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Tritt ein Fußgänger zwischen zwei sich in der Geradeausspur befindlichen Fahrzeugen, die sich in einem Rückstau befinden, auf die Fahrbahn und wird er von einem an diesen Fahrzeugen unter Überfahren einer durchgezogenen Linie links vorbeifahrenden Fahrzeug , das weiter vorn in die Linksabbiegespur einfahren möchte erfasst, so rechtfertigt dies mangels eines Verschuldens des Kraftfahrers angesichts des erheblichen Eigenverschulden des Fußgängers eine Haftungsverteilung von 75% zu 25% zu Lasten des Fußgängers.
Auf die Berufung des Klägers wird das am 29.11.2016 verkündete Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld teilweise abgeändert.
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 3.000,-- Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 17.06.2011 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger den weiteren derzeit noch nicht vorhersehbaren immateriellen Schaden aus dem Schadensereignis vom 24.02.2011 unter Berücksichtigung einer Haftungsquote der Beklagten von 25 % zu ersetzen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger 25 % des materiellen Schadens aus dem Schadensereignis vom 24.02.2011 zu ersetzen, soweit dieser nicht an Dritte, insbesondere Sozialversicherungsträger, übergegangen ist oder übergeht.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
I.
2Der Kläger nimmt die Beklagten aus einem Unfall in Anspruch, der sich am 24.02.2011 gegen 11.30 Uhr in der C-Straße in D im Bereich der Kreuzung mit der I-Straße ereignete.
3Der Beklagte zu 2) befuhr mit seinem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten und auf den Beklagten zu 3) zugelassenen Pkw die C-Straße in Fahrtrichtung der querenden I-Straße und scherte frühzeitig auf die Linksabbiegerspur aus, um den auf der Geradeausspur befindlichen Rückstau der Fahrzeuge zu passieren. Der Kläger überquerte als Fußgänger die Fahrbahn der C-Straße, wobei er zwischen den vom Zeugen E geführten Lkw und dem vor diesem befindlichen Fahrzeug des Zeugen F durchging, um die Gegenspur der C-Straße zu passieren. Als er hinter dem Lkw hervortrat, wurde er vom Fahrzeug des Beklagten zu 2) erfasst und gegen das Fahrzeug des Zeugen F geschleudert, von wo aus er auf die Fahrbahn stürzte .
4Er erlitt ein Politrauma mit Pneumothorax links, eine Lungenkontusion, eine Mehretagenfraktur des Unterschenkels sowie eine Fraktur der 4. Rippe und eine Ulnaschaftfraktur links, befand sich in der Zeit vom 24.02. bis zum 21.03.2011 in stationärer Behandlung und war bis zum 30.05.2012 arbeitsunfähig.
5Der Kläger hat behauptet, der Beklagte zu 2) habe bei unklarer Verkehrslage und mit hoher Geschwindigkeit auf der mittleren Spur befindliche Fahrzeuge überholt, so dass ihn ein hälftiges Mitverschulden an dem Unfall treffe.
6Der Kläger hat beantragt,
71.
8die Beklagten als Gesamtschuldner zu verpflichten, an ihn ein Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, und zu erkennen, dass dieses ab dem 17.06.2011 mit 5 Prozentpunkten über den Basiszinssatz zu verzinsen ist,
92.
10festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner auch verpflichtet sind, ihnen weiteren derzeit noch nicht vorhersehbaren immateriellen Schaden zu ersetzen,
113.
12festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm den materiellen Schaden aus dem Schadensereignis vom 24.11.2011 zu ersetzen, soweit dieser nicht auf Dritte, insbesondere Sozialversicherungsträger, übergegangen ist oder übergeht.
13Die Beklagten haben beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Sie haben die Einrede der Verjährung erhoben und behauptet, der Beklagte zu 2) habe gefahrlos an den auf der mittleren Fahrspur wartenden Fahrzeugen vorbeifahren können, da es keinen Gegenverkehr gegeben habe. Die Ampelanlage an der Kreuzung I-Straße sei auf grün umgesprungen, was dazu geführt habe, dass die vor dem genannten Sattelzug wartenden Fahrzeuge angefahren seien. Der Kläger sei für den Beklagten nicht vorhersehbar gerannt und vor dem Sattelzug herkommend auf die vom Beklagten zu 2) genutzte Fahrspur gelaufen. Dies sei so plötzlich geschehen, dass der Beklagte zu 2) ihn vor der Kollision noch gar nicht als Menschen habe erkennen können.
16Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 29.09.2015 mit der Begründung abgewiesen, ein unfallursächliches Verhalten des Beklagten zu 2) sei nicht festzustellen. Auch wenn er beim Ausscheren nach links über eine durchgezogene Linie gefahren sei, habe er nicht mit einem verkehrswidrig hinter einem stehenden LKW plötzlich hervortretenden Fußgänger rechnen müssen. Die durchgezogene Linie schütze allein den Gegenverkehr.
17Auf die Berufung des Klägers hat der Senat mit Urteil vom 24. Mai 2016 diese Entscheidung aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen, weil das Landgericht den Unfall nicht ausreichend aufgeklärt, insbesondere kein Sachverständigengutachten eingeholt hatte.
18Mit der angefochtenen Entscheidung hat das Landgericht nach Vernehmung der Zeugen und Einholung eines Sachverständigengutachtens die Klage erneut mit der Begründung abgewiesen, dem Beklagten sei ein unfallursächliches Verschulden nicht nachzuweisen. Das Sachverständigengutachten habe ergeben, dass der Beklagte zu 2) zwar die durchgezogene Linie überfahren, jedoch nicht mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei. Die Fälle, in denen ein Mitverschulden des Autofahrers angenommen worden sei, beträfen durchweg Konstellationen, in denen Fußgänger die Fahrbahnmitte erreicht und sich deshalb nur auf den Gegenverkehr konzentriert hätten. Vorliegend habe es jedoch, was der Kläger gewusst habe, noch die Linksabbiegerspur gegeben, auch wenn sie an der Unfallstelle noch nicht voll ausgebildet gewesen sei. Der Kläger habe in grober Weise gegen § 25 Abs. 3 StVO verstoßen, so dass die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs vollständig zurückzutreten habe.
19Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er seine Ausgangsanträge mit der Maßgabe weiter verfolgt, dass ihm ein hälftiges Mitverschulden zur Last zu legen sei.
20Er ist der Auffassung, durch das vom Beklagten zu 2) durchgeführte Fahrmanöver sei die Betriebsgefahr seines Fahrzeuges derart erhöht gewesen, dass ein Zurücktreten hinter dem groben Verschulden des Klägers nicht in Betracht komme.
21II.
22Die Berufung des Klägers hat im zuerkannten Umfang Erfolg.
231.
24Die Beklagten haften gem. den §§ 7, 18 StVO, 115 Abs.1 VVG, 249 ff. BGB aus der von dem vom Beklagten zu 2) gefahrenen Fahrzeug ausgehenden Betriebsgefahr für die Folgen des streitgegenständlichen Unfalls, und zwar in einer Höhe von 25 %. Zwar kann die einfache Betriebsgefahr eines Fahrzeuges hinter einem besonders groben Verschulden des Unfallgegners bzw. einer erhöhten Betriebsgefahr eines anderen beteiligten Fahrzeuges zurücktreten. Das gilt jedoch dann nicht, wenn diese Betriebsgefahr ebenfalls erhöht ist.
25Die Betriebsgefahr eines Fahrzeuges kann nicht nur durch ein Verschulden seines Fahrers, sondern auch durch ein an sich zulässiges Fahrmanöver erhöht werden, das besondere Gefahren birgt. So entspricht es zum Beispiel der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, dass die Betriebsgefahr eines Fahrzeuges, das mit einer Geschwindigkeit von über 130 km/h auf der Autobahn fährt, in der Regel nicht zurücktritt, wenn es zu einem Unfall kommt, obgleich die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen ohne besondere Geschwindigkeitsregelung zulässig ist.
26Ähnlich liegt der Fall hier. Der Senat hat bereits in seiner ersten Entscheidung im vorliegenden Verfahren darauf hingewiesen, dass das vom Beklagten zu 2) durchgeführte Fahrmanöver, nämlich frühzeitig unter Überfahrung einer durchgezogenen Linie und unter Nutzung der Fahrbahn des Gegenverkehrs auf die linke Fahrspur einzufahren, dagegen spricht, die Betriebsgefahr hinter einem Verschulden des Klägers zurücktreten zu lassen.
27Der Senat hält an dieser Auffassung fest. Insbesondere spricht auch die vom Beklagten zu 2) eingehaltene Geschwindigkeit dagegen, hier nur von einer einfachen Betriebsgefahr auszugehen. Zwar folgt der Senat der Wertung des Landgerichts dahin, dass der Beklagte zu 2) nicht verpflichtet gewesen wäre, die Fahrzeugkolonne auf der mittleren Spur mit Schrittgeschwindigkeit zu passieren, was nach den Ausführungen des Sachverständigen einzig unfallvermeidend hätte wirken können. Allerdings verkennt das Landgericht, dass eine vom Sachverständigen festgestellte Geschwindigkeit von jedenfalls 32 km/h bei dem eben skizzierten Fahrmanöver als deutlich betriebsgefahrerhöhend angesehen werden muss.
28Dass das Fahrmanöver des Beklagten zu 2) unfallkausal geworden ist, bedarf keiner vertiefenden Begründung, da der Unfall unschwer hätte vermieden werden können, wenn der Beklagte zu 2) hinter dem letzten Fahrzeug der Fahrzeugkolonne verblieben und erst auf die linke Spur gefahren wäre, als sich diese für ihn öffnete.
29Bei dieser Sachlage sieht der Senat keinen Anlass und hält es auch nicht für angemessen, die Betriebsgefahr hinter dem Verschulden des Klägers zurücktreten zu lassen. Er bewertet diese in ständiger Rechtsprechung und ohne besondere weitere Umstände mit 25 %.
303.
31Der Schmerzensgeldanspruch des Klägers leitet sich aus § 253 Abs. 2 BGB her.
32Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sind zunächst die gravierenden Verletzungen des Klägers zu berücksichtigen, und zwar das Politrauma mit Pneumothorax links, die Lungenkontusion, eine Mehretagenfraktur des Unterschenkels sowie die Fraktur der 4. Rippe und eine Ulnaschaftfraktur links. Gewürdigt hat der Senat des Weiteren, dass der Kläger für die Dauer von fast einem Monat in stationärer Krankenhausbehandlung und bis zum 30.05.2012 arbeitsunfähig war. Schließlich hat der Senat die vom Kläger glaubhaft vorgetragenen Dauerfolgen des Unfalls in seine Erwägungen mit einbezogen. Zu berücksichtigen waren insoweit die noch im rechten Arm und im linken Bein vorhandenen Beschwerden in Gestalt von Schmerzen und Bewegungseinschränkungen. Der Kläger hat hierzu angegeben, dass er auf die regelmäßige Einnahme von Schmerzmitteln angewiesen sei, wenn er arbeite, wegen seines Beines und seines Armes noch in physiotherapeutischer Behandlung sei und wegen der Beschwerden im linken Bein keine Treppen mehr steigen und nicht mehr lange laufen könne. Zu berücksichtigen waren ferner eine im Jahre 2015 stattgefundene weitere Operation zur Entfernung des letzten Implantats und der Umstand, dass der Kläger unfallbedingt seine ursprüngliche Tätigkeit im Betrieb seines Bruders nicht mehr ausführen, sondern statt als Baggerführer nur noch als Hausmeister eingesetzt werden kann. Diese erheblichen Beeinträchtigungen mit Dauerfolgen lassen ein Schmerzensgeld oberhalb des vom Kläger benannten Betrages grundsätzlich als angemessen erscheinen.
33Im Hinblick auf das erhebliche Eigenverschulden des Klägers an dem Unfall, der in grob fahrlässiger Weise die Fahrbahn überquert hat, ohne auf den bevorrechtigten Verkehr zu achten, hält der Senat ein Schmerzensgeld in Höhe von 3.000,-- Euro für angemessen, aber auch ausreichend, um den Kläger für die genannten Folgen des Unfalls zu entschädigen.
34Nicht berücksichtigt werden konnte allerdings zum jetzigen Zeitpunkt, dass möglicherweise das Handgelenk des Klägers künftig versteift werden muss, da diese Unfallfolge noch nicht sicher abzusehen ist und dementsprechend dem Feststellungsausspruch unterfällt.
354.
36Die beiden Feststellungsanträge sind zulässig und begründet. Es besteht die realistische Möglichkeit, dass dem Kläger aus dem streitgegenständlichen Unfall noch weitere Folgen entstehen, die heute noch nicht absehbar sind. Dies folgt bereits zwanglos aus der Komplexität der erlittenen Verletzungen, insbesondere der Knochenbrüche, die immer das Risiko einer Arthrose in sich bergen. Des Weiteren folgt es aus der bereits erwähnten Möglichkeit, dass das Handgelenk des Klägers versteift werden muss. Aus den genannten Gründen sind sowohl weitere immaterielle Schäden als auch materielle Schäden, etwa in Gestalt von Krankheitskosten oder Verdienstunfall zu besorgen. Auch insoweit ist das erhebliche Eigenverschulden des Klägers mit einer Quote von 75 % zu berücksichtigen.
37Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10 i. V. m. § 713 ZPO.