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1. Der Beweis für die Tatsachen, aus welchen sich ein Anspruch auf Aufwendungsersatz wegen Abwendung eines Wildunfalls ergibt (§ 90 VVG), kann auch dann geführt sein (so hier – Anspruch bejaht), wenn ein Zeuge falsche Schätzangaben zu Entfernung und Geschwindigkeit macht.
2. Auch bei einer Reflexhandlung des Fahrers kann ein solcher Anspruch bestehen.
3. (Jedenfalls) Grobe Fahrlässigkeit verneint bei einem Ausweichmanöver einer schwangeren Fahrerin nach Erkennen eines über die Fahrbahn laufenden Rehs.
Der Senat beabsichtigt, die Berufung der Beklagten gemäß § 522 Abs. 2 S. 1 ZPO zurückzuweisen.
Es wird Gelegenheit gegeben, binnen drei Wochen ab Zustellung dieses Beschlusses Stellung zu nehmen.
G r ü n d e
2I.
3Der Senat ist einstimmig davon überzeugt, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung auf Grund mündlicher Verhandlung erfordern und eine mündliche Verhandlung auch sonst nicht geboten ist.
4Das Landgericht hat der auf Aufwendungsersatz nach einer unfallbedingten Beschädigung eines teilkasko-versicherten Fahrzeugs und auf Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten gerichteten Klage zu Recht stattgegeben. Die Berufungsangriffe der Beklagten aus der Berufungsbegründung vom 05.10.2020 (Bl. 40 ff. der elektronischen Gerichtsakte zweiter Instanz, im Folgenden: eGA-II und für die erste Instanz eGA-I) greifen nicht durch.
51.
6Der in der Hauptsache geltend gemachte Anspruch des Klägers auf Zahlung von 10.319,51 € ergibt sich aus § 90 VVG in Verbindung mit § 83 Abs. 1 VVG.
7a)
8Die Beweislast dafür, dass der Eintritt eines Versicherungsfalls – nämlich eine Beschädigung des versicherten Fahrzeugs durch eine Kollision mit einem auf die Straße laufenden Reh – im Sinne von § 90 VVG unmittelbar bevorstand, trägt der Kläger. Beweiserleichterungen kommen ihm nicht zugute (vgl. OLG Rostock, Urteil vom 27.05.2016 – 5 U 45/14, Schaden-Praxis 2016, 312).
9Der Senat hat keine Zweifel im Sinne von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an der Feststellung des Landgerichts, der Kläger habe diesen Beweis geführt. Davon ist vielmehr auch der Senat überzeugt.
10aa)
11Die Zeugin L hat bei ihrer Vernehmung durch das Landgericht den Unfallhergang, aber auch das Randgeschehen davor und danach detailliert und lebensnah geschildert. Der Senat ist ebenso wie das Landgericht sicher, dass die Zeugin über ein tatsächlich in dieser Form erlebtes Geschehen berichtet hat.
12Der in der Berufungsbegründung angesprochene Umstand, dass die Zeugin als Lebensgefährtin des Klägers ein eigenes Interesse am Ausgang des Rechtsstreits hat, macht sie für sich genommen nicht unglaubwürdig.
13Auch daraus, dass der Kläger dem zuständigen Jagdpächter eine vorformulierte Erklärung zur Unterschrift vorgelegt haben mag, lässt sich nichts gegen die Glaubwürdigkeit der Zeugin oder gegen die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage herleiten.
14Schließlich spricht das Vorbringen in der der Berufungsbegründung, die Zeugin habe bei einem Abstand von 2 Metern zu dem auf die Fahrbahn laufenden Reh und einer Geschwindigkeit von etwa 30 km/h gar nicht die Zeit gehabt, um mit dem von ihr bei der landgerichtlichen Vernehmung beschriebenen „Verreißen“ des Lenkrads zu reagieren, nicht gegen die Glaubhaftigkeit der Aussage der Zeugin. Es liegt auf der Hand, dass es sich bei diesen Angaben um grobe Schätzungen handelt. Das gilt nicht nur, weil ganz allgemein Angaben von Zeugen zu Entfernungen und Geschwindigkeiten häufig fehlerbehaftet sind. Vielmehr kommt im hier zu beurteilenden Fall hinzu, dass sich das Geschehen für die Zeugin in Sekundenbruchteilen ereignete, diese also hinsichtlich der Entfernung des Rehs nur ganz flüchtige Wahrnehmungen machen konnte. Daraus, dass die Entfernung nach der Erinnerung der Zeugin nur zwei Meter betrug, kann deshalb nicht abgeleitet wäre, dass ihre Schilderung eines intuitiven, reflexartigen Ausweichmanövers nicht der Wahrheit entspricht.
