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Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld i.H.v. 300.000,00 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.05.2012 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle materiellen Schäden zu ersetzen, die ihr aus der fehlerhaften geburtshilflichen Betreuung ihrer Mutter in der Zeit vom 03.11.1993 bis 04.11.1993 entstanden sind und in Zukunft noch entstehen werden, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind bzw. übergehen werden.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 120 % des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für die Berufungsinstanz wird auf 350.000,00 € festgesetzt.
Gründe:
2I.
3Die Klägerin macht gegen die Beklagte Schadensersatzansprüche wegen einer fehlerhaften geburtshilflichen Behandlung ihrer Mutter in der Zeit vom 03.11. bis 04.11.1993 geltend. Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen, der jedoch Anlass zu folgenden Korrekturen bzw. Ergänzungen bietet:
4Die Klägerin hat – entgegen den landgerichtlichen Feststellungen (S. 10 des angefochtenen Urteils) – bereits in der Klageschrift vorgetragen, dass zur Zeit der stationären Aufnahme ein stark riechender und ungewöhnlich starker Ausfluss vorhanden gewesen sei (S. 8 der Klageschrift vom 05.06.2013, Bl. 8 d.A.).
5Dem sind die Beklagten in erster Instanz nicht entgegengetreten. Auf die entsprechende Nachfrage in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht hat der Beklagtenvertreter sogar ausdrücklich bestätigt, dass bei der Mutter der Klägerin bereits bei der Einlieferung eine eitrige Kolpitis vorgelegen habe (S. 1 des Protokolls vom 25.01.2017, Bl. 359 d.A.).
6Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.
7Zur Begründung hat es ausgeführt, dass etwaige Schadensersatzansprüche der Klägerin gegen die Beklagte zwar noch nicht verjährt seien. Die insoweit beweisbelastete Beklagte habe den Beweis nicht erbracht, dass die Klägerin bzw. ihre Mutter bereits vor Beginn des Jahres 2010 Kenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen erlangt hätten oder ohne grobe Fahrlässigkeit im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB hätten erlangen müssen. So habe die Klägerin unwiderlegt behauptet, dass sie bzw. ihre Mutter als Laien erstmals nach Erhalt der Krankenunterlagen durch die Beklagte im Jahr 2010 den Eindruck gewonnen hätten, dass bei der Entbindung nicht alles optimal gelaufen sei.
8Die Klage sei jedoch deshalb unbegründet, weil die Kammer auf der Grundlage des überzeugenden Gutachtens des Sachverständigen C keinen Behandlungsfehler habe feststellen können, der kausal für die Frühgeburtlichkeit der Klägerin und die hierauf beruhenden Beeinträchtigungen geworden wäre.
9So habe der Sachverständige nachvollziehbar und überzeugend ausgeführt, dass bei der Aufnahme der Mutter der Klägerin keine eindeutigen Zeichen eines Amnioninfektionssyndroms vorgelegen hätten, bei denen eine Antibiotika-Therapie und ein bakteriologischer Abstrich aus der Scheide angezeigt gewesen seien. Selbst wenn – anders als in den von diesem Zeitpunkt datierenden Unterlagen vermerkt – bereits bei der Aufnahme der Klägerin ein auffälliger Ausfluss vorgelegen hätte, hätte man – so das Landgericht auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen C – zu diesem Zeitpunkt zwar einen Abstrich nehmen müssen, um die Identifizierung der Bakterien anzuschieben. Allerdings hätte auch in diesem Fall erst um 23.30 Uhr, als das Fieber hinzugekommen sei, ein Antibiotikum gegeben werden müssen. Soweit die Mutter der Klägerin erstmals in der mündlichen Verhandlung nach Vorliegen des Sachverständigengutachtens erklärt habe, sie habe bei der Einlieferung und im Rettungswagen erklärt, dass der abgegangene Schleim gelblich verfärbt und übelriechend gewesen sei, hat das Landgericht Zweifel an der Glaubhaftigkeit dieser Angaben gehabt und u.a. darauf
10verwiesen, dass dieses Detail von der Klägerin zunächst nicht vorgetragen worden sei und auch an keiner Stelle der Untersuchungsdokumentation für diesen Zeitpunkt auftauche.
11Zwar hätte man – so das Landgericht auf der Grundlage des Sachverständigengutachtens – in Gesamtschau der Symptome an ein infektiöses Geschehen denken und weitere Untersuchungen durch die Erhebung des CRP-Wertes und eine Abstrichnahme durchführen müssen, als um 22.50 Uhr ein Leukozytenwert von 18.900 festgestellt worden und um 23.30 Uhr Fieber von 38,8 Grad Celsius hinzugekommen seien. Wäre zu diesem Zeitpunkt ein erhöhter CRP-Wert festgestellt worden, hätte auch nach den im Jahr 1993 geltenden Standards eine Antibiotika-Therapie eingeleitet werden müssen, so dass zu diesem Zeitpunkt die unterbliebene CRP-Wert-Bestimmung und Antibiotika-Gabe – die das Landgericht allerdings für nicht feststellbar gehalten hat – einen Behandlungsfehler begründen könnten. Wegen der Komplexität der Situation und der nach damaligem Kenntnisstand bestehenden Unsicherheiten im Hinblick auf das Amnioninfektionssyndrom sei dieser mögliche Behandlungsfehler allerdings nicht als grob zu bewerten. In diesem Zusammenhang verweist das Landgericht auf die Ausführungen des Sachverständigen C, nach denen von einem groben Fehler nur dann auszugehen gewesen wäre, wenn sich zu einem bestimmten Zeitpunkt das Vollbild einer Infektion gezeigt hätte, ohne dass darauf reagiert worden wäre, wofür vorliegend allerdings keine Anhaltspunkte bestünden.
