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Auf die Berufung des Klägers wird das am 07.09.2016 verkündete Urteil des Landgerichts Essen abgeändert.
Die Widerklage wird in vollem Umfang abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits 1. Instanz tragen die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten des Klägers die Beklagte zu 1 zu 68 % und die Beklagte zu 2 zu 32 %. Die Beklagten tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte zu 1.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagten zu 1 wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe:
2A.
3Die Parteien streiten um Ansprüche aus einem Anteilskaufvertrag aus dem Jahr 2012, mit dem der Kläger der Beklagten zu 1 seine Anteile an der Q GmbH (erstinstanzliche Beklagte zu 2 und im Folgenden auch so bezeichnet) verkauft hatte. Soweit in der Berufung noch von Bedeutung begehrt der Beklagte zu 1 von dem Kläger widerklagend wegen einer Steuernachforderung gegen die Beklagte zu 2 Zahlung von 51.341,38 € aus dem Kaufvertrag. Mit seiner Berufung wendet sich der Kläger gegen die entsprechende Verurteilung durch das Landgericht.
4Mit Vertrag vom 28.11.2012 (Anlage K 1, Bl. 115) hat der Kläger der Beklagten zu 1 seine Anteile an der Beklagten zu 2 verkauft und übertragen.
5Dieser Vertrag enthält u.a. folgende Vereinbarungen:
6§ 3 Kaufpreiserhöhung
73.1 Sollte der Jahresüberschuss der Gesellschaft zum 31. Dezember 2011, zum 31. Dezember 2012 und zum 31. Dezember 2013 zusammengerechnet einen Betrag von EUR 600.000,00 (in Worten Euro sechshunderttausend) übersteigen, ist der übersteigende Betrag in voller Höhe als zusätzlicher Kaufpreis für beide Geschäftsanteile zusammen an den Veräußerer einredefrei und aufrechnungsfrei auszuzahlen. Die Prüfung der Jahresabschlüsse 2012 und 2013 als Grundlage für die Ermittlung eines eventuellen zusätzlichen Kaufpreises hat durch einen Wirtschaftsprüfer zu erfolgen, der vom Erwerber und vom Veräußerer gemeinsam festzulegen ist. Erfolgt keine Einigung über die Person des Wirtschaftsprüfers, so ernennt auf den Antrag nur einer Partei der Präsident der Wirtschaftsprüferkammer in Düsseldorf den zuständigen Wirtschaftsprüfer, wobei diese Entscheidung für die Parteien verbindlich ist. Die Kosten der Wirtschaftsprüfung trägt die Gesellschaft. …
83.2 Die Auszahlung des zusätzlichen Kaufpreises hat aufrechnungsfrei und einredefrei spätestens am 28. Tag nach dem Testat-Datum unter dem Jahresabschluss für das Jahr 2013 zu erfolgen, nachdem die beiden Jahresabschlüsse zum 31. Dezember 2012 und zum 31. Dezember 2013 vom Wirtschaftsprüfer ohne Einschränkung testiert sind und sich ein Drei-Jahres-Überschuss für 2011/2012/2013 von zusammengerechnet mehr als EUR 600.000,00 ergibt. Der Wirtschaftsprüfer hat ein Original des testierten Jahresabschlusses direkt dem Veräußerer zuzuschicken.
9…
10§ 5 Gewinnbezugsrecht (Gewinnanspruch)
115.1 Gewinne, die im Geschäftsjahr 2011 und in den vorangegangenen Geschäftsjahren erwirtschaftet und nicht an die Gesellschafter verteilt worden sind, insbesondere die als Gewinn vorgetragen sind, die in die Gewinnrücklage eingestellt worden sind oder über deren Verwendung noch nicht beschlossen wurde, stehen allein dem Veräußerer zu.
125.2 Der Gewinn der Gesellschaft im Geschäftsjahr 2012 vom 01.01.2012 bis zum 31.10.2012 (10 Monate) steht allein dem Veräußerer zu. Zur Ermittlung des Gewinns werden der Erwerber und der Veräußerer gemeinsam auf Kosten der Gesellschaft einen Zwischenabschluss auf den 31.10.2012 erstellen. Der Gewinn im Geschäftsjahr 2012 vom 01.11.2012 bis zum 31.12.2012 (2 Monate) steht den Parteien hälftig zu.