15bb)
16Entgegen dem Vorbringen in der Berufungsbegründung war das Landgericht nicht gehalten, die von der Beklagten benannte Zeugin O zu der Behauptung zu vernehmen, die Zeugin L habe vorprozessual geschildert, nach dem Erkennen des Rehs „die Hände vor das Gesicht geschlagen“ zu haben, wobei von einem Ausweichmanöver „keine Rede“ gewesen sei.
17Ein reflexartiges schreckbedingtes Verreißen des Steuers einerseits und ein anschließendes Heben der Hände vor das Gesicht, wenn womöglich eine Kollision als vermeintlich unausweichlich empfunden wird, schließen sich nicht aus. Dass die Zeugin vorprozessual erklärt hätte, gerade nicht ausgewichen zu sein, sondern stur geradeaus gefahren zu sein und nur in der Weise reagiert zu haben, dass sie die Hände vor das Gesicht schlug, behauptet die Beklagte nicht.
18Wenn das von der Zeugin beschriebene Verreißen des Steuers in diesem Sinne „reflexartig“ erfolgt sein mag, schließt dies im Übrigen eine Anwendung von § 90 VVG nicht aus. Dieser erfordert nur ein Verhalten, das nach den Umständen objektiv geeignet ist, das versicherte Risiko (hier den Zusammenstoß mit dem Reh) nicht eintreten zu lassen, ohne dass dies subjektiv bezweckt gewesen sein muss (BGH, Urteil vom 18.12.1996 – IV ZR 321/95, VersR 1997, 351, juris Rn. 12).
19b)
20Damit hat die Beklagte gemäß § 90 VVG in Verbindung mit § 83 Abs. 1 S. 1 VVG die durch das Ausweichmanöver entstandenen Aufwendungen insoweit zu ersetzen, als die Zeugin L diese nach den Umständen für geboten halten durfte.
21aa)
22Der Umstand, dass das Ausweichmanöver nicht vom Kläger selbst, sondern von seiner Lebensgefährtin vorgenommen wurde, spielt für die Ersatzpflicht keine Rolle. Zu ersetzen sind auch Folgen von Fahrmanövern eines Dritten, und zwar auch dann, wenn er – wie hier – nicht Repräsentant des Versicherungsnehmers ist (vgl. BGH, Urteil vom 25.06.2003 – IV ZR 276/02, VersR 2003, 1250).
23bb)
24Zu Unrecht macht die Beklagte in der Berufungsbegründung geltend, die Zeugin L habe die Aufwendungen nach den Umständen nicht im Sinne von § 83 Abs. 1 S. 1 VVG für geboten halten dürfen.
25Geboten sind solche Maßnahmen, die der Versicherungsnehmer oder der Dritte aus einer ex-ante-Perspektive ohne grobe Fahrlässigkeit als zweckdienlich ansehen durfte, um den Eintritt des Versicherungsfalls zu vermeiden (vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 17.12.2015 – 12 U 101/15, VersR 2016, 458; OLG Saarbrücken, Urteil vom 26.01.2011 – 5 U 356/10, VersR 2012, 55). Wenn wie hier ein Dritter eine Rettungshandlung auf Kosten des Versicherungsnehmers vorgenommen hat, ist bei der Beurteilung der Gebotenheit auf diesen Dritten abzustellen (BGH, Urteil vom 25.06.2003 – IV ZR 276/02, VersR 2003, 1250).
26Die Zeugin L durfte ohne grobe Fahrlässigkeit ein Ausweichmanöver als zweckdienlich ansehen, um eine Kollision mit dem Reh zu vermeiden.
