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Ein in einem Wohngebiet 2,2 cm herausragender Kanaldeckel muss in einem Bereich, der von Fußgängern und Fahrzeugen gleichermaßen benutzt wird, keine abhilfebedürftige Gefahrenstelle sein. Ein Fußgänger muss in einem solchen Bereich damit rechnen, dass es durch die mechanischen Belastungen des Fahrzeugverkehrs zu Unebenheiten und einer Kantenbildung am Kanaldeckel kommen kann. Hebt sich der Kanaldeckel deutlich von der Pflasterung ab und kann er trotz der vorhandenen Kante mühelos be- oder umgangen werden, kann der Verkehrssicherungspflichtige davon ausgehen, dass ein hinreichend aufmerksamer Fußgänger derartige Unebenheiten rechtzeitig erkennt und sich darauf einstellt.
In dem Rechtsstreit weist der Senat nach Beratung darauf hin, dass er beabsichtigt, die Berufung durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückzuweisen.
Der Klägerin wird Gelegenheit gegeben, binnen zwei Wochen nach Zugang dieses Beschlusses zu dem Hinweis Stellung zu nehmen oder die Berufung aus Kostengründen zurückzunehmen.
Gründe:
2Die Berufung ist zulässig, hat aber nach einstimmiger Überzeugung des Senats offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung, noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Senats. Auch eine mündliche Verhandlung, von der neue entscheidungserhebliche Erkenntnisse nicht zu erwarten sind, ist nicht geboten, § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO.
3Im Ergebnis hat das Landgericht die Klage zu Recht abgewiesen.
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5Allerdings liegt die Begründung des Landgerichts, die Klägerin träfe ein anspruchsausschließendes Mitverschulden, ersichtlich neben der Sache. Das Landgericht verkennt, dass die Haftung aus einer Verletzung der Verkehrssicherungspflicht nicht schon dann vollständig entfällt, wenn der Geschädigte bei Einhaltung der gebotenen Sorgfalt eine pflichtwidrig bestehende Gefahrenstelle hätte erkennen und umgehen können. Die haftungsrechtliche Gesamtverantwortung für das Unfallereignis würde damit allein auf den Geschädigten verlagert, obwohl der Verkehrssicherungspflichtige eine maßgebliche Ursache für das Schadensereignis gesetzt hat. Dieses Ergebnis widerspräche dem Schutzzweck der verletzten Verkehrssicherungspflicht, die auch solche Verkehrsteilnehmer vor Schäden bewahren soll, die nicht stets ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit und Vorsicht walten lassen. Ein die Haftung des Verkehrssicherungspflichtigen ausschließender, weit überwiegender Verursachungsbeitrag des Geschädigten kann daher nur angenommen werden, wenn das Handeln des Geschädigten von einer ganz besonderen, schlechthin unverständlichen Sorglosigkeit gekennzeichnet ist (vgl. BGH, Urteil vom 20.06.2013 zu III ZR 326/12, VersR 2013, S. 1322).
6Zu einem Sorgfaltsverstoß von diesem Gewicht fehlen jegliche Feststellungen des Landgerichts. Umstände, die einen derartigen Vorwurf begründen könnten, sind weder vorgetragen worden, noch sonst ersichtlich.
72.
8Die Entscheidung des Landgerichts erweist sich jedoch aus anderen Gründen als in der Sache zutreffend.
9Der Klägerin steht kein Anspruch aufgrund ihres Unfalls vom 09.11.2018 gegen 21.00 Uhr im Bereich der Kreuzung C-Straße/Tstraße im Gebiet der beklagten Stadt kein Schadensersatzanspruch gegen diese gemäß § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG, §§ 9, 9a, 47 StrWG NW zu. Nach dem eigenen Vortrag der Klägerin fehlt es bereits an einer Amtspflichtverletzung in Form einer Verletzung der Verkehrssicherungspflicht für die öffentlichen Straßen und Wege. Der Kanaldeckel, an dem die Klägerin zu Fall kam, stellt keine abhilfebedürftige Gefahrenstelle dar.