135.3 Der Gewinn der Gesellschaft im Geschäftsjahr 2013 steht den Parteien hälftig zu.
145.4 Der Gewinn der Gesellschaft ab dem 01.01.2014 steht allein dem Erwerber zu.
15
16§ 7 Steuerliche Festsetzungen, Betriebsprüfungen und öffentliche Abgaben
177.1 Der Veräußerer garantiert im Wege eines selbständigen Garantieversprechens gemäß § 311 Abs. 1 BGB, dass die nachstehenden Angaben bis zum Beurkundungsstichtag nach seinem besten Wissen (bestes Wissen als Haftungsmaßstab ist definiert als positive Kenntnis oder grobfahrlässige Unkenntnis) vollständig und richtig sind:
18(…)
197.2 Sollten die Angaben gemäß vorstehendem § 7.1 ganz oder teilweise unrichtig oder unvollständig sein und sollte der vereinbarte Haftungsmaßstab verwirklicht sein durch den Veräußerer, so ist der Veräußerer verpflichtet, die Gesellschaft so zu stellen, wie diese stehen würde, wenn die Angaben, Zusicherungen und Gewährleistungen des Veräußerers richtig und vollständig gewesen wären, und zwar durch Leistung von Schadensersatz in Geld an die Gesellschaft.
207.3 Soweit nach dem Beurkundungsstichtag geänderte steuerliche Festsetzungen oder die Änderung sonstiger öffentlicher Abgabenbescheide, insbesondere als Folge von Betriebsprüfungen bei der Gesellschaft zur Nachforderung von Steuern oder darauf entfallenden Zinsen oder sonstigen öffentlichen Abgaben für Zeiträume vor dem Beurkundungsstichtag führen, so werden diese Steuern, Abgaben und Zinsen, soweit sie die in dem Jahresabschluss der Gesellschaft zum 31. Dezember 2011 gebildeten Steuerrückstellungen übersteigen, von dem Veräußerer getragen werden.
217.4 Ersatz- und Freihalteansprüche des Erwerbers nach § 7.2 oder § 7.3 bestehen insoweit nicht, als die Nachforderungen oder Neufestsetzungen von Steuern oder Abgaben auf einer bloßen zeitlichen Verschiebung der Besteuerungsgrundlagen beruhen, d.h. soweit Steuernachforderungen für die Zeit bis zum Beurkundungsstichtag durch entsprechende Steuervorteile (insbesondere abschreibungsfähige Zuaktivierungen, erstmalige Bilanzierung oder Höherbewertung oder Erhöhung von Aktivposten kein Ausweis oder ein geringerer Ausweis von Passivposten) ausgleichbar sind, bleiben sie unberücksichtigt. Die Ersatz- und Freihalteansprüche des Erwerbers beschränken sich in diesem Fall auf jene Kosten, die für die Finanzierung der Steuermehrforderung bis zu dem Zeitpunkt entstehen, in welchem die zeitliche Verschiebung der Besteuerungsgrundlage in einer tatsächlichen Steuerminderung für die Gesellscahft oder des Erwerbers resultiert.
227.5 Diese Ersatz- und Freistellungsansprüche des Erwerber[s] gemäß § 7.2 und § 7.3 verjähren innerhalb von 6 Monaten nach materieller Bestands- bzw. Rechtskraft des jeweiligen Bescheides, frühestens jedoch 6 Monate nach Zustellung des bestands- bzw. rechtskräftigen Bescheides an den Erwerber oder die Gesellschaft.
23§ 8 Haftungsumfang, Anspruchsverzicht
24…
258.4 Die Haftung des Veräußerers ist ausgeschlossen, soweit sich eine etwaige Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der selbständigen Garantieerklärungen aus Ziffer II. §§ 6 und 7 oder die Umstände, auf denen eine etwaige Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit beruht, dem Erwerber am Beurkundungsstichtag dieses Erwerbsvertrages anderswie bekannt ist oder unter Beachtung der geschäftsüblichen Sorgfalt hätte bekannt sein müssen.
26…
27§ 11 Geschäftsführerversorgung des Veräußerers
28Dem Erwerber ist die Geschäftsführerversorgung, welche die Gesellschaft dem Veräußerer gewährt hat und gewährt, bekannt und der Erwerber akzeptiert die bestehende Geschäftsführerversorgung; verwiesen wird hierzu auf die beigefügte Anlage II. 11. Der Erwerber und der Veräußerer vereinbaren hiermit, dass rückgedeckte Rentenzahlungen des Versicherers – sowohl für die Vergangenheit, die Gegenwart als auch die Zukunft – an den aus der abgeschlossenen Geschäftsführerversorgung Bezugsberechtigten (Veräußerer oder Ehegattin des Veräußerers) aufrechnungsfrei und einredefrei in voller Höhe, in welcher die Gesellschaft von dem Versicherer die Rentenzahlungen erhält, von der Gesellschaft an den Bezugsberechtigten ausgezahlt werden und auszuzahlen sind, auch wenn diese Rentenzahlungen durch den Versicherer höher sind als die ursprünglich von der Gesellschaft dem Veräußerer jeweils zugesagten Rentenhöhe, wobei diese jetzige Vereinbarung zwischen den Vertragsparteien für die Berufsunfähigkeitsrente, die Altersrente und gegebenenfalls die Witwenrente gilt. Die Vertragsparteien werden zu der vollständigen Weitergabe der Rentenzahlungen des Versicherers über die von der Gesellschaft zugesagte Rentenhöhe hinaus ergänzend auch noch einen gleichlautenden Gesellschafterbeschluss fassen, der die Gesellschaft unwiderruflich bindet; außerdem wird der bestehende Pensionsvertrag zwischen der Gesellschaft und dem Veräußerer (Herr M als früherer Geschäftsführer) gleichlautend wie in Ziffer II § 11 vorstehend aufgeführt vertraglich noch ergänzt, wobei der Erwerber dabei mitwirkt.
29Die Parteien sind sich darüber einig, dass, falls die Zahlung des Versicherers an die Fa. Q GmbH geringer ausfällt, als die Zusage der Fa. Q GmbH an den Veräußerer, akzeptiert der Veräußerer die Zahlung in Höhe der Versicherungsleistung und verzichtet auf die höhere Zusage. In der Bilanz des Jahres 2011 wurden im Rahmen der Rückdeckungsversicherung für die Pensionszusage der Gesellschaft gegenüber dem Veräußerer die in der Anlage II.11.2 aufgeführten Buchung vorgenommen. Anlass hierfür war der Eintritt der Berufsunfähigkeit des Veräußerers. Diese Buchungen werden vom Erwerber kritisch betrachtet. Der Veräußerer will die Bilanz 2011 in der bestehenden Form nicht ändern und ist sich daher des Risikos einer nachträglichen Steuerbelastung bewusst und übernimmt die Haftung für die dadurch der Gesellschaft entstehenden Mehraufwendungen.
30Im Jahr 2013 wurde bei der Beklagten zu 2 eine Betriebsprüfung durchgeführt. Diese beanstandete, dass eine für die Pensionszusage an den Kläger abgeschlossene Rückdeckungsversicherung mit einem zu niedrigen (nämlich „gedeckelten“) Wert als Aktivposten in der Bilanz angesetzt worden sei. Die dementsprechende Erhöhung des Wertes führte zu einem höheren Bilanzgewinn und dies wiederum zu einer höheren Steuerpflicht. Die Beklagte zu 2 hat daher aufgrund bestandskräftiger Bescheide Gewerbesteuern i.H.v. 26.468,00 € sowie Körperschaftsteuer i.H.v. 24.873,38 €, insgesamt 51.341,38 € nachgezahlt.
31Die Steuerbescheide datieren vom 3.12.2013 (zugestellt am 4.12.2013) (Anlage B3) und 13.12.2013 (Zustellungsdatum unleserlich, 1x.12.2013) (Anlage B2). Die Bescheide sind mit Ablauf der einmonatigen Einspruchsfrist spätestens Ende Januar bestandskräftig geworden.