27Angesichts der Masse eines PKW und der erheblichen Risiken bei einem Abkommen von der Straße kann sich ein Ausweichmanöver bei einem drohenden Zusammenstoß zwar dann als grob fahrlässig darstellen, wenn es sich um ein Kleintier handelt (BGH, Urteil vom 18.12.1996 – IV ZR 321/95, VersR 1997, 351, juris Rn. 12). Etwas anderes gilt jedoch bei einem größeren Wildtier (vgl. z.B. OLG Saarbrücken, Urteil vom 26.01.2011 – 5 U 356/10, VersR 2012, 55). Auch bei vergleichsweise niedrigen Geschwindigkeiten drohen dann schwerwiegende Schäden am Fahrzeug, ganz abgesehen von den möglichen Verletzungen des Fahrers. Es kommt hinzu, dass das Verschulden bei einem Fehlverhalten in einer plötzlichen, überraschenden und erschreckenden Situation weniger schwer wiegen kann (Prölss/Martin-Klimke, VVG, 30. Aufl. 2018, A.2.2.1 AKB 2015 Rn. 72). Selbst wenn man also annähme, dass die Zeugin bei dem Ausweichversuch die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht ließ, würde das doch keinesfalls den Grad einer groben Fahrlässigkeit erreichen. Die Annahme einer solchen groben Fahrlässigkeit ist zwar auch ein bei einem Augenblicksversagen nicht schlechthin ausgeschlossen (vgl. BGH, Urteil vom 11.07.2007 – XII ZR 197/05, VersR 2007, 1531, juris Rn. 19). Im vorliegenden Fall ist aber insbesondere zu berücksichtigen, dass wegen der Schwangerschaft der Zeugin bei einem Frontalzusammenprall mit einem Reh durch die angelegten Sicherheitsgurte womöglich Schäden an dem ungeborenen Kind zu befürchten waren. Davon, dass die Zeugin bei ihrem Ausweichmanöver, über das sie innerhalb kürzester Zeit zu entscheiden hatte, das außer Acht ließ, was jedem unmittelbar einleuchtet, und sie dabei auch in subjektiver Hinsicht ein besonders schweres Verschulden traf, kann angesichts dessen keine Rede sein.
28cc)
29Einwendungen zur Höhe der Aufwendungen, deren Bezifferung auf das von der Beklagten beauftragte Gutachten zurückgeht, sind nicht geltend gemacht.
30c)
31Entgegen dem Vorbringen in der Berufungsbegründung war das Landgericht schließlich nicht gehalten, die Zeugen M und C zu der Behauptung zu vernehmen, der Kläger habe in einem persönlichen Gespräch mit diesen Zeugen erklärt, er werde aus dem hier in Rede stehenden Schadensereignis keine Ansprüche mehr herleiten.
32Einen einseitigen Verzicht auf schuldrechtliche Ansprüche sieht das Gesetz nicht vor. Aber selbst wenn, wozu die Beklagte nichts vorgetragen hat, die Zeugen die nötige Vertretungsmacht hatten, um einen Erlassvertrag mit dem Kläger abzuschließen, und selbst wenn sie, wozu ebenfalls nichts vorgetragen ist, eine entsprechende Annahmeerklärung (konkludent) abgegeben haben sollten, wäre kein wirksamer Erlassvertrag zustande gekommen. An die Feststellung eines Willens des Schuldners, dem Gläubiger eine Forderung zu erlassen, sind strenge Anforderungen zu stellen (BGH, Urteil vom 22.06.1995 – VII ZR 118/94, NJW-RR 1996, 237). Der bloßen Äußerung des Versicherungsnehmers, er werde aus einem bestimmten Schadensereignis keine Ansprüche mehr geltend machen, kann ohne Hinzutreten besonderer weiterer Umstände aus Sicht eines objektiven Empfängers nicht entnommen werden, dass der Versicherungsnehmer damit tatsächlich mit Rechtsbindungswillen dem Versicherer sämtliche ihm möglicherweise aus einem Versicherungsfall zustehenden Ansprüche erlassen will.
33Das Vorstehende gilt erst recht angesichts des von der Beklagten behaupteten Telefongesprächs vom 25.07.2019. Wenn der Kläger dort erklärt haben sollte, er werde schriftlich auf die Ansprüche verzichten, kann das schon deshalb nicht als (mündliches) Angebot auf den Abschluss eines Erlassvertrages angesehen werden, weil es gerade erst die Ankündigung eines solchen späteren (schriftlichen) Angebots ist. Dass der Kläger sodann entsprechend der Ankündigung tatsächlich schriftlich das Angebot auf den Abschluss eines Erlassvertrages unterbreitet hätte und dieses von der Beklagten angenommen worden wäre, ist von der Beklagten selbst nicht behauptet worden.
342.
35Zu Recht hat das Landgericht die Beklagte unter dem Gesichtspunkt des Verzugs auch zur Zahlung der vorgerichtlich entstandenen Rechtsanwaltskosten verurteilt. Einwendungen dagegen werden seitens der Beklagten auch nicht mehr erhoben.
36II.
37Auf die Gebührenermäßigung für den Fall der Berufungsrücknahme (KV Nr. 1222 GKG) wird hingewiesen.
38Auf diesen Hinweisbeschluss wurde die Berufung zurückgenommen.