10Grundsätzlich haben die für die Sicherheit der in ihren Verantwortungsbereich fallenden Verkehrsflächen zuständigen Gebietskörperschaften im Rahmen des ihnen Zumutbaren nach Kräften darauf hinzuwirken, dass die Verkehrsteilnehmer in diesen Bereichen nicht zu Schaden kommen. Allerdings muss der Sicherungspflichtige nicht für alle denkbaren, auch entfernten Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge treffen, da eine Sicherung, die jeden Unfall ausschließt, praktisch nicht erreichbar ist. Vielmehr bestimmt sich der Umfang der Verkehrssicherungspflicht danach, für welche Art von Verkehr eine Verkehrsfläche nach ihrem Befund unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse und der allgemeinen Verkehrsauffassung gewidmet ist und was ein vernünftiger Benutzer an Sicherheit erwarten darf. Dabei haben Verkehrsteilnehmer bzw. die Straßen- und Wegebenutzer die gegebenen Verhältnisse grundsätzlich so hinzunehmen und sich ihnen anzupassen, wie sie sich ihnen erkennbar darbieten, und mit typischen Gefahrenquellen, wie etwa Unebenheiten, zu rechnen. Ein Tätigwerden des Verkehrssicherungspflichtigen ist erst dann geboten, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die nahe liegende Möglichkeit einer Rechtsgutsverletzung anderer ergibt (OLG Hamm, Urteil vom 13.01.2006, 9 U 143/05, zitiert nach juris Tz. 9 mit Verweis auf: OLG Hamm, Urteil vom 19.07.1996, 9 U 108/96, NZV 1997, S. 43; OLG Hamm, NJW-RR 2005, S. 255, 256). Dies ist regelmäßig der Fall, wenn Gefahren bestehen, die auch für einen sorgfältigen Benutzer bei Beachtung der zu erwartenden Eigensorgfalt nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzurichten vermag (vgl. dazu grundlegend: BGH, VersR 1979, 1055; BGH, NJW 1985, 1076; OLG Hamm, Urteil vom 03.02.2009, 9 U 101/07, NJW-RR 2010, S. 33; OLG Hamm, NJW-RR 2005, S. 255, 256; OLG Hamm, Urteil vom 09.11.2001, 9 U 252/98, NZV 2002, S. 129, 130; Zimmerling, in: jurisPK-BGB Band 2, 9. Aufl. 2020, Stand: 01.02.2020, § 839 Rn. 511 ff.; im Anschluss: OLG Celle, Urteil vom 07.03.2001, 9 U 218/00, zitiert nach juris Rn. 5), wobei der Verkehrssicherungspflichtige allerdings auch ein naheliegendes Fehlverhalten der Verkehrsteilnehmer berücksichtigen muss. Die Grenze zwischen abhilfebedürftigen Gefahren und von den Benutzern hinzunehmenden Erschwernissen wird dabei maßgeblich durch die sich im Rahmen des Vernünftigen haltenden Sicherheitserwartungen des Verkehrs bestimmt, wobei dem äußeren Erscheinungsbild der Verkehrsfläche und ihrer Verkehrsbedeutung maßgebliche Bedeutung beikommt (OLG Hamm, NJW-RR 2006, 1100; OLG Hamm, NJW-RR 2005, 255, 256).
11In einer verkehrsberuhigten Straße ohne Gehweg muss von einem Verkehrssicherungspflichtigen berücksichtigt werden, dass die Straße nicht nur von Fahrzeugen, sondern auch von Fußgängern benutzt wird, weshalb zu Gunsten der Klägerin davon ausgegangen werden kann, dass die Straße in ihrer gesamten Breite den Anforderungen, die an einen Gehweg zu stellen sind, genügen muss.
12Nach gefestigter Rechtsprechung, welcher der Senat folgt und von der abzuweichen im vorliegenden Fall kein Anlass besteht, werden scharfkantig gegeneinander abgesetzte Niveauunterschiede auf asphaltierten, plattierten oder gepflasterten Gehwegen bis zu 2 cm für Fußgänger grundsätzlich als beherrschbar angesehen. Erst darüber hinaus beginnt ein Bereich, in dem Unebenheiten für Fußgänger nicht mehr in jedem Fall hingenommen werden müssen, so dass eine Pflicht zur Gefahrbeseitigung des Verkehrssicherungspflichtigen in Betracht kommt, da bei derartigen Höhenunterschieden die Gefahr von Stürzen für Fußgänger zu besorgen ist (vgl. dazu: OLG Schleswig, MDR 2003, 29, 30; OLG Hamm, NJW-RR 2005, S. 255, 256 mit Verweis auf: OLG Hamm, Urteil vom 18.07.1986, 9 U 328/85, NJW-RR 1987, S. 412; OLG München, Beschluss vom 02.02.2012, 1 U 4533/11, zitiert nach juris Tz. 4; Wellner, in: Geigel, Der Haftpflichtprozess, 28. Aufl. 2020, 14. Kap. Rn. 50; Zimmerling, in: jurisPK-BGB Band 2, 9. Aufl. 2020, Stand: 01.02.2020, § 839 Rn. 439).