32Die Beklagte zu 1 begehrt vom Kläger aufgrund von § 11 Abs. 2 des Vertrags vom 28.11.2012 Erstattung des Betrags nachgezahlter Steuern.
33Die Beklagte zu 1 ist der Ansicht, der Anspruch sei aus § 11 Abs. 2 des Vertrags begründet. Sie hat insoweit erstinstanzlich beantragt, den Kläger zur Zahlung einer den Betrag von 51.341,38 € mit umfassenden Gesamtsumme an die Beklagten zu 2 zu verurteilen.
34Der Kläger hat insoweit beantragt, die Widerklage abzuweisen.
35Er ist der Ansicht, der Beklagten zu 2 seien infolge der bilanziellen Neubewertung der Versicherung jedenfalls nicht in derselben Höhe „Mehraufwendungen“ entstanden. Vielmehr habe diese nur zu einer Vorverlagerung der Belastung geführt, die durch Entlastungen in den Folgejahren wieder ausgeglichen worden sei und werde. Ein Schaden sei jedenfalls insoweit nicht entstanden, als die Beklagte zu 2 die zusätzlichen Steuerlasten in der Bilanz gegen einen Gewinnvortrag i.H.v. 39.289,81 € verrechnet habe, der nach § 5 des Vertrags dem Kläger zugestanden hätte (Bl. 694 f. mit Bl. 423 f. und Anlage K 47 Bl. 428). Im Übrigen sei ein Anspruch nach § 11 Abs. 2 des Vertrags aufgrund der auch insoweit anwendbaren Vorschriften von § 7 des Vertrags ausgeschlossen. Der Kläger hat die Einrede der Verjährung erhoben.
36Hilfsweise hat er mit einem Gegenanspruch auf Schadensersatz aufgerechnet, den er darauf stützt, dass die Beklagte zu 1 als Gesellschafterin der Beklagten zu 2 die Bilanz für das Geschäftsjahr 2012 unter Verletzung von § 5 des Vertrags beschlossen habe. Sie habe zum einen beschlossen, den Gewinn für das Geschäftsjahr 2012 auf neue Rechnung vorzutragen; im Einzelnen wird verwiesen auf Bl. 696 i.V.m. Bl. 321 ff. Zum anderen habe sie verschiedene Buchungen vertragswidrig vorgenommen; im Einzelnen wird verwiesen auf Bl. 529 ff.
37Das Landgericht hat, soweit für die Berufung von Bedeutung, dem Widerklageantrag auf Zahlung von 51.341,38 € nebst Zinsen stattgegeben. Der Anspruch sei aus § 11 Abs. 2 des Vertrags begründet. Diese Vereinbarung gehe den Bestimmungen von § 7 des Vertrags als spezieller vor. Die Einzelregelungen von § 7, insbesondere zum Haftungsmaßstab nach § 7.1, zur Schadensberechnung nach § 7.4 und zur Verjährung nach § 7.5, fänden auch nicht sinngemäß Anwendung.
38Zur Begründung seiner Berufung, mit der er die Abweisung der Widerklage in vollem Umfang anstrebt, wiederholt und vertieft der Kläger seinen erstinstanzlichen Vortrag.
39§ 11 Abs. 2 des Vertrags enthalte keine selbständige Anspruchsgrundlage, sondern lediglich eine klarstellende Regelung, die dem Zweck diene, den Haftungsausschluss wegen Kenntnis nach § 8.4 des Vertrags zu vermeiden. Anspruchsgrundlage sei § 7.3. Daher fänden systematisch auch auf diesen Fall die Haftungsbegrenzungen Anwendung, nämlich die Haftungsbeschränkung von § 7.1, § 7.4 über die Schadensberechnung sowie § 7.5 über die Verjährung. Zudem sei die Beklagte zu 2 bereits kompensiert, soweit sie den bilanziellen Nachteil infolge der Steuernachzahlung durch eine Buchung zulasten eines dem Kläger zustehenden Gewinnvortrags i.H.v. 39.289,81 vermieden habe. Hilfsweise erklärt der Kläger die Aufrechnung mit einer Gegenforderung und macht Zurückbehaltungsrechte nach § 273 BGB geltend. Im Einzelnen wird auf die Berufungsbegründung v. 13.12.2016 (Bl. 679 ff.) und den Schriftsatz vom 9. 4. 2017 (S. 32,ff., Bl. 806 ff.) verwiesen.
