der Kläger sich von eigenen Suizidgedanken und Umsetzungsabsichten sicher distanziert hatte, noch dass die suizidimperative Stimme verschwunden war.
148Der Sachverständige hat klar gemacht, dass es insoweit nicht ausreicht, dass der behandelnde Assistenzarzt der Station am 28. Dezember 2018 vermerkte, der Kläger verneine sowohl das Hören von Stimmen als auch Suizidgedanken. Selbst wenn man zugunsten des Beklagten zudem unterstellt, dass es – wie in dem Arztbrief vom 22. Mai 2019 ausführt – vor der Beurlaubungsentscheidung ein sog. Tandemgespräch zwischen dem Kläger und zwei Behandlern – vermeintlich dem behandelnden Assistenzarzt und der Oberärztin der Station – gab und selbst wenn man den Vortrag des Oberärztin D aus ihrer Stellungnahme vom 06. Oktober 2020 berücksichtigt, wonach der Kläger am 28. Dezember 2018 mit dem Wunsch nach einer Wochenendbeurlaubung auf seinen Bezugstherapeuten zukam, der nach Prüfung und anschließendem Austausch mit der Bezugspflege zustimmte, wobei freitags bzw. vor einem Wochenende zusätzlich die mit den Patienten besprochenen Wochenendbeurlaubungen während der Mittagsübergabe vom Gesamtteam in Anwesenheit der Oberärztin kritisch überprüft wurden und keine Hinderungsgründe gesehen wurden (vgl. Bl. 41 f. d.A. erster Instanz), bieten diese Angaben keine hinreichende Grundlage für eine Diagnoseabkehr von der zunächst – korrekt – diagnostizierten akuten Suizidgefahr.
149Vielmehr hat der Sachverständige darauf verwiesen, dass sich über den gesamten Behandlungsverlauf Anhaltspunkte ergaben, von noch nicht abgeklungenen akustischen Halluzinationen sowie eigenen suizidalen Tendenzen bei dem Kläger auszugehen, die einer weitaus genaueren Abklärung bedurft hätten. So ergibt sich aus der Patientenakte beispielhaft Folgendes:
150Obwohl am 05. Dezember 2018 im Rahmen einer Oberarzt-Visite vermerkt wurde
151„Subjektiv gehe es ihm gut. Die suizidimperativen Stimmen und Suizidgedanken seien verschwunden. Subjektiver Auslöser sei Stress gewesen (den der Pat. nicht näher bezeichnet). Er brauche deshalb keine Medikation mehr (…)“
152und der Kläger – gegen ärztlichen Rat – am 06. Dezember 2018 entlassen wurde, wurde nach Wiederaufnahme des Klägers auf die Station nur wenige Stunden später vermerkt:
15316:30 Uhr: „kommt am Nachmittag zur Wiederaufnahme, hat Zuhause wieder Stimmen gehört und will sich jetzt doch auf die Behandlung einlassen“. 19:10 Uhr: „die Stimmen seien wieder da, aktuell ohne Suizidgedanken“.
154Sodann wurde für den 08. und 12. Dezember 2018 – ohne nähere Angaben – ein Stimmenhören des Klägers dokumentiert. Auch die Oberarzt-Visite am 12. Dezember ergab: „fortbestehende akustische Halluzinationen in Form von Stimmenhören, Ambivalenzen und Ambitendenz.“
155Eine am 15. Dezember 2018 genehmigte Wochenendbeurlaubung brach der Kläger nach wenigen Stunden ab, weil er es laut Dokumentation „nicht schafft, bei seinen Eltern zu übernachten. Auf genaues Nachfragen geht der Pat. nicht ein.“
156Nachdem sich der Kläger am 19. Dezember 2018 – gegen ärztlichen Rat – entlassen hatte, erschien er bereits am Morgen des Folgetages zur Wiederaufnahme auf der Station, wobei die diensthabende Oberärztin u.a. vermerkte:
157„(…) Bef.: stark verzögert im Rapport, stark verlangsamt im Gedankengang mit Gedankenabbrüchen, Äußerung von Transsexualität wird als Körper-Ich-Störung gewertet. Kein sicherer Hinweis auf Wahn oder Halluzinationen. Starke Ambivalenz und Ambitendenz. Nahezu starr im Affekt. Nicht suizidal (Bei Erstdiagnose F20 ist bislang kein MRT erfolgt (…).“
158In der Zeit vom 21. bis zum 28. Dezember 2018 finden sich zudem wiederholte Einträge zu einer herabgesenkten Stimmungslage des Patienten und belastenden Gedanken, über die er nicht sprechen wollte.