13Dabei stellt der genannte Höhenunterschied von 2 cm keine starre Grenze dar, die schematisch heranzuziehen ist, sondern es ist auf die jeweilige vernünftige Erwartungshaltung der Verkehrsteilnehmer in der konkreten Örtlichkeit unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls abzustellen, wobei dem Gesamteindruck, den die Verkehrsfläche dem Benutzer bietet und aus dem dieser seine Erwartungshaltung vernünftigerweise zu einem wesentlichen Teil herleitet, sowie der Verkehrsbedeutung wesentliche Bedeutung zukommt (OLG Hamm, NJW-RR 2005, S. 255, 256). Von gleichem Gewicht ist das Maß der Ablenkung der Fußgänger, also die Frage, ob der Fußgänger seine Aufmerksamkeit nahezu uneingeschränkt der Gehwegfläche widmen kann oder ob diese durch äußere Umstände abgelenkt wird (OLG Hamm, NJW-RR 2005, S. 255, 256; OLG Celle, Urteil vom 07.03.2001, 9 U 218/00, zitiert nach juris Rn. 6). Daher bewirkt ein Höhenversatz von bis zu 2,5 cm, mitunter auch bis 3 cm in normalen Fußgängerbereichen ohne Ablenkungsmöglichkeit im Regelfall keinen Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflicht (vgl. Stein/Itzel/Schwall, Praxishandbuch des Amts- und Staatshaftungsrechts, 2. Aufl., Rdn. 541).
14Nach diesen Grundsätzen stellt die Kante, über welche die Klägerin gestürzt ist, keine abhilfebedürftige Gefahrenstelle dar. Denn die Höhe der Kante betrug entsprechend der durch ein Lichtbild dokumentierten Messung der Klägerin 2,2 cm, was während der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht zwischen den Parteien unstreitig wurde. Der Kanaldeckel befand sich in einem Bereich, der nicht nur von Fußgängern, sondern gleichermaßen auch von Fahrzeugen benutzt wird. Schon daher musste jeder Fußgänger damit rechnen, dass es durch die mechanischen Belastungen, die der Fahrzeugverkehr mit sich bringt, zu Absenkungen im Bereich des Straßenkörpers und daher zu Unebenheiten und einer Kantenbildung gerade im Bereich eines derartigen Kanaldeckels kommen konnte. Der Kanaldeckel hob sich deutlich erkennbar von der Pflasterung der Straße ab, zumal die Unfallstelle auch während der Dunkelheit durch nahe stehende Straßenlaternen beleuchtet war, und war trotz der vorhandenen Kante mühelos zu begehen oder zu umgehen. Zudem wurde in dem Wohngebiet die Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer nicht abgelenkt. Unter diesen Umständen durfte die Beklagte davon ausgehen, dass ein hinreichend aufmerksamer Fußgänger die Möglichkeit, dass es im Bereich des Kanaldeckels zu Unebenheiten kommen kann, rechtzeitig erkennt und sich beim Begehen darauf einstellt. Die Möglichkeit, dass ein Fußgänger diese Stelle ohne die gebotene Aufmerksamkeit passiert und dabei gegen den Kanaldeckel stößt und stürzt, war hingegen nicht so naheliegend, dass die Beklagte gehalten war, auch dagegen Vorkehrungen zu treffen, zumal nicht erkennbar ist, dass andere Fußgänger in der Vergangenheit an dieser Stelle ebenfalls zu Schaden kamen.
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16Schließlich stehen der Klägerin auch keine Schadensersatzansprüche gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 HaftpflG zu. Nach dieser Vorschrift haftet der Betreiber einer Rohrleitungsanlage für Schäden, die durch das Vorhandensein seiner Anlage entstehen, sofern sich diese zur Zeit der Schadensverursachung nicht in ordnungsgemäßem Zustand befand.
17Vorliegend wurde bereits nicht vorgetragen, dass die beklagte Gemeinde Betreiberin der Anlage ist, zu welcher der Kanaldeckel, über den die Klägerin gestürzt ist, gehört. Jedenfalls aber ist eine Zustandshaftung des Beklagten zu verneinen, weil – wie oben ausgeführt – angesichts der örtlichen Verhältnisse ein Herausragen des Kanaldeckels gegenüber dem Straßenkörper um 2,2 cm nichts daran ändert, dass die Anlage (noch) als ordnungsgemäß im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 2 und 3 HaftpflG anzusehen ist (vgl. BGH, NJW-RR 1995, S. 1302).
18Die Berufung wurde nach dem erteilten Hinweis zurückgenommen.