12Selbst wenn ein Behandlungsfehler unterstellt würde, scheitere der geltend gemachte Schadensersatzanspruch – so das Landgericht – daran, dass die Klägerin den Beweis der Kausalität des Fehlers für ihre Frühgeburtlichkeit und die mit dieser einhergehenden Beeinträchtigungen nicht erbracht habe. Da kein grober und auch kein fiktiv grober Befunderhebungsfehler vorliege, trage die Klägerin die Beweislast für die Kausalität einer verspäteten Antibiotika-Gabe für ihre Frühgeburtlichkeit. Diese lasse sich allerdings nicht feststellen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen sei zwar nicht auszuschließen, dass sich im Falle einer frühzeitigen Antibiotikagabe die rasche Entwicklung zu einem massiven Amnioninfektionssyndrom hätte aufhalten lassen. Es sei jedoch – so das Landgericht auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen C – eher unwahrscheinlich bzw. liege die Wahrscheinlichkeit bei unter 50 %, dass durch eine frühzeitige Antibiotikagabe der Blasensprung jedenfalls so lange hätte aufgehalten werden können, dass sich die Lungenreife bei der Klägerin hätte ausbilden können.
13Die Klägerin verfolgt mit der Berufung ihre erstinstanzlichen Klageanträge in vollem Umfang weiter.
14Das Landgericht sei bei seiner Entscheidung – so die Klägerin – von falschen Tatsachen ausgegangen. So habe es im Tatbestand das Vorliegen einer eitrig-fötiden Kolpitis zur Zeit der Aufnahme als unstreitig angesehen. Im Widerspruch dazu habe es allerdings die Angaben ihrer Mutter, dass bereits zur Zeit der Aufnahme ein auffälliger Ausfluss vorgelegen habe, für unglaubhaft gehalten. Bei der zugrundeliegenden Beweiswürdigung habe das Landgericht unzutreffend darauf abgestellt, dass entsprechender Vortrag in der Klageschrift fehle, während er tatsächlich bereits dort erfolgt sei. Die Kammer habe – so die Klägerin – offenbar nicht verstanden, dass eine fötid-eitrige Kolpitis einen gelblichen übelriechenden Ausfluss impliziere.
15Darüber hinaus sei das Landgericht unzutreffend davon ausgegangen, dass sie nicht den Beweis dafür erbracht habe, dass der festgestellte Fehler bei der Geburtsleitung ab 23.30 Uhr ursächlich für ihre Schädigung geworden sei. Die Klägerin ist der Ansicht, dass ein grober Behandlungsfehler vorliege, der zu einer Umkehr der Beweislast führe. Insoweit nimmt sie Bezug auf die Ausführungen des Sachverständigen, der die entsprechenden Versäumnisse – so die Klägerin – als groben Verstoß bewertet habe, wenn bereits bei der Aufnahme ihrer Mutter eine fötid-eitrige Kolpitis vorgelegen habe. Zwar habe der Sachverständige die Chancen, dass bei einer frühzeitigen Antibiotikagabe eine Lungenreifebehandlung erfolgreich hätte durchgeführt werden können, bei unter 50 % gesehen. Hieraus folge jedoch im Umkehrschluss, dass eine erfolgreiche Beendigung der Lungenreifebehandlung auch nicht gänzlich unwahrscheinlich gewesen wäre. Die Klägerin hält aufgrund ihrer Beeinträchtigungen auch in der Berufungsinstanz ein Schmerzensgeld i.H.v. 300.000,00 € für angemessen.
16Sie beantragt,
17unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Münster vom 22.02.2017, Az.: 108 O 103/13,
181. die Beklagte zu verurteilen, an sie wegen der fehlerhaften geburtshilflichen Betreuung ihrer Mutter in der Zeit vom 03.11.1993 bis zum 04.11.1993 ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.05.2012,
192. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr alle materiellen Schäden zu ersetzen, die ihr aus der fehlerhaften geburtshilflichen Betreuung ihrer Mutter in der Zeit vom 03.11.1993 bis 04.11.1993 entstanden sind und in Zukunft noch entstehen werden, soweit diese Ansprüche nicht infolge sachlicher oder zeitlicher Kongruenz auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind bzw. übergehen werden.
20Die Beklagte beantragt,
21die Berufung zurückzuweisen.