159Die so dokumentierten Umstände ließen – so der Sachverständige – keinen sicheren Rückschluss auf nicht mehr vorhandene suizidimperative Stimmen und eigene Suizidgedanken zu. Insoweit sei auch zu beachten, dass Patienten, die – wie hier – an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis als Grunderkrankung litten, häufig dazu neigten, Krankheitssymptome zu verleugnen, da sie keinen „Krankheitsgewinn“ verspürten, d.h. sich keine Vorteile durch ihre Erkrankung versprächen. Stattdessen sei bekannt, dass Erkrankte aus dem schizophrenen Formenkreis oft Nachteile durch die Krankheit – etwa ungewollte Medikamentengaben etc. – befürchteten und deshalb nicht selten „vortäuschten“, keine Symptome mehr zu haben, um nicht mehr ungewollt behandelt zu werden. Auch vor diesem Hintergrund sei die Aussagekraft von einzelnen Aussagen zu bewerten und ohne wiederkehrende, systematischen Befragung und Evaluation nicht stichhaltig. Das hält der Senat für überzeugend.
160(2.3.3) Der Senat kann auch nicht unberücksichtigt lassen, dass der Kläger am 01. Dezember 2018 gegenüber seinen Behandlern angegeben hatte „dass er zwischendurch immer noch suizidale Gedanken verspüre, er diese dann durch Fressattacken kompensiere (…)“, und dass es im Verlauf der Behandlung immer wieder zur Dokumentation auffälligen Essverhalten („Fressattacken“) des Klägers kam. Auch insoweit lagen – wie der Sachverständige bestätigt hat - unübersichtliche Symptomangaben im Kontext einer möglichen Suizidalität vor, die einer klaren Einschätzung der Lage entgegenstanden.
161(2.3.4) Bis zuletzt war der Kläger in seinem Denken und Tun hin- und hergerissen. Der Sachverständige hat das dokumentierte Verhalten des Klägers bewertet und fortdauernde Ambivalenzen bzw. Ambitendenzen erkannt, von denen man aus medizinischer Sicht spricht, wenn ein Patient zeigt, dass er einerseits ein Krankheitsgefühl verspürt und sich den Behandlern zuwendet, auf der anderen Seite aber das Gefühl hat, von den Behandlern nicht verstanden zu werden und so die Hilfe der Klinik ablehnt. Dieses „Hin und Her“, was nach Aussage des Sachverständigen stets ein mögliches Zeichen für ein andauerndes akutes Krankheitsgeschehen ist, lag hier vor:
162Über die gesamte Behandlungsdauer zeigte der Kläger nicht nur eine deutliche Ambivalent im Hinblick auf seine Medikation und die Fortdauer der Behandlung im Haus des Beklagten. Auch im alltäglichen Geschehen waren diese Tendenzen erkennbar. Noch in der Woche vor der Entlassung am 29. Dezember 2018 dokumentierte die Pflege – fast durchweg – eine schwankende Stimmungslage des Klägers und eine geäußerte Ambivalenz, was den weiteren Aufenthalt in der Klinik angeht, weil der Kläger „glaube, den Erwartungen der Behandler nicht gerecht werden zu können“. Am Vortrag der Entlassung zeigte es sich ambivalent hinsichtlich der Möglichkeit, an einem begleiteten Ausgang teilzunehmen.
163(2.3.5) Demgegenüber kann der Beklagte nicht mit dem Einwand gehört werden, die behandelnden Ärzte und Therapeuten hätten von einer ausreichenden Krankheitseinsicht und Behandlungsbereitschaft des Klägers ausgehen können, weil sich der Kläger zu keinem Zeitpunkt versucht habe, der Behandlung unabgesprochen zu entziehen. Dass der Kläger in den ersten 4 Tagen seiner stationären Behandlung Ausgang in Personalbegleitung und ab dem 03. Dezember 2018 Ausgang alleine auf dem Klinikgelände erhielt, ist bereits nicht mit einer bewussten Entlassung aus dem Fürsorgebereich des Krankenhauses in die Eigenverantwortung zu vergleichen. Auch dass sich der Kläger zweimal gegen den Rat der Ärzte aus der Klinik entließ, kann nicht zugunsten des Beklagten streiten. Der zwischenzeitliche Versuch einer Wochenendbeurlaubung scheiterte. Die medikamentöse Behandlung bereitete bis in die letzten Tage Probleme. Auf dieser Grundlage überzeugt die Schlussfolgerung des Privatgutachters, es habe eine ausreichende und tragfähige Krankheitseinsicht und Behandlungsakzeptanz vorgelegen, nicht.