40Der Kläger beantragt,
41unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils des Landgerichts Essen vom 7.9.2016 (Az. 41 O 57/14) die Widerklage in vollem Umfang, d.h. auch insoweit abzuweisen, wie das Landgericht den Berufungskläger zur Zahlung von 51.341,38 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27. Juli 2016 an die Q GmbH verurteilt hat.
42Die Beklagte zu 1 beantragt,
43die Widerklage abzuweisen.
44Sie bezweifelt die Prozessfähigkeit des Klägers.
45Sie verteidigt das Urteil des Landgerichts.
46B.
47Der Berufung war stattzugeben, da das Landgericht den Kläger zu Unrecht zur Zahlung von 51.341,38 € verurteilt hat.
48I. Die Berufung ist zulässig.
49Zweifel an der Prozessfähigkeit des Klägers bestehen nicht. Für die Prozessfähigkeit verweisen §§ 50 Abs. 1, 51 ZPO auf die Vorschriften über die Geschäftsfähigkeit. Ebenso wie zu §§ 104 ff. BGB ist auch hier grundsätzlich von der Prozessfähigkeit einer natürlichen Person auszugehen. Nach der Lebenserfahrung sind Störungen der Geistestätigkeit Ausnahmeerscheinungen. Daher obliegt der Partei, die sich darauf beruft, die Beweislast; BGH, NJW 1996, 1059, 1060; vgl. auch BGH, NJW 1983, 997.
50Der Beklagte zu 1 stützt seine Zweifel auf zwei Erwägungen, die indes beide nicht durchgreifen. Erstens sieht er in den umfangreichen Erörterungen der Berufungsbegründung ein mögliches Anzeichen für kognitive Schwächen des Klägers. Indes ist die Begründung ausgesprochen luzide und stammt sie im Übrigen nicht vom Kläger, sondern von dessen Prozessbevollmächtigten. Zweitens habe der Kläger in einem anderen Verfahren auf seine bereits 2011 eingetretene Erkrankung und Arbeitsunfähigkeit hingewiesen. In diesem Rechtsstreit hat sich der Kläger darauf berufen, er sei aufgrund seiner Parkinson-Erkrankung nicht in der Lage gewesen, eine Tätigkeit als Geschäftsführer auszuüben. Das ist indes nicht gleichbedeutend mit einer Selbstentmündigung. Weder ist es sachlich richtig noch hat der Kläger geltend gemacht, diese Fähigkeit sei mit der Geschäfts- oder Prozessfähigkeit gleichzusetzen. Zudem war die Erkrankung des Klägers der Beklagten zu 1 schon beim Abschluss des Kaufvertrags 2012 bekannt (s. § 11 Abs. 2), ohne dass sie seither Zweifel an den rechtlichen Fähigkeiten des Klägers gehabt hätte. Der Kläger hat seine Erkrankung schon in der Klageschrift (Bl. 107) offengelegt. Er war zudem bei den Terminen zur mündlichen Verhandlung v. 18.3.2015 und 27.7.2016 persönlich anwesend (Bl 339, 586). Zweifel an seiner Prozessfähigkeit sind gleichwohl in keinem Verfahrensabschnitt aufgetreten und haben sich für den Senat auch nicht aus dem Verhalten des im Senatstermin anwesenden Klägers ergeben.
51II. Die Berufung ist auch begründet. Der Beklagte zu 1 hat entgegen dem landgerichtlichen Urteil keinen durchsetzbaren Anspruch auf Zahlung von 51.341,38 €.
52Der geltend gemachte Anspruch kann sich allein aus dem Anteilskaufvertrag vom 28.11.2012 ergeben.