22Sie verteidigt das landgerichtliche Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Sachvortrags. Dabei hat sie in der Berufungserwiderung zunächst vorgetragen, dass auch in den therapieresistenten Wehen und dem raschen Geburtsverlauf der Hinweis darauf zu sehen sei, dass ein ausgeprägtes Amnioninfektionssyndrom schon bei der Aufnahme der Mutter der Klägerin vorgelegen habe. Auch die eitrige Kolpitis, die bei der Aufnahme diagnostiziert worden sei, habe diesem Krankheitsbild entsprochen. Die Gabe eines Antibiotikums hätte daher – so die Beklagte – den Geburtsverlauf in keiner Weise beeinflusst. Abweichend hiervon behauptet die Beklagte mit Schriftsatz vom 24.08.2018, dass nicht von einer eitrigen Kolpitis bei Aufnahme der Mutter der Klägerin im Hause der Beklagten ausgegangen werden könne. Insoweit verweist sie darauf, dass bei der Aufnahmeuntersuchung lediglich ein Schleimabgang dokumentiert worden sei. Der Begriff einer eitrig-fötiden Kolpitis tauche erstmals im Partogramm vom 04.11.1993 um 11.15 Uhr und sodann in der geburtshilflichen Epikrise von Herrn Q vom 04.11.1993 auf. Insoweit nimmt die Beklagte Bezug auf die Ausführungen des Sachverständigen C, dass der damalige Chefarzt Q bei der Aufnahmeuntersuchung nicht zugegen gewesen sei und die Diagnose erst ex post in Kenntnis der Situation nach dem Blasensprung mit fötidem Fruchtwasser gestellt habe. Für die Beurteilung eines Behandlungsfehlers sei jedoch – so die Beklagte – die ex ante Perspektive entscheidend.
23Der Senat hat Beweis erhoben durch die ergänzende mündliche Erläuterung des Sachverständigen C. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 10.09.2018 (Bl. 443ff d.A.) sowie den Berichterstattervermerk vom 15.10.2018 (Bl. 458ff d.A.) Bezug genommen.
24II.
25Die zulässige Berufung hat auch in der Sache Erfolg. Das Landgericht hat einen Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen die Beklagte zu Unrecht verneint.
26Dieser Anspruch folgt zum einen aus einer Verletzung der Pflichten aus dem zwischen der Mutter der Klägerin und der Beklagten geschlossenen Behandlungsvertrag als Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Zum anderen folgt er aus §§ 823, 31 BGB bzw. § 831 BGB.
271.
28Die auf Seiten der Beklagten beteiligten Ärzte haben bei der geburtshilflichen Behandlung der Mutter der Klägerin ihre ärztlichen Pflichten verletzt.
29Die maßgebliche Pflichtverletzung liegt dabei – entgegen den landgerichtlichen Tatsachenfeststellungen – nicht erst in der unzureichenden Reaktion auf den um 22.50 Uhr bestimmten Leukozytenwert bzw. den Fiebereintritt um 23.30 Uhr. Vielmehr hätten bei der Mutter der Klägerin bereits zur Zeit der Aufnahme um 20.40 Uhr weitergehende Untersuchungen durchgeführt und eine antibiotische Therapie eingeleitet werden müssen. Dies steht nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senats fest.
30Dabei geht der Senat davon aus, dass bei der Mutter der Klägerin bereits zur Zeit der stationären Aufnahme im Hause der Beklagten eine eitrig-fötide Kolpitis vorgelegen hat.
31Zwar hat der Sachverständige C diesbezüglich sowohl in erster als auch in zweiter Instanz ausgeführt, dass er nach den Behandlungsunterlagen der Beklagten hierfür keine Anhaltspunkte habe. So sei in der Dokumentation über die Aufnahmeuntersuchung lediglich ein Schleimabgang erwähnt, es seien jedoch keine Auffälligkeiten dieses Schleims beschrieben. Der Begriff einer eitrig-fötiden Kolpitis werde erst – so der Sachverständige – im Partogramm vom 04.11.1993 (Bl. 280 d.A.) und sodann in der geburtshilflichen Epikrise von Herrn Q vom 04.11.1993 (Bl. 63 d.A.) sowie dem Arztbrief vom 10.11.1993 (Bl. 278 d.A.) genannt. Diese Dokumente seien jedoch erst ex post in Kenntnis der Situation nach dem Blasensprung mit fötidem Fruchtwasser erstellt worden.
32Der Senat ist insoweit allerdings an den unstreitigen Sachvortrag der Parteien gebunden. Bereits in der Klageschrift vom 05.06.2013 hat die Klägerin vorgetragen, dass ihre Mutter schon zur Zeit der stationären Aufnahme unter einem stark riechenden, ungewöhnlich starken Ausfluss gelitten habe (Bl. 8 d.A.). Dies hat die Beklagte in der Klageerwiderung vom 30.10.2013 nicht in Abrede gestellt, vielmehr hat sie lediglich behauptet, dass der massive Ausfluss oder eine eitrig-fötide Kolpitis kein Beweis für eine Amnioninfektion seien (Bl. 82 d.A.).