164(2.3.6) Auch der Einwand des Privatgutachters, der Sachverständige habe in einer unzulässige ex post-Betrachtung angenommen, der Kläger habe in den letzten Tagen vor dem Suizidversuch eine Besserung seiner psychischen Beschwerden gezeigt, die auf eine Erleichterung durch einen bereits gefassten Suizidentschluss zurückzuführen sei, hat keinen Bestand. Ob sich der Dokumentation der letzten Tagen im Haus des Beklagten überhaupt eine signifikante Besserung des Zustandes des Klägers entnehmen lässt, kann offenbleiben. Der Sachverständige und der Privatgutachter gehen übereinstimmend davon aus, dass ein derartiges Geschehen bekannt ist und lediglich als mögliche Erklärung in Betracht kommen kann, letztlich hier aber gerade keinen sicheren Rückschluss auf die Gemütslage des Klägers zuließ.
165(2.3.7) Soweit der Privatgutachter darauf abstellt, der Sachverständige habe verkannt, dass der Kläger im Laufe der Behandlung eine (möglicherweise unrealistische) berufliche Zukunftsplanung und auch eine kurzfristige Zukunftsplanung für den Silvesterabend entwickelt habe, was gegen einen Suizid gesprochen habe, so rechtfertigt auch dies keine andere Beurteilung. Bei der Frage, ob man gesicherte Anhaltspunkte hatte, von einer Entaktualisierung der Suizidgefahr auszugehen, kommt diesem Aspekt im Rahmen einer Gesamtschau nur untergeordnetes Gewicht zu.
166(2.3.8) Ebenso ohne Erfolg verbleibt der Einwand des Privatgutachters, es sei dem Grundsatz der Mitbestimmung und Gleichberechtigung des Patienten zur Stärkung des Vertrauens und der Akzeptanz Rechnung zu tragen gewesen. Die Vertrauensbasis zum Kläger habe man seinerzeit nicht durch Versagung der Beurlaubung in Frage stellen dürfen, denn zur Therapie suizidgefährdeter Patienten gehört es auch, den Patienten nicht durch überzogene Sicherungsmaßnahmen in seiner Selbstbestimmung einzuengen.
167Der Sachverständige hat sich mit dem Einwand eingehend befasst und den Therapieansatz der sog. „mitgetragenen Behandlung auf Augenhöhe“ erläutert. Der Sachverständige erkennt – ebenso wie der Privatgutachter – diesen Therapieansatz als wichtige Grundlage in der Behandlung psychisch erkrankter Personen an. Für einen langfristigen Behandlungserfolg ist eine vertrauensgetragene Arzt-Patienten-Beziehung ebenso unumgänglich wie eine Stärkung des Selbstwertgefühls und der Eigenverantwortlichkeit. Auch zuvor als (latent) suizidgefährdet eingeschätzten Patienten könne Ausgang in Begleitung ihrer Angehörigen für eine begrenzte Zeit gewährt werden. Die Gewährung des Ausgangs sei insoweit Teil eines anerkannten therapeutischen Konzepts zum Aufbau des Selbstbewusstseins (vgl. auch OLG Dresden, Beschluss vom 2. November 2021,4 U 1646/2, juris).
168Diese Grundsätze setzen jedoch stets voraus, dass der betroffene Patient nicht akut suizidgefährdet ist. Beide Gutachter gehen letztlich davon aus, dass bei Vorliegen einer akuten Suizidgefahr vertrauensbildende Maßnahmen hinter der Sicherung des Patienten zurückzutreten haben. Der Schutz von Leben und Gesundheit hat stets Vorrang. Anders können auch die Ausführungen des Privatgutachters nicht verstanden werden. Anderes ergibt sich auch nicht aus der vom Beklagten zitierten Rechtsprechung (OLG Dresden, Beschluss vom 2. November 2021,4 U 1646/21, Rn. 7, juris; vgl. auch OLG Naumburg, Urteil vom 08.02.2000, 1 U 140/99, juris). Soweit nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das Sicherheitsgebot stets abzuwägen ist gegen Gesichtspunkte der Therapiegefährdung durch allzu strikte Verwahrung (vgl. BGH, Urteil vom 31. Oktober 2013, III ZR 388/12, juris; BGH, Urteil vom 20. Juni 2000, VI ZR 377/99, juris), genießt die Patientensicherheit bei akuter Selbstmordgefahr den Vorrang und gebietet – unter Beachtung der Menschenwürde - angemessene Maßnahmen, zu denen auch die Versagung einer Beurlaubung und die Beantragung einer geschlossenen Unterbringung nach dem PsychkG gehören kann.
169Dass der Privatgutachter letztlich die Beurlaubung am 29. Dezember 2018 als sinnvolle Therapiemaßnahme befürwortet, liegt nicht an einem grundsätzlich anderen wissenschaftlichen Verständnis, sondern daran, dass er die tatsächliche Gefährdungslage anders einschätzt und am 29. Dezember 2018 nicht (mehr) von einer erkennbaren akuten Suizidalität ausgeht. Wie bereits dargestellt, beruht die Einschätzung des Privatgutachters jedoch auf Anknüpfungstatsachen, die der Senat nicht feststellen kann. Auf das Vorgenannte wird verwiesen.
1702.
171Die Haftungsbegründende ursächliche Verknüpfung zwischen der fehlerhaften Behandlung und der Primärschädigung des Klägers liegt vor, wobei wegen des groben Behandlungsfehlers eine Beweislastumkehr zugunsten des Klägers streitet.
1723.
173Der Senat erachtet – ebenso wie das Landgericht - ein Schmerzensgeld in Höhe von 120.000,-€ für angemessen.
174Die Bemessung des Schmerzensgeldes erfolgt nach § 287 ZPO unter Beachtung aller maßgeblichen Umstände, um eine angemessene Beziehung zwischen Entschädigung und Art und Dauer der Verletzungen zu erlangen. Maßgebend für die Höhe des Schmerzensgeldes sind im Wesentlichen die Schwere der Verletzungen, das dadurch bedingte Leiden, dessen Dauer, das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Dabei geht es nicht um eine isolierte Schau auf einzelne Umstände des Falles, sondern um eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalles (st. Rspr. des BGH, zuletzt: Urteile vom 15. Februar 2022, VI ZR 937/20, und vom 22. März 2022, VI ZR 16/21, beide juris).
175Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze erscheint ein Schmerzensgeld in der ausgeurteilten Höhe für den Kläger angemessen, aber auch ausreichend.
176Der Senat hat den Kläger gemäß § 141 ZPO persönlich zu seinen Beschwerden angehört hat und die vorgelegten Krankenunterlagen gewürdigt. Zunächst war der langwierige Krankheitsverlauf zu berücksichtigen. Der Kläger wurde wegen seiner erheblichen Sturzverletzungen fast ein Jahr stationär im Universitätsklinikum C – unter anderem wegen einer inkompletten Querschnittslähmung – behandelt. Während des Krankenhausaufenthalts wurden nicht nur diverse Frakturen an Armen und Beinen einschließlich der Gelenkbereiche versorgt, auch wegen verschiedener Weichteilschäden erfolgten – nicht zuletzt im Bauchraum – viele Operationen und Folgeeingriffe. Mehrfache Hauttransplantationen wurden durchgeführt. Neben der Länge und Intensität der Behandlungszeit fallen die verbleibenden Gesundheitsbeeinträchtigungen ins Gewicht. Es verbleiben Dauerschäden, die den Kläger täglich erheblich belasten. Wegen der Versteifung einiger Wirbelkörper und einer irreversiblen Schädigung beider Fußgelenke ist der Kläger – der im Zeitpunkt des Schadenseintritts erst 25 Jahre alt war – dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen, wodurch er sich täglichen Herausforderungen bei der Fortbewegung, der Alltagsbewältigung, aber auch der Freizeitgestaltung sowie im sozialen und – möglicherweise zukünftig angestrebten – beruflichen Miteinander ausgesetzt sieht und sehen wird. Die Fähigkeit, selbstständig zu gehen, hat er nicht wiedererlangt. Lediglich kurze Strecken zu – regelmäßig erforderlichen - Übungszwecken kann er unter Zuhilfenahme eines Rollators bewältigen. Eine künftige Besserung des Gangbildes ist nicht erkennbar. Nachvollziehbar hat der Kläger angegeben, an Rückenschmerzen zu leiden. Motorische Einschränkungen der rechten Hand, begründet in einer irreversiblen Nervenverletzung, und des rechten Arms liegen vor. Der Kläger leidet an einer neurogenen Blase, so dass er sich tägliche zweimal katheterisieren muss. Im Hinblick auf die schwerwiegenden Einschränkungen, die bei dem Kläger verbleiben werden, kommt es auf die Frage, ob auch eine dauerhafte Gehörseinschränkung im linken Ohr verblieben ist und ob sog. blinde Flecken im linken Auge schadensursächlich entstanden sind, nicht weiter an.
177Der Senat hat sich einen Überblick über vergleichbare Fälle verschafft. Im Jahr 2021 hat der Senat einem 48-jährigen Mann, der infolge einer ärztlichen Fehlbehandlung eine inkomplette Querschnittslähmung erlitt, wodurch er zur Fortbewegung auf Rollator und Rollstuhl angewiesen war, und der neben einer Blasenentleerungsstörung auch eine ausgeprägte Schmerzsymptomatik zurückbehalten hatte, ein Schmerzensgeld in Höhe von 150.000,- € zugesprochen, wobei insoweit auch eine unfallkausale depressive Verstimmung Mitberücksichtigung gefunden hat (OLG Hamm, Urteil vom 2. Februar 2021, I-26 U 54/19, juris). Unter Berücksichtigung des Alters des Klägers, aber auch unter Beachtung, dass seine psychische Grunderkrankung und die damit einhergehenden Belastungen bereits vor dem Sturzereignis vorhanden waren, erachtet der Senat das vom Landgericht ausgeurteilte Schmerzensgeld der Höhe nach für angemessen. Auch wenn der Genugtuungsfunktion im vorliegenden Fall allenfalls geringe Bedeutung zukommt, ist der ausgeurteilte Betrag dennoch erforderlich, um dem Kläger einen finanziellen Ausgleich zu verschaffen für seine letztlich unnötigen körperlichen Leiden und Einschränkungen und den damit einhergehenden - über die bereits vorhandene psychische Grunderkrankung hinausgehenden - Verlust an Lebensfreude.
178II.
179Auch der Feststellungsantrag ist begründet. Auf der Grundlage des Vorgenannten ist die materielle und für zukünftige, derzeit noch nicht absehbare Schäden immaterielle Einstandspflicht wegen der Versäumnisse im Dezember 2018 festzustellen. Die umfassende Feststellungklage ist zulässig, insbesondere bedurfte es für eventuell bereits teilweise bezifferbare materielle Schäden keiner Leistungsklage, denn die Schadenshöhe steht noch nicht abschließend fest. Die zukünftige Schadenseinwicklung ist insgesamt nicht absehbar. Der Senat geht auch davon aus, dass der Beklagten als öffentlich-rechtliche Körperschaft auf Grundlage eines Feststellungsurteils eine sinnvolle und sachgerechte Schadensregulierung vornehmen wird (vgl. zu prozessökonomischen Feststellungsklagen gegen staatliche oder kommunale Träger, z.B. BGH, Urteil vom 10. Mai 1978, VIII ZR 166/77, juris).
180III.
181Die Entscheidung des Landgerichts hinsichtlich der Zinsen ist nicht zu beanstanden. Zinsen ab Rechtshängigkeit sind zu zahlen, § 291 ZPO.
182B.
183Die zulässige Anschlussberufung des Klägers hat im Wesentlichen Erfolg.
184Der Senat legt den im vorbereitenden Schriftsatz vom 08. August 2022 angekündigten Antrag des Klägers zu Ziff. 2 („festzustellen, dass der Beklagte die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten des Klägers diesem zu erstatten habe“), auf den der Kläger in der mündlichen Verhandlung Bezug genommen hat, sach- und interessengerecht dahin aus, dass er eine abändernde und zusprechende Entscheidung über den in erster Instanz versehentlich abgewiesenen Klageantrag zu Ziff. 2 („den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger außergerichtliche Rechtsverfolgungskosten zu zahlen in Höhe von 2.348,94 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszins seit dem 02. Januar 2020“) begehrt. Es ist nicht am buchstäblichen Wortlaut eines Antrags zu haften, wenn das Gewollte eindeutig aus dem Prozessziel und der Interessenlage hervorgeht. Insoweit bedurfte es auch keines Hinweises gemäß § 139 Abs.1 ZPO zur Hinwirkung auf eine sachdienliche Antragsanpassung. Das mit der Anschlussberufung verfolgte Begehren war für alle Prozessbeteiligten klar erkennbar. Schutzwürdige Belange des Beklagten stehen nicht entgegen. Die Anschlussberufung dient allein der Korrektur eines erstinstanzlichen Versehens.
185Da der Kläger in der Hauptsache obsiegt hat auch die Nebenforderung auf Zahlung der vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten Erfolg. Zur Anpassung des Gegenstandswerts erfolgte kein Vortrag. Der Zinsanspruch ist – ebenso wie der Zinsanspruch in der Hauptsache – erst ab Rechtshängigkeit begründet (§ 291 BGB).
186III.
187In der dem Beklagten versagten Verlängerung der Frist zur Stellungnahme zu dem Ergebnis der Beweisaufnahme liegt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs.1 GG.
1881.
189Im Abschluss an die Beweisaufnahme hat der Senat die mündliche Verhandlung fortgesetzt (§§ 370 Abs. 1, 525 ZPO) und das Ergebnis der Beweisaufnahme mit den Parteien erörtert. Beide Parteien haben bereits so Gelegenheit erhalten, zur Beweisaufnahme Stellung zu nehmen, wobei eine sofortige Stellungnahme im Termin regelhaft dazu dient, dass unter dem lebendigen Eindruck der Beweisaufnahme verhandelt und entschieden wird (vgl. BGH, Urteil vom 16. Mai 1977, VIII ZR 311/75, juris).
190Zudem hat es der Senat für angemessen erachtet, den Parteien auf Antrag des Beklagten eine Frist zur schriftlichen Stellungnahme zu gewähren und diese mit 3 Wochen bemessen.
191Der Anspruch auf rechtliches Gehör ( Art.103 Abs.1 GG) gebietet es, im Anschluss an die Beweisaufnahme analog § 283 ZPO eine Frist zur schriftlichen Stellungnahme zum Beweisergebnis zu gewähren, wenn von einer Partei eine umfassende sofortige Stellungnahme nicht erwartet werden kann, weil sie Zeit braucht, um - in Kenntnis der Sitzungsniederschrift - angemessen vortragen zu können (vgl. BGH, Urteil vom 14. Juni 2018, III ZR 54/17, juris). So ist in Arzthaftungssachen unter dem Blickpunkt des rechtlichen Gehörs auch der Behandlungsseite Gelegenheit zu geben, nochmals Stellung zu nehmen, wenn der medizinische Sachverständige in seinen mündlichen Ausführungen neue und ausführlichere Beurteilungen gegenüber dem bisherigen Gutachten abgegeben hat (BGH, Beschluss vom 30. November 2010, VI ZR 25/09, juris; BGH, Urteil vom 13. Februar 2001, VI ZR 272/99, juris).
192Der Sachverständige hat in seiner mündlichen Befragung vor dem Senat keine Aspekte hervorgehoben, die er nicht bereits in seinem Gutachten aus erster Instanz angesprochen hat. Er hat weder insgesamt noch in Teilaspekten neue Beurteilungen abgegeben, sondern sein bereits in erster Instanz mündlich erläutertes Gutachten wiederholt und auf Nachfrage des Senats und der Parteivertreter seinen Standpunkt eingehender erklärt und – versehen mit Beispielen – anschaulich vertieft. Auch das Privatgutachten hat dem Sachverständigen bereits in erster Instanz vorgelegen. Im Senatstermin sind weder Widersprüche zum erstinstanzlichen Gerichtsgutachten offenbar geworden, noch sind neue Umstände hinzugekommen. Eine bloße Vertiefung der sachverständigen Beurteilung ist nicht gleichzusetzen mit dem Vorbringen einer neuen Begründung an sich. Insofern hat auch der Senat seine Entscheidung auf keinen Gesichtspunkt gestützt, der nicht bereits Gegenstand der ersten Instanz gewesen ist. Im Hinblick auf die Bedeutung der Sache und der Dauer der mündlichen Verhandlung hat der Senat gleichwohl eine Frist zur Stellungnahme nachgelassen.
1932.
194Von einer Verlängerung der Frist zu Stellungnahme hat der Senat abgesehen.
195Dabei hat der Senat das grundrechtlich geschützte Recht des Beklagten auf rechtliches Gehör gegen die Konzentrations- und Beschleunigungsmaxime, wonach ein Rechtsstreit nach Möglichkeit in einem Hauptverhandlungstermin zu erledigen ist (§ 272 Abs.1 ZPO, vgl. Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, Vorbemerkungen zu §§ 128-252, Rn. 13b), und die Interessen des Klägers abgewogen und letzterem den Vorzug gegeben.
196a.
197Im Falle einer Fristverlängerung nach Antrag wäre eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gemäß § 156 Abs.2 Nr.3 ZPO unumgänglich gewesen. Die Senatsbesetzung ändert sich zum 31. Dezember 2022 durch Ablauf der Erprobungszeit und Ausscheiden der Berichterstatterin. Art.103 Abs.1 GG begründet in Verbindung mit § 128 Abs.1 ZPO einen Anspruch der Parteien auf eine mündliche Verhandlung "vor dem erkennenden Gericht" (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 3. Juli 2019, 1 BvR 2811/18, juris). Damit konform bestimmt § 309 ZPO, dass das Urteil nur von denjenigen Richtern gefällt werden kann, welche der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung beigewohnt haben.
198Eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung und die damit einhergehende Verzögerung und Belastung galt es vorliegend aus Gründen der Fürsorge zu vermeiden. Der Kläger soll sich – auch wenn von einem persönlichen Erscheinen in einem neuen Verhandlungstermin gegebenenfalls abgesehen werden könnte – nicht dem Zwang einer erneuten mündlichen Verhandlung in neuer Senatsbesetzung ausgesetzt sehen. Der Senat hat sich im Verhandlungstermin ein eigenes Bild von dem Kläger verschafft. Dieser hat sich eigenen Angaben zufolge seelisch stabilisiert. Auch der Senat hat den Eindruck gewonnen, dass der Kläger die Umstände seines Lebens – einschließlich seiner Grunderkrankung – derzeit meistert. Gleichwohl verkennt der Senat die inhaltliche Herausforderung dieses Rechtsstreits für den Kläger nicht. Für den Senat war deutlich spürbar, wie sehr der Kläger unter dem Senatstermin und den eingehenden Erörterungen gelitten hat. Der Kläger hat ein berechtigtes Interesse, dass das Verfahren nunmehr einem Ende zugeführt wird. Der psychisch erkrankte Kläger soll nicht mit den Fragen einer Verfahrensverlängerung und der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung belastet werden. Der Senat möchte auf keinen Fall riskieren, die positive Entwicklung zu gefährden.
199b.
200Demgegenüber tritt das Interesse des Beklagten an einer Fristverlängerung zurück. Im Termin sind keine Bedenken gegen die Dauer der verkündeten Schriftsatznachlassfrist erhoben worden. Den Verfahrensbeteiligten ist bekannt, dass in Arzthaftungssachen eine Frist von mehr als drei Wochen unüblich ist. Die verständlichen Terminengpässe der Beklagtenvertreterin, die sich jedoch nicht auf die Dauer der gesetzten Frist, sondern auf die Wochen bis zum Jahresende und darüber hinaus beziehen, können das Interesse des Klägers an einem beschleunigten Verfahrensabschluss nicht überwiegen. Soweit eine Rücksprache mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Beklagten nicht fristgerecht erfolgen kann, ist zu berücksichtigen, dass der Beklagtenvortrag – wie dargelegt – kein Vorbringen zu Behandlungen über das dokumentierte Geschehen hinaus enthält. Anlass zu ergänzendem Parteivortrag, der nicht bereits in erster Instanz bestand, ist durch die Beweisaufnahme nicht zu Tage getreten. Zur Vorbereitung neuen, ergänzenden Tatsachenvortrags bei bekannter Gutachtenlage ist die Stellungnahmefrist auch nicht gewährt worden. Dass eine Ergänzung des Privatgutachtens nicht fristgerecht zu erreichen ist, rechtfertigt ebenfalls keine Fristverlängerung. Dem Privatgutachter lagen schon in erster Instanz die gesamten Krankenunterlagen und das gerichtliche Gutachten vor. In der Hauptverhandlung in zweiter Instanz sind weder neue Tatsachen bekannt geworden noch ist der gerichtliche Sachverständige von seinen bisherigen Beurteilungen abgewichen. Der Sachverständige hat lediglich seinen Standpunkt vertieft. Es gibt keine neuen Erkenntnisse, zu denen sich der Privatgutachter erstmals verhalten müsste. Unter diesen Voraussetzungen ist eine Verlängerung der Frist nicht geboten.
201VI.
202Der nicht nachgelassene Schriftsatz des Beklagten vom 20. Dezember 2022 nebst Anlagen gibt dem Senat keinen Anlass, die mündliche Verhandlung gemäß § 156 ZPO wieder zu eröffnen.
203Der Senat hat sich inhaltlich mit dem Vorbringen im nicht nachgelassenen Schriftsatz befasst und auch die Anlagen einschließlich des Ergänzungsgutachtens des Privatgutachters vom 14. Dezember 2022 und des Nachtrags des Privatgutachters vom 15. Dezember 2022 eingehend gewürdigt. Anlass zu einer abweichenden Beurteilung oder erneuten Beweisaufnahme ergibt sich daraus nicht.
204Soweit der Beklagte nach wie vor die fachliche Kompetenz des Sachverständigen in Frage stellt und insbesondere darauf verweist, dieser sei – neben seiner gutachterlichen Tätigkeit – in den letzten Jahren nur noch im Notfalldienst und konsularisch in der psychiatrischen Akutversorgung tätig, schadet dies nicht. Die fachliche Expertise des Sachverständigen wird dadurch nicht geschmälert. Der Beklagte legt auch nicht dar, welche vermeintlich aktuellen Erkenntnisse oder wissenschaftlichen Entwicklungen der Sachverständige nicht mitverfolgt oder übersehen haben könnte.
205Das Ergänzungsgutachten des Privatgutachters nebst Nachtrag gibt keinen Anlass zu einer anderen Beurteilung. Alle entscheidungserheblichen Aspekte sind bereits Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Der Privatgutachter betont, vollinhaltlich bei seinen bereits im ersten Privatgutachten getroffenen Aussagen zu bleiben, und macht deutlich, dass aus seiner Sicht auch die vom Sachverständigen im Senatstermin getätigten Ausführungen keine neuen Aspekte enthalten gegenüber dessen bereits zuvor schriftlich und mündlich erfolgten Begutachtungen (Seite 1 des Ergänzungsgutachtens, Bl. 185 eA zweiter Instanz). Zudem stellt der Privatgutachter ausdrücklich klar, dass auch er nicht zu dem Ergebnis kommt, am Aufnahmetag habe keine akute Suizidalität bestanden (vgl. Seite 5 des Nachtrags zum Ergänzungsgutachten, Bl. 220 eA zweiter Instanz).
206Soweit der Privatgutachter im Gegensatz zum Sachverständigen keine regelmäßigen Kontrollen des Wirkstoffspiegels bei Einnahme von Olanzapin für erforderlich erachtet, kann dieser Punkt dahinstehen. Der Senat sieht in der unterlassenen Wirkstoffspiegelerhebung im ersten Monat der Behandlung des Klägers kein haftungsbegründendes fehlerhaftes Abweichen vom ärztlichen Standard. Der Senat wertet allein den Umstand, dass eine nicht vorhandene Wirkstoffspiegelerhebung keine Aussagekraft entfalten kann – weder positiv noch negativ.
207Soweit der Privatgutachter nach wie vor die Meinung vertritt, die Befundung der Suizidgefahr sei während der gesamten Behandlungsdauer fachgerecht und ausreichend erfolgt und dies sei auch der Dokumentation zu entnehmen, verbleibt es bei dem Vorgenannten unter Ziff. II. Die neuen Ausführungen des Privatgutachters, der Kläger habe Angaben und Gespräche verweigert, so dass eine genauere Evaluation den behandelnden Ärztinnen und Ärzten nicht möglich gewesen sei, kann der Dokumentation nicht mit der erforderlichen Regelmäßigkeit und Klarheit entnommen werden. Spekulationen verbieten sich jedoch auch insoweit.
208Der nicht nachgelassene Schriftsatz zieht weder die Expertise und maßgeblichen Angaben des Sachverständigen in Zweifel noch enthält er neuen Tatsachenvortrag, so dass bereits aus diesem Grund eine weitere Beweiserhebung ausscheidet.
209V.
210Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs.1 ZPO und § 92 Abs.2 Nr.1 ZPO.
211Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
212Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und auch keine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert.