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Auch wenn eine Verurteilte aufgrund ihres Gesundheitszustands zu einer sog. „Risikogruppe“ gehört, für deren Angehörige eine erhöhte Gefahr besteht, sich mit dem SARS-CoV-2-Virus anzustecken, oder die im Falle einer Ansteckung und Erkrankung mit schwerwiegenderen gesundheitlichen Folgen rechnen müssen, bleibt für die Frage eines Haftausstands entscheidend, ob das Infektionsrisiko der Verurteilen durch den Vollzug der Strafhaft erhöht ist, mithin eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die Verurteilte aufgrund des weiteren Vollzugs der Strafhaft irreversible und schwerwiegende Schäden an ihrer Gesundheit erleidet oder mit dem Tode rechnen muss.
Der Beschluss des Landgerichts Bielefeld vom 13. Mai 2020 wird aufgehoben. Die Einwendungen der Verurteilten gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Detmold vom 7. April 2020 werden zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen der Verurteilten werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe:
2I.
3Aus Anlass der Corona-Pandemie hat die Verurteilte mit Schreiben vom 25. März 2020 eine Haftunterbrechung beantragt, da sie aufgrund ihrer Vorerkrankungen zur Risikogruppe für einen möglichen schweren Verlauf bei der Erkrankung zähle. Mit Bescheid vom 7. April 2020 hat die Staatsanwaltschaft Detmold diesen Antrag zurückgewiesen. Mit Schreiben ihres Verteidigers vom 16. April 2020 hat die Verurteilte „Beschwerde“ gegen diesen Bescheid eingelegt. Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bielefeld hat mit Beschluss vom 13. Mai 2020 den Bescheid vom 7. April 2020 aufgehoben und die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe bis zum 30. August 2020 unterbrochen. Gegen diesen Beschluss hat die Staatsanwaltschaft Detmold rechtzeitig am 19. Mai 2020 sofortige Beschwerde eingelegt und diese unter dem 28. Mai 2020 ergänzend begründet. Die Generalstaatsanwaltschaft ist dem Rechtsmittel beigetreten. Sie beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Einwände der Verurteilten gegen den Bescheid vom 7. April 2020 zurückzuweisen.
4II.
5Die sofortige Beschwerde ist zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg. Die Voraussetzungen für eine Vollstreckungsunterbrechung gem. § 455 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 oder 3 StPO sind nicht erfüllt.
6Gem. § 455 Abs. 4 Nr. 2 kann die Vollstreckung unterbrochen werden, wenn wegen einer Krankheit „von der Vollstreckung“ eine nahe Lebensgefahr zu besorgen ist. Die Vollstreckung der Strafe muss ursächlich für die Lebensgefahr sein. Deshalb scheidet Vollzugsuntauglichkeit aus, wenn die aus der Krankheit sich ergebenden Gefahren durch den Vollzug nicht erhöht werden, sondern außerhalb des Vollzuges in gleicher Weise bestehen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. Oktober 1990 – 1 Ws 866/90 –, Rn. 2, juris). So verhält es sich im vorliegenden Fall. Der Senat stellt nicht in Abrede, dass die Verurteilte aufgrund ihres Gesundheitszustands zu einer sog. „Risikogruppe“ gehört, für deren Angehörige eine erhöhte Gefahr besteht, sich mit dem SARS-CoV-2-Virus anzustecken, oder die im Falle einer Ansteckung und Erkrankung mit schwerwiegenderen gesundheitlichen Folgen rechnen müssen. Entscheidend ist indes, dass das Infektionsrisiko der Verurteilen durch den Vollzug der Strafhaft nicht erhöht ist. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Verurteilte aufgrund des weiteren Vollzugs der Strafhaft irreversible und schwerwiegende Schäden an ihrer Gesundheit erleidet oder mit dem Tode rechnen muss, besteht nicht (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Mai 2020, III-3 Ws 157/20).
7Die aktuelle Sachlage, wie sie sich nach öffentlich zugänglichen Quellen darstellt, ergibt keine Anhaltspunkte dafür, dass Gefangene in nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalten einem gegenüber der Durchschnittsbevölkerung in Deutschland erhöhtem Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Bis zum 15. Juli 2020 sind in Deutschland 24 von 10.000 Einwohnern und in Nordrhein-Westfalen 25,2 von 10.000 Einwohnern positiv auf das COVID-19-Virus getestet worden (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-07-15-de.pdf?__blob=publicationFile; aufgerufen am 16. Juli 2020). In den nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalten wurden bis zum 3. Juli 2020 elf Gefangene positiv auf COVID-19 getestet (https://www.justiz.nrw.de/JM/ministerium/corona/justizvollzug/index.php; aufgerufen am 16. Juli 2020). Selbst wenn von den knapp 20.000 Haftplätzen in Nordrhein-Westfalen lediglich die Hälfte belegt wäre, wäre demnach die Quote der außerhalb des Justizvollzugs positiv Getesteten mehr als doppelt so hoch als unter den Gefangenen in den nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalten. Dabei ist auch nicht zu besorgen, dass die Dunkelziffer der unerkannten SARS-CoV-2-Infektionen im Justizvollzug signifikant höher ist als in der Allgemeinbevölkerung. Denn die Justizvollzuganstalten orientieren sich beim Umgang mit der Epidemie an den Vorgaben des Robert-Koch-Instituts (a. a. O.).
8Dies spricht dafür, dass die vom Ministerium der Justiz Nordrhein-Westfalen getroffenen Anordnungen und die in den einzelnen Justizvollzugsanstalten ergriffenen Maßnahmen jedenfalls in der gegenwärtigen Situation und nach heutigem Kenntnisstand ausreichen, um die Verurteilte ebenso wie alle anderen Gefangenen in Nordrhein-Westfalen innerhalb des Strafvollzugs keinem erhöhten Risiko einer Ansteckung mit dem SARS-CoV-2-Virus auszusetzen. Dazu gehören unter anderem weitreichende Besuchs- und Kontaktbeschränkungen sowie die vorsorgliche Isolation von Verdachtsfällen.
9Die Auffassung der Leiterin der JVA Bielefeld-Senne in ihrem Übersendungsschreiben vom 27. März 2020, bei Inhaftierung sei die Einhaltung von Vorsichtsmaßnahmen – namentlich Abstand zu halten, unnötige Kontakte zu vermeiden und sich im Zweifelsfall in freiwillige Quarantäne zu begeben – nicht möglich, teilt der Senat nicht. Die Beachtung dieser Vorsichtsmaßnahmen obliegt – wie auch außerhalb des Strafvollzugs – in erster Linie der Verurteilten selbst. Sofern die Verurteilte und die Leiterin der JVA zur Umsetzung einer freiwilligen Quarantäne die Zuweisung eines Einzelhaftraums für erforderlich halten, sieht der Senat nicht, was dem entgegensteht. Wenn die Verurteilte zum Schutz ihrer Gesundheit weitergehende Entscheidungen oder Maßnahmen durch die Leiterin der JVA für erforderlich hält, ist es ihr unbenommen, solche zu beantragen und im Falle der Versagung die Ablehnung gem. § 119a Abs. StPO gerichtlich überprüfen zu lassen (Senat, a. a. O.).
10Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die der Verurteilten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen sind entsprechend §§ 473 Abs. 1 Satz 1 und 473 Absatz 2 Satz 1 StPO in entsprechender Anwendung der Staatskasse aufzuerlegen. Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat zwar den erstrebten Erfolg. Ersichtlich wollte die Staatsanwaltschaft jedoch mit ihrem Rechtsmittel lediglich ihre Aufgabe wahrnehmen, eine Gerichtsentscheidung ohne Rücksicht darauf, welche Wirkung damit für die Verurteilte erzielt wird, mit dem Gesetz in Einklang zu bringen, und zwar den gesetzmäßigen Zustand, nämlich die Fortsetzung der Vollstreckung sicherzustellen. Nur insoweit hat sie auch ihr Ziel erreicht. Für einen solchen Fall enthalten die Kostenvorschriften der Strafprozessordnung keine Regelung. Die sofortige Beschwerde als erfolgreich im kostenrechtlichen Sinne anzusehen und der Verurteilten die Kosten des Rechtsmittels aufzuerlegen, würde der sachlichen Gerechtigkeit widersprechen. Die Verurteilte konnte auf eine zuverlässige Prüfung und auf eine gesetzmäßige Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vertrauen. Sie darf deshalb nicht mit den Kosten belastet werden, die dadurch entstanden sind, dass eine auf einem Fehler der Strafvollstreckungskammer beruhende gesetzwidrige Entscheidung beseitigt wird. In einem solchen Fall ist die Vorschrift des § 473 Absatz 1 Satz 1 i.V. mit § 473 Absatz 2 Satz 1 StPO zugunsten der Verurteilten entsprechend anzuwenden und das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft als erfolglos zu behandeln (OLG Düsseldorf, NStZ-RR 1998, 159, beck-online ; Maier, in: Münchener Kommentar zur StPO, 1. Auflage 2019, § 473, Rn. 56; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Auflage 2020, § 473, Rn. 17).