33Auch im weiteren Verlauf des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz war das Vorliegen zumindest einer eitrig-fötiden Kolpitis bei der Mutter der Klägerin zur Zeit der stationären Aufnahme im Hause der Beklagten unstreitig (vgl. Schriftsätze der Klägerin vom 13.01.2014, Bl. 118, 121 d.A., vom 24.07.2015, Bl. 270 d.A. und vom 01.06.2017, Bl. 408, 410 d.A.; Schriftsatz der Beklagten vom 12.02.2014, Bl. 133, Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 25.01.2017, Bl. 359 d.A., Schriftsatz der Beklagten vom 02.07.2018, Bl. 429). Von Seiten der Beklagten ist teilweise sogar vorgetragen worden, das bereits bei der stationären Aufnahme ein Amnioninfektionssyndrom vorgelegen habe (vgl. Schriftsatz vom 12.02.2014, Bl. 132f, vom 02.07.2018, Bl. 429).
34Soweit die Beklagte diesen Sachvortrag erstmals mit Schriftsatz vom 24.08.2018 (Bl. 438f d.A.) bestritten hat, ist dies unbeachtlich.
35Der Beklagtenvertreter hat diesen Umstand ausdrücklich i.S.v. § 288 ZPO zugestanden. Er hat auf die entsprechende Nachfrage des Landgerichts in der mündlichen Verhandlung vom 25.01.2017 erklärt, dass es von Beklagtenseite so gesehen worden sei, dass bei der Mutter der Klägerin bereits bei der Einlieferung eine eitrige Kolpitis vorgelegen habe (vgl. S. 1 des Protokolls vom 25.01.2017, Bl. 359 d.A.). In dieser Erklärung liegt ein gerichtliches Geständnis i.S.v. § 288 ZPO, das nur unter den engen Voraussetzungen des § 290 ZPO widerrufen werden kann (vgl. insoweit auch Huber, in: Musielak / Voigt, ZPO, 15. Auflage 2018, § 288 Rdn. 2, 9). Die Voraussetzungen für einen Widerruf gemäß § 290 ZPO werden von der Beklagten jedoch weder dargelegt noch sind sie sonst ersichtlich. Aus diesem Grunde ist gemäß § 288 ZPO ohne Beweiserhebung zu unterstellen, dass bei der Mutter der Klägerin bereits zur Zeit der stationären Aufnahme im Hause der Beklagten – wie die Parteien zuvor auch übereinstimmend vorgetragen haben – eine eitrig-fötide Kolpitis festgestellt wurde.
36Deshalb sei nur ergänzend darauf verwiesen, dass die Beklagte auch die Voraussetzungen für die Zulassung ihres neuen Sachvortrags in der Berufungsinstanz gemäß § 531 ZPO nicht dargelegt hat.
37Dementsprechend hat der Senat bei der Bewertung des Behandlungsgeschehens die unstreitige und von Seiten der Beklagten ausdrücklich zugestandene Tatsache zugrunde zu legen, dass bei der Mutter der Klägerin bereits zur Zeit der Aufnahme im Hause der Beklagten die Diagnose einer eitrig-fötiden Kolpitis gestellt wurde, die mit einem eitrigen und übelriechenden Ausfluss aus der Scheide verbunden ist. Auch soweit der Sachverständige im Rahmen der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens im Senatstermin in Abgrenzung hiervon die Situation beschrieben hat, dass nur ein eitrig-tingierter Ausfluss mit gelblichen Beimengungen vorgelegen hat, der den Verdacht einer eitrigen Kolpitis begründen könnte, steht dem der unstreitige und von Seiten der Beklagten ausdrücklich zugestandene Sachvortrag entgegen, dass bereits zur Zeit der Aufnahme die Diagnose einer eitrig-fötiden Kolpitis gestellt wurde.
38Auf der Grundlage dieses unstreitigen Sachvortrags steht nach der durchgeführten Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senats fest, dass die ärztliche Behandlung der Mutter der Klägerin bei ihrer stationären Aufnahme im Hause der Beklagten fehlerhaft war.
39Die auf Seiten der Beklagten tätigen Ärzte haben nach der Untersuchung und Aufnahme der Mutter der Klägerin zunächst lediglich Medikamente zur Wehenhemmung und zur Lungenreifebehandlung verabreicht.
40Diese Behandlung entsprach jedoch auch zur Zeit der streitgegenständlichen Behandlung im Jahr 1993 nicht dem fachärztlichen Standard. Der Sachverständige C hat diesbezüglich im Rahmen der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens im Senatstermin ausgeführt, dass bei Vorliegen einer eitrig-fötiden Kolpitis zur Zeit der Aufnahme außerdem ein Abstrich zur Identifizierung der Keime, eine Bestimmung des CRP sowie prophylaktisch auch eine zumindest lokale Antibiotikabehandlung erforderlich gewesen wären.
41Der Senat ist von der Richtigkeit dieser Ausführungen des Sachverständigen C überzeugt. Zwar hat der Sachverständige sich zunächst schwer zur Annahme eines Behandlungsfehlers durchringen können. Dies steht der Überzeugungskraft seines Gutachtens jedoch nicht entgegen. Die Schwierigkeiten des Sachverständigen waren ersichtlich dadurch begründet, dass er sich gerade aufgrund seiner medizinischen Kompetenz mit Blick auf die Dokumentation der Beklagten nur schwer vorstellen konnte, dass zur Zeit der Aufnahme bei der Mutter der Klägerin tatsächlich eine eitrig-fötide Kolpitis vorlag. So hat der Sachverständige auch im Rahmen der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens im Senatstermin immer wieder darauf verwiesen, dass nach den ihm vorliegenden Unterlagen keine Anhaltspunkte für eine
42eitrig-fötide Kolpitis bereits zur Zeit der Aufnahme der Mutter der Klägerin bestünden. Nach Erklärung der prozessualen Situation, dass der Senat aufgrund des unstreitigen Sachvortrags der Parteien trotzdem hiervon ausgehen muss, und wiederholter Vorgabe der entsprechenden Tatsachen hat der Sachverständige einen Behandlungsfehler jedoch mit überzeugender Begründung bejaht und diesen sogar als grob bewertet (siehe dazu unten). Dies ist unter Berücksichtigung der vergleichsweise geringen Gefahr einer Antibiotikabehandlung einerseits und der hohen Risiken einer aufsteigenden Infektion für das ungeborene Kind und seine Mutter in jeder Hinsicht nachvollziehbar. Auch die zur Beurteilung der Fragestellung erforderliche Kompetenz des Sachverständigen, der vor seinem Ruhestand viele Jahre als Direktor der Frauenklinik des Universitätsklinikums E tätig war und daher über eine sehr große praktische Erfahrung und über eine sehr hohe fachliche Qualifikation verfügt, steht nach der Überzeugung des Senats außer Frage. Insbesondere hat der Sachverständige nach seinen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht bereits zur Zeit der streitgegenständlichen Behandlung im Jahr 1993 die Direktion der Frauenklinik des Universitätsklinikums E übernommen, so dass er auch den zu diesem Zeitpunkt geltenden Standard aus der eigenen praktischen Erfahrung in jeder Hinsicht kompetent darstellen konnte.
432.
44Dieser Behandlungsfehler ist nach dem Ergebnis der in erster und zweiter Instanz durchgeführten Beweisaufnahme zumindest mitursächlich für die Frühgeburt der Klägerin und die damit einhergehende Schädigung geworden.
45a)
46Im Hinblick auf die Feststellung der Kausalität kommen der Klägerin Beweiserleichterungen zugute. Nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die unzureichende Behandlung der bei der Mutter der Klägerin bereits zur Zeit der Aufnahme unstreitig vorliegenden und erkannten eitrig-fötiden Kolpitis als grob fehlerhaft zu bewerten ist.
47Grob ist ein Behandlungsfehler dann, wenn er aus objektiver ärztlicher Sicht bei Anlegung des für einen Arzt geltenden Ausbildungs- und Wissensmaßstabes nicht mehr verständlich und verantwortbar erscheint, weil ein solcher Fehler dem behandelnden Arzt aus dieser Sicht schlechterdings nicht unterlaufen darf (BGH, NJW 2012, 227f; Katzenmeier, in: Laufs / Katzenmeier / Lipp, Arztrecht, 7. Auflage 2015, Abschnitt XI Rdn. 72).
48Der Sachverständige hat im Rahmen der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens im Senatstermin ausgeführt, dass er unter Zugrundelegung der unstreitigen Tatsache, dass bei der Mutter der Klägerin bereits zur Zeit der Aufnahme eine eitrig-fötide Kolpitis vorgelegen habe und erkannt worden sei, den festgestellten Fehler nach seiner klinischen Erfahrung aus medizinischer Sicht als schwer und damit grob einordnen würde.
49Auch insoweit ist der Senat von der Richtigkeit der Ausführungen des Sachverständigen C überzeugt.
50Dem steht nicht entgegen, dass der Sachverständige sich – wie oben bereits dargestellt – zunächst sogar nur schwer zur Annahme eines einfachen Behandlungsfehlers durch die nicht direkt nach der Aufnahme und Untersuchung der Mutter der Klägerin eingeleitete Antibiotikabehandlung durchringen konnte. Wie oben bereits näher ausgeführt, waren die Schwierigkeiten des Sachverständigen nicht durch eine unzureichende medizinische Kompetenz, sondern dadurch begründet, dass es dem Sachverständigen gerade aufgrund seiner Kompetenz widerstrebte, entgegen der Dokumentation zugrunde zu legen, dass zur Zeit der Aufnahme der Mutter der Klägerin bereits eine eitrig-fötide Kolpitis vorlag. Die schließlich vorgenommene Bewertung des Behandlungsfehlers durch Sachverständigen ist jeder Hinsicht nachvollziehbar und rechtfertigt auch aus juristischer Sicht die Annahme eines groben Behandlungsfehlers. Sogar für einen medizinischen Laien ist es schlechterdings nicht verständlich, dass die nach dem unstreitigen Sachvortrag bereits bei der Aufnahme der Mutter der Klägerin festgestellte eitrig-fötide Kolpitis trotz der naheliegenden Gefahr einer aufsteigenden Infektion mit erheblichen Risiken für das ungeborene Kind und die Mutter einerseits und den relativ geringen Risiken einer Antibiotika-Behandlung andererseits unbehandelt geblieben und lediglich versucht worden ist, die Schwangerschaft durch eine Wehenhemmung zu verlängern und die Lungenreife bei der Klägerin zu beschleunigen.
51Soweit der Sachverständige C einen groben Behandlungsfehler zunächst unter Hinweis darauf verneint hat, dass es zur Zeit der streitgegenständlichen Behandlung noch zweifelhaft gewesen sei, ob ein Amnioninfektionssyndrom bei intakter Fruchtblase überhaupt entstehen könne, und darüber hinaus auf die begrenzten Erfolgschancen einer Antibiose im Falle eines Amnioninfektionssyndroms sowie die seinerzeit generell bestehenden Bedenken gegen die Antibiotikagabe nach einem Blasensprung verwiesen hat, steht dies einem groben Behandlungsfehler nicht entgegen. Insoweit ist auch zu beachten, dass bei der Mutter der Klägerin zur Zeit der Aufnahme die Fruchtblase unstreitig noch intakt war und lediglich eine eitrig-fötide Kolpitis vorlag. Darüber hinaus hat der Sachverständige bereits in erster Instanz
52überzeugend ausgeführt, dass auch die begrenzten Erfolgschancen einer Antibiotikabehandlung zu nutzen gewesen wären und diese Behandlung trotz der von ihm genannten Schwierigkeiten indiziert gewesen wäre.
53b)
54Nach den für grobe Behandlungsfehler geltenden Grundsätzen muss die Klägerin im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität lediglich beweisen, dass der grobe Behandlungsfehler generell dazu geeignet war, die vorliegend eingetretenen Schäden zu verursachen (vgl. insoweit auch Katzenmeier, a.a.O., Abschnitt XI, Rdn. 75). Diese Beweislastumkehr gilt für den Primärschaden und dessen typische Folgen (BGH, Urteil vom 02.07.2013, Az.: VI ZR 554/12; OLG Hamm, Urteil vom 04.04.2017, Az.: 26 U 88/16).
55Dass die unzureichende Behandlung der bereits bei der Aufnahme festgestellten eitrig-fötiden Kolpitis generell dazu geeignet war, die Frühgeburt der Klägerin und die damit einhergehenden Beeinträchtigungen zu verursachen, steht nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senats fest.
56Dies hat der Sachverständige C im Rahmen der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens im Senatstermin mit überzeugender Begründung bestätigt. So hat der Sachverständige in jeder Hinsicht nachvollziehbar die dem zugrunde liegenden möglichen Prozesse erläutert, dass die Frühgeburtsbestrebungen zum einen durch die Entzündung und den Eiter selbst verursacht werden könnten, weil hierdurch die Fruchtblase angegriffen werde, und dass zum anderen die Fruchtblase auch durch den hierdurch entstehenden größeren Druck platzen könne.
57c)
58Der Gegenbeweis ist der Beklagten nicht gelungen. Es steht weder zur Überzeugung des Senats fest, dass ein Kausalzusammenhang zwischen dem groben Behandlungsfehler und dem bei der Klägerin eingetretenen Schaden gänzlich unwahrscheinlich ist noch dass dieser nicht besteht, weil der eingetretene Primärschaden auf andere Ursachen zurückzuführen ist und daher auch im Falle einer rechtzeitigen Antibiotikagabe in gleicher Form eingetreten wäre (vgl. insoweit auch Pauge, Arzthaftungsrecht, 13. Auflage 2014, Rdn. 582). Zwar hat der Sachverständige C ausgeführt, dass die Sanierung eines Amnioninfektionssyndroms durch eine Antibiotikagabe selten sei. Nach den Ausführungen des Sachverständigen
59in seinem schriftlichen Gutachten und in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht war es daher lediglich „eher unwahrscheinlich“ bzw. lag die Wahrscheinlichkeit unter 50 %, dass mit einer Antibiotikagabe gegen Mitternacht der infolge des Amnioninfektionssyndroms eingetretene Blasensprung am 04.11.1993 um 11.16 Uhr hätte hinausgezögert oder verhindert werden können.
60Dies lässt jedoch nicht die Schlussfolgerung zur, dass eine erfolgreiche Behandlung und damit die Verhinderung bzw. Verzögerung der Frühgeburt der Klägerin auch bei einer Antibiotikagabe erst nach Eintritt des Amnioninfektionssyndroms gänzlich unwahrscheinlich gewesen wäre. Selbst wenn – wie die Beklagte teilweise behauptet hat – bereits bei der Aufnahme der Mutter der Klägerin nicht nur eine eitrig-fötide Kolpitis, sondern bereits ein Amnioninfektionssyndrom vorgelegen haben sollte, hätte die Beklagte damit den Gegenbeweis, dass eine Verhinderung bzw. Verzögerung der Frühgeburt durch eine rechtzeitige Antibiotikagabe gänzlich unwahrscheinlich gewesen wäre, nicht erbracht.
61Darüber hinaus ist zu beachten, dass nach dem unstreitigen und von der Beklagten ausdrücklich zugestandenen Sachvortrag bei der Aufnahme der Mutter der Klägerin kein vollständig ausgeprägtes Amnioninfektionssyndrom, sondern lediglich eine eitrig-fötide Kolpitis vorlag. Soweit der Sachverständige daher zur Begründung der geringen Chancen einer erfolgreichen Behandlung eines Amnioninfektionssyndroms durch ein Antibiotikum darauf verwiesen hat, dass dies durch die Plazenta wirksam werden müsse und der Antibiotikaspiegel an den infizierten Eihäuten und dem Fruchtwasser die zur Bakterien-Elimination erforderliche Konzentration erreichen müsse, hätten diese Schwierigkeiten bei einer lediglich bestehenden eitrig-fötiden Kolpitis nicht bestanden. Damit in Einklang hat der Sachverständige im Rahmen der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens im Senatstermin ausgeführt, dass im Falle einer eitrig-fötiden Kolpitis zur Zeit der Aufnahme eine lokale Antibiotikabehandlung ebenso indiziert und möglicherweise sogar wirksamer als eine systemische Behandlung gewesen wäre. Durch eine frühzeitige antibiotische Behandlung hätte möglicherweise bereits das Aufsteigen der Infektion und damit der Eintritt des nach den Ausführungen des Sachverständigen schwer zu behandelnden Amnioninfektionssyndroms verhindert werden können. So hat der Sachverständige im Rahmen der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens im Senatstermin ausgeführt, dass die eitrig-fötide Kolpitis nur der Vorläufer eines Amnioninfektionssyndroms sei und daher nicht jede Kolpitis zu einem Amnioninfektionssyndrom führen müsse.
623.
63Die Beklagte ist daher gemäß § 253 Abs. 2 BGB dazu verpflichtet, der Klägerin für die infolge des Behandlungsfehlers eingetretenen immateriellen Beeinträchtigungen ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen.
64Als Schmerzensgeld für die infolge des Behandlungsfehlers eingetretenen immateriellen Beeinträchtigungen hält der Senat den von der Klägerin für angemessen erachteten Betrag in Höhe von 300.000,00 € für erforderlich, aber auch ausreichend.
65Der Zustand der Klägerin infolge der Frühgeburt ist zwischen den Parteien unstreitig. Dementsprechend hat das Landgericht – von keiner Seite angegriffen – zu den Folgen der Frühgeburtlichkeit für die Klägerin festgestellt, dass sich noch am 04.11.1993 bei dieser Hirnblutungen und eine beginnende Ventrikelerweiterung gezeigt hätten. Sie habe ein Atemnotsyndrom und ein interstitielles Lungenemphysem entwickelt und sei erst am 16.03.1994 aus der stationären Behandlung der Beklagten entlassen worden. In der Folgezeit habe sich bei der Klägerin eine schwere Behinderung mit einer Tetraspastik und einer Entwicklungsverzögerung ergeben. Die Klägerin leide bis heute und dauerhaft unter eine linksbetonten spastischen Diplegie, kloniform gesteigerten Eigenreflexen, einem hypotonen Rumpf, einem cerebralen Anfallsleiden, einer eingeschränkten Mundmotorik, einer sprachlichen Entwicklungsverzögerung, stark eingeschränkter Konzentrationsfähigkeit und Merkfähigkeit, einer eingeschränkten Wahrnehmung, schweren Depressionen, einer Angststörung und Schlafstörungen. Ihre Sehfähigkeit sei stark eingeschränkt, sie leide unter einer erhöhten Infektanfälligkeit und sei stuhl- und harninkontinent. Zur Fortbewegung sei die Klägerin auf einen Rollstuhl angewiesen, da ihr freies Gehen, Stehen oder sitzen unmöglich sei. Sie sei umfassend hilflos und pflegebedürftig bei allen alltäglichen Verrichtungen. Sie werde Zeit ihres Lebens auf fremde Hilfe angewiesen sein und nie ein beschwerdefreies, eigenständiges, bewusst erlebtes Leben führen können.
66Der Senat ist auch auf der Grundlage der ärztlichen Belege, der Erklärungen der Mutter der Klägerin im Rahmen der persönlichen Anhörung vor dem Landgericht sowie auch der Ausführungen des Sachverständigen C davon überzeugt, dass die vom Landgericht festgestellten Beeinträchtigungen Folgen der durch das fehlerhafte Behandlungsgeschehen verursachten Frühgeburt der Klägerin sind.
67Diese erheblichen physischen und psychischen Beeinträchtigungen rechtfertigen ein Schmerzensgeld in der zuerkannten Höhe. Zwar kann die Klägerin trotz ihrer Behinderung zumindest eingeschränkt und mit Hilfestellung am sozialen Leben teilnehmen. Sie kann sich mit Hilfe fortbewegen, sehen, hören und mit anderen Menschen kommunizieren. Auch ist ihr zumindest der Besuch einer Schule für Menschen mit Behinderung möglich. Allerdings ist ihr Leben dauerhaft – wie auch vom Landgericht festgestellt – mit erheblichen Einschränkungen verbunden. Wesentliche Teile des Lebens werden ihr dauerhaft vorenthalten bleiben. Auch wird die Klägerin Zeit ihres Lebens auf fremde Hilfe angewiesen sein und nie ein beschwerdefreies, eigenständiges Leben führen können. Dementsprechend ist für sie nach Eintritt der Volljährigkeit auch eine Betreuung eingerichtet und ihre Mutter als Betreuerin eingesetzt worden. Nach dem unstreitigen Sachvortrag realisiert die Klägerin ihre Einschränkungen auch, was u.a. zu den vom Landgericht genannten psychischen Beschwerden führt.
68Der zugesprochene Betrag ist auch unter Berücksichtigung der von der Rechtsprechung in ähnlich gelagerten Fällen zugesprochenen Beträge angemessen (vgl. insoweit auch OLG Koblenz, Urteil vom 26.02.2009, Az.: 5 U 1212/07; OLG Frankfurt, Urteil vom 18.04.2006, Az.: 8 U 107/05; OLG Zweibrücken, Urteil vom 30.06.1998, Az.: 5 U 26/95).
694.
70Der Durchsetzbarkeit dieses Anspruchs steht – wie das Landgericht zutreffend entschieden hat – nicht die von der Beklagten erhobene Einrede der Verjährung entgegen.
71Die Behandlung erfolgte im Jahr 1993, weshalb im Hinblick auf die Verjährung – jedenfalls zunächst – die seinerzeit geltenden Vorschriften anwendbar waren. Etwaige vertragliche Schadensersatzansprüche unterlagen demnach der 30-jährigen Verjährungsfrist gemäß § 195 BGB in der Fassung vor der Schuldrechtsreform im Jahr 2001. Für die deliktischen Ansprüche war zunächst die Vorschrift des § 852 BGB in der Fassung vor der Schuldrechtsreform einschlägig, nach der die Verjährung – ebenso wie nach den heute geltenden Vorschriften – drei Jahre nach Kenntnis von den anspruchsbegründenden Tatsachen und kenntnisunabhängig nach 30 Jahren eintrat. Ab dem 01.01.2002 waren für die Verjährung des Schadensersatzanspruchs demgegenüber gemäß Art. 229 § 6 Abs. 1 EGBGB die auch derzeit geltenden Vorschriften anwendbar. Die dreijährige Verjährungsfrist des
72§ 195 BGB begann dementsprechend gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB mit der Kenntnis oder der grob fahrlässigen Unkenntnis der Klägerin von den anspruchsbegründenden Tatsachen.
73Das Landgericht hat im Zusammenhang mit der Verjährung nach Vernehmung der Zeugin A fehlerfrei eine Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis der Klägerin vor dem Jahr 2010 nicht festzustellen vermocht.
74Für die Kenntnis bzw. die grob fahrlässige Unkenntnis in diesem Sinne reicht es nicht, wenn dem Patienten lediglich der negative Ausgang der Behandlung bekannt ist. Auch reicht nicht die Kenntnis von der ärztlichen Maßnahme bzw. dem Unterlassen aus. Vielmehr ist die Kenntnis von Tatsachen erforderlich, aus denen sich ergibt, dass Maßnahmen nicht getroffen wurden, die nach ärztlichem Standard zur Vermeidung oder Beherrschung der Komplikation erforderlich gewesen wären (vgl. dazu BGH, NJW-RR 2010, 681). Die grob fahrlässige Unkenntnis – also das nicht verständliche Unterlassen naheliegender und leicht zugänglicher Informationsmöglichkeiten – steht dabei der Kenntnis gleich (BGH, a.a.O.; OLG Bamberg, VersR 2014, 748).
75Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze könnte – selbst wenn der Klägerin bzw. ihren gesetzlichen Vertretern entgegen den zutreffenden Feststellungen des Landgerichts das Fördergutachten aus dem Jahr 2000 schon früher bekannt gewesen sein sollte – hieraus nicht mit der gemäß § 286 ZPO erforderlichen Gewissheit die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis eines Behandlungsfehlers festgestellt werden. Aus dem in dem Gutachten genannten Umstand, dass bei der Mutter der Klägerin eine nicht erkannte Streptokokken-Infektion vorgelegen hat, mussten die Klägerin bzw. ihre Mutter nicht unbedingt darauf schließen, dass die Infektion fehlerhaft von Seiten der Beklagten nicht sofort erkannt und behandelt worden ist. Es war ebenso gut vorstellbar, dass die Infektion trotz optimaler Behandlung nicht erkennbar war.
765.
77Der Zinsanspruch folgt aus §§ 288, 286 BGB. Die Beklagte befindet sich seit dem 01.05.2012 in Verzug. Mit Schreiben vom 20.03.2012 forderte die Klägerin die Beklagte unter Fristsetzung bis zum 30.04.2012 zur Zahlung von Schadensersatz auf.
786.
79Der Feststellungsantrag ist im Hinblick auf die noch nicht bezifferten materiellen Schäden zulässig und begründet. Im Hinblick auf die Schwere der bei der Klägerin eingetretenen Schädigung liegen zukünftige materielle Schäden auf der Hand und werden von der Beklagten auch nicht in Zweifel gezogen (vgl. insoweit auch BGH, NJW 2001, 1431). Dass die Klägerin die in der Vergangenheit bereits entstandenen Schäden zumindest teilweise schon beziffern kann, steht der Zulässigkeit der Feststellungsklage nicht entgegen (vgl. insoweit BGH, NJW-RR 2016, 759).
807.
81Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
82Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.
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