531. Anspruchsgrundlage für den widerklagend geltend gemachten Anspruch des Beklagten könnte § 11 Abs. 2 oder § 7.3 des Vertrags sein. Beide Ansichten sind vertretbar; auch die Beklagten sind zunächst von § 7.3 als Anspruchsgrundlage ausgegangen (Bl. 172, 216, 217). Welche Norm tragend ist, ist im Wege der Auslegung zu ermitteln.
54Argumenten aus Wortlaut und äußerer Systematik kann im Hinblick auf § 11 nur geringes Gewicht beigemessen werden. Die Vorschrift von § 11 stellt im Gesamtgefüge des Vertrags eine Anomalie dar. Gliederung und Diktion weichen vom Vertrag im Übrigen ab. Die Regelung erweckt den Eindruck, nachträglich eingefügt zu sein. Sie ist nur wenig und sachlich nicht einleuchtend gegliedert. Gerade Absatz 2 regelt sachlich ganz disparate Gegenstände (Diskrepanz von Pensionszusage und Versicherung einerseits und Bilanzierungsfragen andererseits). Die Vorschrift enthält außerdem zunächst die Beschreibung der Bilanzierungsfrage und einen Hinweis auf die Einschätzungen und Motivationen der Parteien, mithin keine vertraglichen Regelungen, sondern Tatsachen- und Meinungsäußerungen der Parteien.
55Ungeachtet dessen sprechen Wortlaut und Systematik dafür, in § 11 Abs. 2 eine eigene Anspruchsgrundlage zu sehen und nicht nur eine Verweisung auf § 7.3. Der Wortlaut trägt diese Annahme, da der Kläger danach „die Haftung übernimmt“. Ein deklaratorischer Hinweis auf die bereits weiter oben in § 7.3 des Vertrags vereinbarte Haftung wäre insoweit unnötig. Die Stellung der Regelung im äußeren System des Vertrags nach den vertraglichen Haftungsvorschriften der §§ 6-8 spricht ebenfalls dafür. Die Erwägung des Klägers, in den Fällen von § 11 Abs. 2 sei auch schon § 7.3 erfüllt (Bl. 683 f.) begründen demgegenüber nichts Anderes; denn das ist bei einer Spezialregelung definitionsgemäß der Fall.
56Die Erwägung des Klägers, § 11 Abs. 2 diene allein dem Zweck, den Haftungsausschluss wegen Kenntnis gem. § 8.4 zu vermeiden, spricht nicht dagegen, in § 11 Abs. 2 eine eigene Anspruchsgrundlage zu sehen. Hätte die Vorschrift allein diesen Zweck, so hätten die Parteien sich auf eine dementsprechende Anordnung beschränken können. Dazu wäre ein Ausschluss von § 8.4. in Betracht gekommen. § 11 Abs. 2 ist zudem, wie bereits gezeigt, nicht etwa bloß deklaratorisch formuliert.
57Die besseren Gründe sprechen daher dafür, in § 11 Abs. 2 eine eigene vertragliche Anspruchsgrundlage für eine Schadensersatzhaftung zu sehen. Damit ist allerdings nicht schon gesagt, dass die allgemeinen Haftungsregeln der §§ 6-8 des Vertrags pauschal keine Anwendung fänden. Ob und inwieweit sie auf den Anspruch aus § 11 Abs. 2 anwendbar sind, ist mit Rücksicht vor allem auf die Zwecksetzung der Parteien für die einzelnen Regeln je gesondert zu bestimmen.
582. Ob die Voraussetzungen des Anspruchs erfüllt sind, kann dahinstehen. Jedenfalls wäre der Anspruch nicht durchsetzbar, da er nach § 7.5 des Vertrags verjährt ist und der Kläger sich auf die Verjährung berufen hat.
59a) Die Vorschrift sieht für Ersatzansprüche des Erwerbers (Beklagte zu 1) gemäß § 7.2 und § 7.3 eine Verjährungsfrist von sechs Monaten nach materieller Bestands- oder Rechtskraft des jeweiligen Bescheides, frühestens jedoch sechs Monate nach Zustellung des bestands- bzw. rechtskräftigen Bescheides an den Erwerber oder die Gesellschaft (Beklagte zu 2) vor. In § 11 Abs. 2 ist die Verjährung nicht gesondert geregelt.
60Die äußere Systematik des Vertrags und die Formulierung von § 7.5 sprechen allerdings gegen die Anwendung der Regelung auf den Anspruch aus § 11 Abs. 2. Beiden Kriterien kommt indes, wie bereits ausgeführt, ein verhältnismäßig geringes Gewicht zu. Entscheidend müssen die Zwecke der Vorschrift sein.
61Die Verjährungsregel des § 7.5 dient dazu, der Abwicklung des Vertrags zeitliche Grenzen zu setzen, Rechtssicherheit für die Parteien zu schaffen und nach formalen Kriterien Rechtsfrieden zu sichern. Dabei werden die Interessen der Parteien durch eine differenzierte Regelung ausgeglichen (vgl. die getrennte und spezifische Verjährungsvereinbarung in § 6.3: zwei Jahre nach Beurkundungsstichtag). Einerseits ist die Verjährungsfrist mit sechs Monaten ausgesprochen kurz. Andererseits knüpft der Verjährungsbeginn nicht an ein fixes Datum an, sondern an ein unbestimmtes, für den Erwerber wahrnehmbares und ihn „alarmierendes“ Ereignis.
62Die Zwecke der Verjährungsregelung sprechen dafür, sie über den Wortlaut hinaus auch auf die Haftung aus § 11 Abs. 2 anzuwenden. Strukturell geht es dabei um einen Fall von § 7.3, so dass die Interessenlage der Parteien im Ausgangspunkt völlig gleich ist wie bei jenen Ansprüchen. Die Besonderheit von § 11 Abs. 2, dass damit ein erhöhtes und konkret benanntes Risiko dem Kläger zugewiesen werden sollte, spielt im Hinblick auf die Verjährung keine Rolle. Die Risikoerhöhung spricht nicht gegen eine zeitnahe Geltendmachung von Ersatzansprüchen. Im Gegenteil ist in diesem Fall von der Erwerberin (Beklagter zu 1) ein rasches Handeln zu erwarten, da sie mit dem Eintritt eines Haftungsfalls in besonderem Maße gerechnet hat und durch einen neuen Steuerbescheid spezifisch an die Geltendmachung erinnert wird.
63Umgekehrt würde der Zweck von § 7.5 weitgehend vereitelt, wenn die Regelung auf den Fall von § 11 Abs. 2 keine Anwendung fände. Der Veräußerer (Kläger) müsste für erheblich viel längere Zeit mit nachlaufenden Ersatzansprüchen rechnen.
64Zur Kontrolle kann man die Testfrage der „ergänzenden Vertragsauslegung“ aufwerfen, die die vorstehende Beurteilung stützt. Insoweit kann man davon ausgehen, dass sich die Parteien als redliche Vertragspartner auf die Anwendbarkeit der Verjährung von § 7.5 geeinigt hätten. Denn bei der Länge der Verjährungsfrist steht nicht das spezifische Risiko der Bilanzierung im Vordergrund, sondern die eigene Rechtsverfolgung durch die Beklagte zu 1. Auch die kurze Frist von sechs Monaten ließ ihr dafür ausreichend Raum, da sie erst mit Bestandskraft/Rechtskraft des Steuerbescheids zu laufen beginnt. Zudem war die Beklagte zu 1, wie § 11 Abs. 2 ausweist, bereits darauf gefasst, dass hier noch Steuernachforderungen kommen könnten.
65Der Zweck der Regelung spricht daher entscheidend dafür, die Verjährungsregelung auch auf Ansprüche aus § 11 Abs. 2 anzuwenden.
66b) Die Verjährungsfrist ist abgelaufen. Da die Steuerbescheide spätestens Ende Januar 2014 bestandskräftig wurden, lief die Verjährungsfrist spätestens Ende Juli 2014 ab. Die Beklagte hat den Anspruch aus § 11 Abs. 2 indes erst mit der Widerklage vom 10.11.2014 gerichtlich geltend gemacht, so dass die Hemmung der Verjährungsfrist nach § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB nicht mehr eintreten konnte.
67III. Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 708 Nr. 10, 711 ZPO.
68Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen.