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Der Senat beabsichtigt, die Berufung der Beklagten gemäß § 522 Abs. 2 S. 1 ZPO durch Beschluss zurückzuweisen.
Es wird Gelegenheit gegeben, binnen drei Wochen ab Zustellung Stellung zu nehmen.
G r ü n d e
2I.
3Der Senat ist einstimmig davon überzeugt, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung auf Grund mündlicher Verhandlung erfordern und eine mündliche Verhandlung auch sonst nicht geboten ist.
4Das Landgericht hat der auf Zahlung von Pflegetagegeld gerichteten Klage zu Recht stattgegeben und die Widerklage ebenfalls mit Recht abgewiesen. Die Berufungsangriffe aus der Berufungsbegründung vom 29.03.2022 (Bl. 39 ff. der elektronischen Gerichtsakte zweiter Instanz, im Folgenden: eGA-II und für die erste Instanz eGA-I) greifen nicht durch.
51.
6Die Klage ist in dem vom Landgericht ausgeurteilten Umfang begründet.
7a)
8Dem Kläger steht ein Anspruch auf Zahlung rückständigen Pflegetagegeldes in Höhe von 37.275,- € nebst Zinsen aus dem zwischen den Parteien bestehenden Versicherungsvertrag zu.
9aa)
10Dieser Vertrag ist wirksam. Die von der Beklagten erklärte Anfechtung ihrer Annahmeerklärung (§ 142 Abs. 1 BGB) greift nicht durch.
11Zwar bleibt gemäß § 22 VVG das Recht des Versicherers, den Vertrag wegen arglistiger Täuschung anzufechten, von den Regelungen in den §§ 19 ff. VVG grundsätzlich unberührt. Der Senat teilt aber die Auffassung des Landgerichts, dass der Kläger bei Vertragsschluss die Beklagte nicht getäuscht hat.
12(1)
13Unstreitig hat der Kläger nicht ausdrücklich etwas Falsches erklärt, sondern die von der Beklagten gestellten Fragen vielmehr zutreffend beantwortet. Es kommt deshalb von Vornherein nur eine Täuschung durch Unterlassen in Frage.
14Ob und unter welchen genauen Voraussetzungen auch eine solche Täuschung durch Unterlassen von § 22 VVG erfasst wird und demgemäß ungeachtet der §§ 19 ff. VVG eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung rechtfertigen kann, ist umstritten. Ausgehend von dem klaren Wortlaut des § 22 VVG und der Entstehungsgeschichte dieser Norm (vgl. dazu BGH, Urteil vom 25.11.2015 – IV ZR 277/14, r+s 2016, 117 Rn. 15) spricht viel dafür, eine Arglistanfechtung auch in diesen Fällen grundsätzlich für möglich zu halten (vgl. Senat, Beschluss vom 10.07.2019 – 20 U 72/19, BeckRS 2019, 35892 unter I.1.b.bb; Senat, Beschluss vom 27.02.2015 – 20 U 26/15, VersR 2015, 1551 = r+s 2017, 68 = juris Rn. 10; OLG Karlsruhe, Urteil vom 20.04.2018 – 12 U 156/16, VersR 2018, 866; OLG Karlsruhe, Urteil vom 03.12.2015 – 12 U 57/15, VersR 2016, 445 juris, Rn. 36; OLG Celle, Urteil vom 09.11.2015 – 8 U 101/15, VersR 2016, 270). Dieser Streit bedarf vorliegend aber keiner Entscheidung. Jedenfalls liegt eine Täuschung des Klägers durch Unterlassen nicht vor.
15Im Rahmen von § 123 Abs. 1 BGB kommt eine solche Täuschung durch Unterlassen nur dann in Betracht, wenn im konkreten Fall eine Aufklärungspflicht bestand, weil der andere Teil nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte redlicherweise eine Aufklärung erwarten durfte (statt vieler BGH, Urteil vom 11.08.2010 – XII ZR 192/08, NJW 2010, 3362, juris Rn. 22). Dabei ist es grundsätzlich Sache jedes Vertragspartners, seine Interessen selbst wahrzunehmen (BGH, a.a.O, juris Rn. 23 ff.). Es besteht daher keine allgemeine Pflicht, jegliche Umstände mitzuteilen, welche für die Entschließung des anderen Teils von Bedeutung sein können.
16Der Senat muss nicht abschließend entscheiden, welche Mitteilung ein Versicherer über die von ihm gemäß § 19 Abs. 1 VVG gestellten Fragen hinaus zur Aufklärung erwarten darf; ohnehin handelt es sich dabei um eine nicht abstrakt zu beantwortende, sondern von den Umständen des Einzelfalls abhängige Frage (vgl. BGH, Beschluss vom 19.05.2011 – IV ZR 254/10, r+s 2011, 421, juris Rn. 3 f.). Jedenfalls ist zu berücksichtigen, dass Fälle wie der vorliegende dadurch gekennzeichnet sind, dass ein Versicherungsnehmer einem Versicherer gegenübertritt, der geschäftserfahren ist und gerade für die Vertragsanbahnung einen Fragebogen entwickeln konnte und entwickelt hat, mit dem er zum Ausdruck bringt, welche Umstände für ihn im Hinblick auf den Vertragsschluss relevant sind. Daraus folgt, dass die Anfechtung in derartigen Konstellationen auf außergewöhnliche Fallgestaltungen beschränkt sein muss, etwa wenn sich eine Mitteilungspflicht aus besonderen Gründen dem Versicherungsnehmer aufdrängt (so auch S. 4 oben der Berufungsbegründung m.w.N.).
17Daran fehlt es vorliegend trotz des Umstandes, dass bei dem noch ungeborenen Kind des Klägers eine Herzerkrankung bereits diagnostiziert worden war.
18Dafür spricht bereits, dass es sich bei einer bereits vorgeburtlich im Mutterleib bestehenden Erkrankung keineswegs um einen Umstand handelt, der so ungewöhnlich wäre, dass ein Versicherer danach nicht fragen könnte. Derartiges kommt – glücklicherweise – nicht gerade besonders häufig vor, ist aber leider auch kein ganz ungewöhnlicher Einzelfall. Wenn ein durchschnittlicher Versicherungsinteressent, der werdender Vater ist, bei Abschluss einer Pflegetagegeldversicherung für sich ein Antragsformular des geschäftserfahrenen Versicherers bekommt, in dem eine Frage nach solchen vorgeburtlichen Erkrankungen nicht gestellt ist, muss er deshalb nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass der Versicherer solche Umstände dennoch erfahren möchte.
19Das gilt insbesondere auch vor dem Hintergrund der Wertung des § 198 VVG, der auch für die Pflegetagegeldversicherung gilt (BGH, Urteil vom 27.09.2000 – IV ZR 115/99, VersR 2000, 1533 zu § 178d VVG a.F.) und dessen Regelungsgehalt die Beklagte in § 3 Abs. 2 der dem Vertrag zugrunde liegenden AVB übernommen hat. Dabei handelt es sich um eine Regelung aus sozialpolitischen Gründen, bei welcher der Wille des Gesetzgebers ausdrücklich dahin ging, einen Leistungsausschluss auch wegen bereits eingetretener Versicherungsfälle zu verhindern und lediglich einen Risikozuschlag bis zur einfachen Prämienhöhe zu erlauben (BGH a.a.O.; vgl. auch BR-Drucks. 23/94 S. 313; BT-Drucks. 12/6959 S. 105). Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer, der dies und insbesondere § 3 Abs. 2 der AVB sieht, nimmt zur Kenntnis, dass ein Versicherer bei solchen Kindern, bei denen die Schwangerschaft kurz nach der Antragstellung beginnt, ohnehin ohne Rücksicht auf angeborene oder ererbte Krankheiten Versicherungsschutz zu gewähren hat. Vor diesem Hintergrund drängt sich dem Versicherungsnehmer gerade nicht eine Pflicht zur ungefragten Offenbarung auf, wenn ein Versicherer nach im Zeitpunkt der Antragstellung bereits bekannten Krankheiten bei ungeborenen Kindern nicht fragt.
20Ob nach dieser gesetzlichen Regelung eine Frage, wie sie die Beklagte in ihrem geänderten Antragsformular nunmehr unstreitig stellt, vom Versicherer überhaupt zulässigerweise, also mit der Rechtsfolge einer Anfechtbarkeit, gestellt werden darf, bedarf hier keiner Entscheidung. Jedenfalls traf den Kläger ohne eine solche Frage keine Aufklärungspflicht hinsichtlich eines derartigen Umstandes.
21(2)
22Auf alles Weitere kommt es daher nicht an. Insbesondere kann dahinstehen, ob eine etwaige Aufklärungspflicht sogar erfüllt wurde, weil – wofür die erstinstanzliche Beweisaufnahme allerdings spricht – die Herzerkrankung gegenüber einer Mitarbeiterin der Beklagten offenbart wurde. Ebenso wenig kommt es darauf an, ob – was wiederum nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme zweifelhaft ist – die Beklagte den Nachweis eines arglistigen Verhaltens des Klägers führen könnte.
23bb)
24Die Geltendmachung des vertraglichen Anspruchs durch den Kläger verstößt entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht gegen § 242 BGB.
25Der Umstand, dass der Kläger den Vertrag abschloss in Kenntnis der vorgeburtlichen Erkrankung seines Kindes, ist nach dem Gesagten die rechtlich zulässige Wahrnehmung eigener vertraglicher Interessen.
26Jedenfalls gilt dies angesichts der Tatsache, dass – wie das Landgericht unter I 1 b der Entscheidungsgründe zutreffend ausgeführt hat – der Eintritt der Versicherungsfall nicht etwa sicher war. Freilich bestand ein sehr stark erhöhtes Risiko; es war aber nicht etwa so, dass der Kläger gewusst hätte, dass er zum Preis der Prämie für seine Versicherung und dann der Prämie für eine Erweiterung auf sein Kind sicher ganz erhebliche Leistungen erlangen würde. Ob ein derartiger Fall anders zu beurteilen wäre, bedarf hier keiner Entscheidung.
27cc)
28Hinsichtlich der Höhe des Pflegetagegeldes für den Zeitraum vom 01.02.2020 bis zum 31.08.2020 (213 Tage á 175,- €) erhebt die Beklagte – zu Recht – keine Einwendungen.
29b)
30Aus dem Vorstehenden ergibt sich zugleich, dass das Landgericht auch den auf die Verurteilung zur weiteren Zahlung des Pflegetagegeldes ab dem 01.09.2020 sowie die Feststellung des Fortbestandes des Versicherungsvertrages gerichteten Klageanträgen zu Recht stattgegeben hat. Schließlich begegnet auch die Verurteilung zur Zahlung der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten keinen Bedenken und wird mit der Berufung im Übrigen auch nicht angegriffen.
312.
32Ebenfalls keiner weiteren Ausführungen bedarf es, dass die Widerklage nach dem bislang Gesagten zu Recht abgewiesen worden ist. Die bislang von der Beklagten erbrachten Zahlungen wurden mit Rechtsgrund geleistet.
33II.
34Auf die Gebührenermäßigung für den Fall der Berufungsrücknahme (KV Nr. 1222 GKG) wird hingewiesen.
35Auf den Hinweisbeschluss vom 27.04.2022 erging der Beschluss vom 29.07.2022.