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Ein Ursachenzusammenhang zwischen einer chiropraktischen Manipulation der Halswirbelkörper C3-C5 und einer Phrenicus-Parese (Zwerchfelllähmung) ist gänzlich unwahrscheinlich. Bei der Annahme einer Beweislastumkehr zu Gunsten der Patientin kann der Arzt den Nachweis führen, dass ein Ursachenzusammenhang gänzlich unwahrscheinlich ist. Gänzlich unwahrscheinlich kann anzunehmen sein, wenn der Ursachenzusammenhang mit deutlich unter 1 % zu bewerten ist.
Die Berufung der Klägerin gegen das am 12. Mai 2015 verkündete Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Arnsberg wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das angefochtene Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Vollstreckung durch die Beklagte gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
2I.
3Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen einer vermeintlich fehlerhaften chiropraktischen Behandlung im vertragsärztlichen Notfalldienst vom 26.12.2012 auf Schmerzensgeld (mindestens 50.000,00 €) und Feststellung zukünftiger Schadensersatzpflicht in Anspruch.
4Die am xx.xx.1958 geborene Klägerin suchte am 26.12.2012 wegen Nackenschmerzen den vertragsärztlichen Notfalldienst im St. G-Hospital X auf. Diensthabende Ärztin war die Beklagte. Der konkrete Behandlungsablauf steht zwischen den Parteien im Streit.
5Die Klägerin hat der Beklagten vorgeworfen, durch eine chiropraktische Manipulation der Halswirbelkörper C3-C5 einen Zwerchfellhochstand mit beidseitiger Zwerchfelllähmung und eine Schädigung bzw. Lähmung des nervus phrenicus (Phrenicus-Parese) mit der Folge erheblicher Atemnot hervorgerufen zu haben. Sie habe ihr hierbei drei kurze, ruckartige und heftige Stöße gegen den Kopf versetzt, wobei es zu einer Überdehnung der Halswirbelsäule (HWS) gekommen sei. Anschließend habe die Beklagte ihr von hinten um den Brustkorb gefasst und diesen zusammengedrückt, wobei ihre Arme verschränkt vor dem Brustkorb positioniert gewesen seien. Vor der Behandlung sei sie nicht darüber aufgeklärt worden, dass eine chiropraktische Behandlung erfolgen solle. Alternativen seien ihr nicht dargelegt worden. Der Zustand ihrer HWS hätte vor der Behandlung auf etwaige Vorschäden, z.B. durch vorheriges Röntgen, ein CT oder MRT abgeklärt werden müssen.
6Die Beklagte hat behauptet, bei der Klägerin einen Nackenhartspann festgestellt zu haben. Sie habe sodann eine sanfte Mobilisations-Maßnahme ausgeführt, womit die Klägerin einverstanden gewesen sei. Dabei habe sie im Bereich des C5 bei Einatmung der Klägerin den Dornfortsatz in die bewegungseingeschränkte Richtung geschoben. Eine ruckartige Manipulation habe nicht stattgefunden. Eine weitergehende Röntgendiagnostik sei bei sanfter Mobilisation nicht erforderlich gewesen. Vor dem Hintergrund der erheblichen Vorerkrankungen seien weitere Einschränkungen aus der Behandlung nicht nachvollziehbar.
7Das Landgericht hat die Klage gestützt auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. O2 abgewiesen. Nach der Beweisaufnahme stehe zwar ein einfacher Befunderhebungsfehler im Vorfeld der chiropraktischen Behandlung vom 26.12.2012 und desweiteren ein einfacher Behandlungsfehler durch die chiropraktische Behandlung selbst fest; die Klägerin habe aber nicht beweisen können, dass diese Behandlung eine Schädigung ihres Phrenicusnerves mit der Folge eines Zwerchfellhochstands und der bei ihr aufgetretenen Atemnot hervorgerufen habe. Die Beklagte habe vor der chiropraktischen Behandlung wichtige differenzialdiagnostische Schritte behandlungsfehlerhaft unterlassen. Sie hätte sowohl weitergehende neurologische Untersuchungen als auch eine röntgenologische Untersuchung der HWS durchführen müssen. Eine (sub-)akute Nackenschmerzenbehandlung verlange eine Anamnese und Befunderhebung einschließlich orthopädischer und neurologischer Untersuchung und deren Dokumentation. Um die bestehenden Behandlungsalternativen (Medikamentengabe, Wärmebehandlung) patienten- und sachgerecht gegeneinander abwägen zu können hätte die Beklagte die Klägerin zunächst gründlich untersuchen und die vorliegenden Funktionsdefizite feststellen und festhalten müssen. Wegen der vorbestehenden rheumatoiden Arthritis hätte vor der Mobilisationsbehandlung in einem zweiten Schritt in jedem Fall ein Röntgenbild der HWS angefertigt werden müssen. In diesem Zusammenhang wäre das bei der Klägerin bestehende chronische Schmerzsyndrom aufgefallen, welches eine andere Behandlungsstrategie nach sich gezogen hätte. Auch sei insoweit die erforderliche Befunderhebung unterblieben. Darüber hinaus sei die anschließende Durchführung der chiropraktischen Anwendung vor dem Hintergrund der nicht ausreichenden Befunderhebung im Vorfeld behandlungsfehlerhaft gewesen. Hinsichtlich der Einzelheiten der durchgeführten chiropraktischen Behandlung nach Arlen sowie der traktorischen Mobilisation der Brustwirbelsäule sei zunächst nach Anhörung der Parteien der überzeugenden Darstellung der Beklagten zu folgen. Die Beklagte habe diese Behandlung zwar kunstgerecht durchgeführt, sie hätte die Klägerin aber durch Wärme und Schmerzmedikamentengabe behandeln müssen. Die Anwendung der chiropraktischen Behandlung stelle aber keinen groben Behandlungsfehler dar. Die Klägerin habe jedoch den Beweis dafür, dass die chiropraktische Behandlung ursächlich für den Zwerchfellhochstand und die Atemnot sei, nicht erbracht. Röntgenologisch habe sich ein Zwerchfellhochstand mit Verminderung des Lungenvolumens gezeigt. Diese Befunde seien mit der Verdachtsdiagnose einer Zwerchfelllähmung vereinbar. Eine vollständige Zwerchfelllähmung liege nicht vor, dieses sei lediglich vermindert beweglich. Weiter bestehe eine chronifizierte Schmerzerkrankung. Hinzu kämen deutliche psychosoziale Anteile, insbesondere durch eine Depression. Die bei der Klägerin vorliegende Atemnot sei daher als multifaktorelles Geschehen zu bewerten, wobei die Zwerchfelldysfunktion nur einer von 5 Faktoren sei. Daneben seien eine systematische obstruktive Lungenfunktionsstörung, Mikroaspirationen, eine restriktive Lungenfunktionsstörung durch die bestehende Adipositas sowie psychosoziale Einflussfaktoren einzubeziehen. Schädigungen des nervus Phrenicus könnten zwar eine Lähmung des Zwerchfelles verursachen und Nervenschädigungen könnten ihrerseits unter anderem durch chiropraktischen Manipulation hervorgerufen werden. Bei Behandlungen im Bereich der HWS seien derartige Nervenschädigungen jedoch extrem selten und stellten keine behandlungstypische Komplikation dar. Gegen eine Ursächlichkeit der streitgegenständlichen Behandlung für eine Nervschädigung spreche ferner das Vorliegen einer kompletten beidseitigen Parese. Denn eine beidseitige Schädigung des Phrenicusnervs durch eine chiropraktische Manipulation im Bereich der HWS sei ausgeschlossen. Die Behandlung erfolge nur einseitig, wodurch ein zweiseitiger Schaden nicht hervorgerufen werden könne. Bei einem isoliert hervorgerufenen Nervenschaden müssten zudem weitere Ausfallerscheinungen, insbesondere in den peripheren Muskeln auftreten, was bei der Klägerin nicht der Fall sei. Die streitentscheidende Frage, ob überhaupt ein Nervenschaden vorliege und die chiropraktische Maßnahme hierfür ursächlich gewesen sei, ließe sich auch durch ein spezielles neurographisches Gutachten nicht klären.
8Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, die ihr erstinstanzliches Begehren vollumfänglich weiterverfolgt. Das Landgericht habe zu Unrecht die der Beklagten vorzuwerfenden Fehler in der Befunderhebung und Behandlungsfehler als lediglich einfache Fehler angesehen. Der Sachverständige habe in seinem schriftlichen Gutachten einen Verstoß gegen elementare medizinische Erkenntnisse angenommen. Die von diesem aufgeführten Kritikpunkte gehörten zum medizinischen Basiswissen und seien von einem Examenskandidaten zu erwarten. Die Klägerin leide unter einer rheumatoiden Arthritis, einer chronischen Schmerzerkrankung und Depressionen. Hätte die Beklagte die gebotene Anamnese und Befunderhebung durchgeführt, hätte sie diese Vorerkrankungen erkannt. Insbesondere bei vorheriger Befundung der rheumatoiden Arthritis wäre eine bildgebende Diagnostik vor Behandlungsbeginn indiziert gewesen. Es wäre insbesondere das chronische Schmerzsyndrom aufgefallen, welches eine andere Behandlungsstrategie in Form von Wärme und Schmerzmittelgabe nach sich gezogen hätte. Die Beklagte habe grob fehlerhaft eine falsche Behandlungsstrategie gewählt. Folglich hätte das Landgericht von einer Beweislastumkehr zu Gunsten der Klägerin ausgehen müssen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme könne eine Ursächlichkeit bzw. zumindest eine Mitursächlichkeit der streitgegenständlichen Behandlung für die eingetretenen Gesundheitsschäden nicht ausgeschlossen werden. Aber auch wenn man nicht von einer Beweislastumkehr ausgehe, sei zumindest von einer Mitursächlichkeit der stattgefundenen Behandlung für die seit diesem Tag bestehende Atemnot auszugehen. Insoweit hätte es einer weitergehenden Beweiserhebung bedurft. Soweit der Sachverständige die Diagnose einer Phrenicus-Parese aus klinischer Sicht und anhand der Vorbefunde als plausibel bezeichnet habe, sei zur Bestätigung bzw. zum Ausschluss die Durchführung einer neurographischen Untersuchung notwendig.
9Die Klägerin beantragt,
10das Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 12.05.2015, Az. 5 O 10/14, abzuändern und
111. die Beklagte zu verurteilen, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.10.2013 zu zahlen;
122. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr etwaige Zukunftsschäden materieller und immaterieller Art aus der chiropraktischen Behandlung der Halswirbelkörper C3 bis C 5 am 26.12.2012 zu ersetzen und
133. die Beklagte zu verurteilen, sie von der Vergütungsrechnung der Rechtsanwälte T und Kollegen vom 01.07.2013, Rechnungsnummer xxx/13, über 1.641,96 € freizustellen.
14Die Beklagte beantragt,
15die Berufung zurückzuweisen.
16Die Beklagte verweist auf die massiven Vorerkrankungen der Klägerin (chronisches Schmerzsyndrom, rheumatoide Arthritis, langjährige Depression, asthmabedingte obstruktive Lungenfunktionsstörung), welche diese vor der Behandlung nicht mitgeteilt habe. Es sei nach wie vor nicht plausibel, warum von einem Behandlungsfehler ausgegangen werden solle. Die Klägerin sei einmalig in der Notfallsprechstunde am 2. Weihnachtsfeiertag vorstellig geworden und dort mit einer absolut nebenwirkungsarmen, erfolgversprechenden und schonenden Mobilisationsbehandlung therapiert worden. Der notdienstleistende Arzt schulde nur eine vorläufige Versorgung typischer Notfallsituation, um schwere Gesundheitsschäden zu vermeiden. Zu verlangen, in einer Notfallsitzung zuvor weitergehende neurologische Untersuchungen durchzuführen sei nicht nur lebensfremd, sondern werde auch vom ärztlichen Standard nicht verlangt. Die Vorerkrankungen, auf die der Sachverständige abstelle, seien gerade nicht bekannt gemacht worden. Keinesfalls seien die behaupteten Fehler als grob einzustufen. Der Sachverständige habe erläutert, dass eine Bildgebung hier nicht erforderlich gewesen sei. Auf mehrfachen Vorhalt habe er sich sodann festgelegt, dass der von ihm festgestellte Fehler wegen des aus der sanften Mobilisationsbehandlung resultierenden nur geringfügigen Risikos nicht als grob eingestuft werden könne. Selbst wenn von einem fehlerhaften Verhalten auszugehen sei, sei der Klägerin der Kausalitätsnachweis nicht gelungen. Diese habe bis heute weder bewiesen, dass eine Nervschädigung vorliege, noch dass eine solche durch die sanfte Mobilisationsbehandlung hervorgerufen worden sei. Es sei überdies selbst bei Vorliegen einer Nervschädigung unwahrscheinlich, dass der Zwerchfellhochstand und die Atemnot darauf zurückzuführen seien. Es könne daher weder eine Ursächlichkeit noch eine Mitursächlichkeit festgestellt werden. Im Übrigen hätte sich bei Durchführung einer weitergehenden Diagnostik an der Komplikation nichts geändert, da eine weitergehende Befunderhebung im Vorfeld unauffällig geblieben wäre. Es wäre kein Befund erhoben worden, welcher der Durchführung der stattgehabten Mobilisationsbehandlung entgegengestanden hätte.
17Der Senat hat die Klägerin und die Beklagte persönlich angehört. Ferner hat der Sachverständige Dr. O sein Gutachten mündlich erläutert und ergänzt. Wegen der weiteren Einzelheiten der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 15.03.2016 nebst Berichterstattervermerk verwiesen.
18Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes, insbesondere des genauen Wortlautes der erstinstanzlich gestellten Anträge, wird auf die angefochtene Entscheidung und die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
19II.
20Die Berufung der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet.
21Zu Recht hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche auf Schmerzensgeldzahlung und Feststellung zukünftiger Ersatzpflicht stehen ihr nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu. Es kommen weder vertragliche Ansprüche aus dem Behandlungsvertrag gemäß §§ 611, 280 Abs. 1, 249, 253 Abs. 2 BGB noch deliktische Ansprüche gemäß §§ 823 Abs. 1, 249, 253 Abs. 2 BGB gegenüber der Beklagten in Betracht.
22Der Senat stützt sich dabei aus den nachfolgenden Gründen auf die erstinstanzliche Begutachtung durch den gerichtlichen Sachverständigen Dr. O sowie dessen umfassenden Ausführungen bei seiner Anhörung vor dem Senat. Der Sachverständige hat sich bereits erstinstanzlich dezidiert mit den vorhandenen Krankenunterlagen und dem zu begutachtenden Sachverhalt auseinandergesetzt. Er hat auch im Rahmen seiner Anhörung durch den Senat seine Feststellungen und fachlichen Beurteilungen unter Berücksichtigung sämtlicher Befunde und der einschlägigen Literatur überzeugend vertreten.
23Nach der ergänzenden Beweisaufnahme hat sich bestätigt, dass der Beklagten ein Befunderhebungsfehler bei der Behandlung der Klägerin vom 26.12.2012 zur Last zu legen ist. Eine Haftung der Beklagten kommt gleichwohl nicht in Betracht, da dieser der Nachweis gelungen ist, dass aufgrund konkreter Umstände der kausal auf die Behandlung zurückzuführende Eintritt des Primärschadens (Verletzung des Nervus Phrenicus) gänzlich unwahrscheinlich ist.
241.
25Dabei sind zunächst Art und Umfang der von der Beklagten im Rahmen des vertragsärztlichen Notfalldienstes bei der Klägerin am 26.12.2012 durchgeführten chiropraktischen Behandlungsmaßnahmen im Berufungsverfahren nicht mehr streitig.
26Soweit das Landgericht nach Anhörung beider Parteien den Angaben der Beklagten gefolgt ist, wonach eine chiropraktische Behandlung in Form einer Atlastherapie nach Arlen im Bereich des 5. Halswirbels sowie im Anschluss eine traktorische Mobilisation der Brustwirbelsäule durchgeführt worden ist, werden die entsprechenden Feststellungen von keiner Partei in Zweifel gezogen. Diese mit lediglich geringfügigen Risiken verbundene Behandlung ist von der Beklagten nach Angabe des Sachverständigen auch kunstgerecht durchgeführt worden.
272.
28Das Landgericht hat aber zutreffend einen Befunderhebungsfehler darin gesehen, dass die Beklagte vor der von ihr durchgeführten chiropraktischen Behandlungsmaßnahme wichtige differentialdiagnostische Untersuchungen unterlassen hat.
29a) Ausweislich der Dokumentation ist keine hinreichende Differentialdiagnostik erfolgt. Es ist weder eine klinische Untersuchung dokumentiert noch sind anamnestische Daten erfasst worden.
30Der Sachverständige hat hierzu ausgeführt, dass vor der Vornahme einer Chiropraktik gesicherte Befunde vorliegen müssen. Die reine Erhebung eines Funktionsbefundes (Blockierung) sei nicht ausreichend. Eine (sub-)akute Nackenschmerzenbehandlung verlange eine Anamnese und Befunderhebung einschließlich orthopädischer und neurologischer Untersuchung und deren Dokumentation. Um die bestehenden Behandlungsalternativen (Medikamentengabe, Wärmebehandlung) patienten- und sachgerecht gegeneinander abwägen zu können hätte die Beklagte die Klägerin zunächst gründlich untersuchen und die vorliegenden Funktionsdefizite feststellen und festhalten müssen.
31Ein Befunderhebungsfehler liegt danach bereits darin, dass die Beklagte eine chiropraktische Maßnahme vorgenommen hat, ohne dass ihr zuvor überhaupt das Ausmaß der bei der Klägerin bestehenden Funktionsdefizite bewusst gewesen ist. Es war aus medizinischer Sicht erforderlich, sich nach einschlägigen Vorerkrankungen zu erkundigen. Durch korrekte Diagnostik wären die rheumatoide Arthritis, das chronische Schmerzsyndrom und ggf. auch die Depression aufgefallen.
32Wegen der vorbestehenden rheumatoiden Arthritis hätte vor der Behandlung in einem zweiten Schritt ein Röntgenbild der HWS angefertigt werden müssen, soweit sich neurologische Auffälligkeiten gezeigt hätten. Grundsätzlich ist eine Bildgebung für die Diagnostik von akuten Nackenschmerzen nach Angabe des Sachverständigen nicht erforderlich und wird vor Mobilisationsmaßnahmen nicht gefordert. Da die vorbestehende rheumatoide Arthritis jedoch zur Instabilität im Kopfbereich führen kann, wäre vor der Behandlung ein ggf. Röntgenbild der HWS indiziert gewesen. In diesem Zusammenhang wäre dann auch das bei der Klägerin bestehende chronische Schmerzsyndrom aufgefallen.
33Ohne Erfolg verweist die Beklagte auch im Berufungsverfahren weiterhin auf die lediglich vorläufige Versorgung im Rahmen einer typischen Notfallsituation. Soweit sie in diesem Zusammenhang eine Erhebung weitreichender Befunde und entsprechende Dokumentation nicht für erforderlich hält, hat der Sachverständige im Senatstermin nochmals klargestellt, dass die Anforderungen auch im Rahmen des vertragsärztlichen Notdienstes gelten und die nur 5 bis 10 Minuten in Anspruch nehmenden diagnostischen Untersuchungen tatsächlich an diesem Tag zwingend erforderlich waren. Auch in einer Notfallsituation sind ausgehend von dem Grundsatz „keine Behandlung ohne Diagnose“ danach zumindest eine klinische Untersuchung und eine Anamnese erforderlich.
34Die Beklagte vermag auch nicht mit ihrer im Senatstermin aufgestellten Behauptung durchzudringen, vor der Behandlung den 5. Wirbel und den Halsbereich untersucht zu haben. Der Sachverständige hat bereits erstinstanzlich dargelegt, dass die reine Erhebung eines Funktionsbefundes nicht ausreichend ist. Wenn die Beklagte bei einer ordnungsgemäßen Anamnese von der rheumatoiden Arthritis erfahren hätte, wäre die Behandlung nach Arlen wegen möglicher Instabilität ohne weitergehende Abklärung kontraindiziert gewesen. Wäre das chronische Schmerzsyndrom und die Depression anamnestisch erhoben worden, hätte man nach Angabe des Sachverständigen ebenso eine andere Behandlungsstrategie wählen müssen.
35Entgegen der Auffassung des Landgerichts liegt in der Durchführung der chiropraktischen Maßnahme vor dem Hintergrund der nicht ausreichenden Befunderhebung aber kein eigenständiger weiterer Behandlungsfehler. Soweit die Beklagte eine chiropraktische Behandlung ohne ausreichende Anamnese durchgeführt hat, stellt sich eine etwaige Kontraindikation allein als Folge des vorwerfbaren Befunderhebungsfehlers dar.
36b) Das Landgericht hat in der unterlassenen Differentialdiagnostik und unterbliebenen Bildgebung lediglich einen einfachen Befunderhebungsfehler gesehen. Nach der durchgeführten ergänzenden Beweisaufnahme liegt aber selbst die Annahme eines groben Befunderhebungsfehlers nahe.
37Bei der Einstufung eines ärztlichen Fehlverhaltens als grob handelt es sich um eine juristische Wertung, die dem Tatrichter obliegt, wobei diese wertende Entscheidung jedoch in vollem Umfang durch die vom medizinischen Sachverständigen mitgeteilten Fakten getragen werden und sich auf die medizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen stützen können muss. Ein Behandlungsfehler ist nur dann als grob zu bewerten, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (st. Rspr. vgl. BGH Urt. v. 17.11.2015 – VI ZR 476/14, VersR 2016, 260; BGH Urt. v. 24.02.2015 – VI ZR 106/13, VersR 2015, 712; BGH Urt. v. 04.10.1994 – VI ZR 205/93, VersR 1995, 46; BGH Urt. v. 03.07.2001 – VI ZR 418/99, VersR 2001, 1116).
38Der Sachverständige hat in seinem schriftlichen Gutachten die unzureichende Anamnese und somit unterbliebene Einleitung differentialdiagnostischer Schritte (neurologische Untersuchung, Röntgen HWS) vor der manualmedizinischen Behandlung sowie das Fehlen eines dokumentierten Untersuchungsbefundes als „Verstoß gegen elementare medizinische Erkenntnisse“ eingestuft und ausgeführt, dass die ausgeführten Kritikpunkte zum Basiswissen eines Examenskandidaten gehören (vgl. Gutachten S. 18, Bl. 100 d.A.). Gleichwohl hat er sodann im Rahmen der Erläuterung seines Gutachtens vor dem Landgericht aber nur einen einfachen Fehler angenommen. Vor dem Hintergrund, dass das aus der konkreten Behandlung resultierende Risiko relativ gering gewesen ist, hat er es als noch verständlich eingestuft, dass aufgrund der festgestellten Blockierung von der Beklagten eine Chiropraktik angewendet worden ist, ohne vorher eine weitergehende neurologische Untersuchung oder eine Bildgebung zu veranlassen.
39Im Rahmen seiner ergänzenden Ausführungen vor dem Senat hat der Sachverständige erneut bestätigt, dass eine kurze neurologische Untersuchung bei einem unbekannten Patienten erforderlich ist sowie, dass der Befund dokumentiert werden muss. Er hat ausgeführt, dass dies zum Examenswissen gehört und dass ein Kandidat, der sich in der Prüfung so wie die Beklagte verhalten hätte, möglicherweise durchgefallen wäre. Vor diesem Hintergrund spricht bei Herausstellung der besonderen Bedeutung einer ordnungsgemäßen Diagnostik und Befundung trotz des geringen Risikopotentials der angewendeten Chiropraktik viel für die Annahme eines groben Befunderhebungsfehlers.
40Letztlich kann die genaue Abgrenzung aber ebenso offenbleiben, wie die Klärung der Frage, ob bei Annahme eines einfachen Befunderhebungsfehlers – angesichts des nach Angabe des Sachverständigen höchstwahrscheinlich unauffälligen Röntgenbildes der HWS der Klägerin – eine umfassende Befunderhebung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu einem reaktionspflichtigen Befund geführt hätte und sich das Verhalten der Beklagten auf der Basis dieses Ergebnisses als grob fehlerhaft dargestellt hätte.
413.
42Selbst wenn man zugunsten der Klägerin im Streitfall von einer Beweislastumkehr ausginge, so hat die Beklagte den ihr obliegenden Nachweis geführt, dass eine Schädigung des Nervus Phrenicus durch die streitgegenständliche chiropraktische Behandlung gänzlich unwahrscheinlich ist.
43Es kann nahezu ausgeschlossen werden, dass die chiropraktische Behandlung bei der Klägerin zu einer Nervverletzung geführt hat, die wiederum ursächlich für den bei ihr bestehenden Zwerchfellhochstand und die festgestellte Atemnot ist.
44a) Dabei fehlt bislang jeglicher Nachweis einer Primärschädigung in Form einer Schädigung des Nervus Phrenicus.
45Es ist bereits nicht sicher, ob bei der Klägerin überhaupt ein Nervschaden vorliegt. Um die behauptete Nervschädigung zu sichern oder auszuschließen, bedarf es nach Angabe des Sachverständigen einer - umfassenden - neurographischen Untersuchung in einer hochspezialisierten Abteilung. Über eine solche Untersuchung könne man herausbekommen, wo eine etwaige Schädigung des Nervs sitzt, insbesondere ob sie an der Nervenwurzel im Bereich der HWS sitzt. Lässt sich eine derartige Nervschädigung nachweisen, erhöht sich nach Angabe des Sachverständigen die Wahrscheinlichkeit, dass der dann nachgewiesene Nervschaden für die bei der Klägerin bestehende Dysfunktion des Zwerchfells zuständig ist. Hierdurch lässt sich aber gerade nicht die maßgebliche Streitfrage klären, ob die manualmedizinische Maßnahme auch die Ursache dieser Nervschädigung gewesen ist.
46Das Landgericht hat danach in zutreffender Weise von der Einholung des speziellen neurographischen Gutachtens abgesehen, weil sich die streitentscheidende Frage, ob die chiropraktische Maßnahme überhaupt ursächlich für einen etwaigen Nervenschaden gewesen ist, hierdurch nicht klären lässt.
47b) Es ist nach der durchgeführten Beweisaufnahme vielmehr als vollkommen unwahrscheinlich anzusehen, dass eine etwaige Nervschädigung durch die chiropraktische Behandlung der Klägerin hervorgerufen worden ist.
48Dabei kommt die vorgenommene Mobilisation im Bereich des Thorax als Ursache für eine Verletzung des Nervus Phrenicus und eine Phrenicusparese nicht in Betracht. Hierfür wäre ein starkes Trauma erforderlich, welches durch die Behandlungsmaßnahme nicht hervorgerufen worden ist.
49Eine Verletzung des Nervus Phrenicus durch die chiropraktische Maßnahme im Bereich C5 ist nach Angabe des Sachverständigen auch allenfalls theoretisch möglich. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten ausführlich dargelegt, dass bislang in der gesamten weltweiten Literatur überhaupt nur 8 ähnliche Fälle beschrieben sind, in denen es bei einer vergleichbaren Behandlung im Bereich der HWS zu einer Schädigung des Phrenicusnervs gekommen ist, weshalb diese – anders als Gefäßschäden – gerade keine typische Komplikation von chiropraktischen Behandlungen im Bereich der HWS darstellt. Dabei wird in der Literatur insoweit lediglich beschrieben, dass nach Manipulationen der Halswirbelsäule eine Schädigung der Nervwurzel aufgetreten ist, was dann auf die Behandlung zurückgeführt worden ist. Ein echter Ursachenzusammenhang ist aber auch in diesen Einzelfällen nach den Ausführungen des Sachverständigen letztlich ungeklärt geblieben.
50Vor diesem Hintergrund hat der Sachverständige einen Ursachenzusammenhang als eine „absolute medizinische Rarität“ bezeichnet. Bis zur Erstellung seines Gutachtens hat er nach seinen Angaben noch nie von einem Zusammenhang gehört und ist überhaupt erst durch weitere Recherchen auf die weltweit dokumentierten 7 oder 8 Fälle gestoßen. Die Sache hat auch bislang keinerlei Niederschlag in einschlägigen Lehrbüchern und Fachzeitschriften gefunden. Dementsprechend hat er die Wahrscheinlichkeit für einen ursächlichen Zusammenhang mit deutlich unter
511 % bewertet und dargelegt, dass sie tatsächlich sogar nur im Promillebereich liegt. Zieht man die Vielzahl von Behandlungen und die höchst geringfügige Anzahl der weltweit dokumentierten Nerv-Schädigungen in Betracht, ist es auch nach Auffassung des Senats überzeugend, dass man von einer absoluten Rarität sprechen muss.
52Dabei ist der Sachverständige selbst bei Berücksichtigung einer gewissen Dunkelziffer dabei verblieben, dass die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs nur im Promillebereich liegt.
53c) Es lässt sich auch aus den gesicherten Sekundärbeeinträchtigungen der Klägerin gerade kein Rückschluss auf eine Verursachung durch eine etwaige Schädigung des Phrenicusnervs ziehen.
54Röntgenologisch hat sich bei der Klägerin ein Zwerchfellhochstand mit Verminderung des Lungenvolumens gezeigt. Diese Befunde sind nach Angabe des Sachverständigen mit der Verdachtsdiagnose einer Zwerchfelllähmung vereinbar.
55Eine vollständige Zwerchfelllähmung liegt nach den Untersuchungsbefunden nicht vor, dieses ist lediglich vermindert beweglich. Schädigungen des Nervus Phrenicus können zwar nach den Ausführungen des Sachverständigen eine Lähmung des Zwerchfelles verursachen und Nervenschädigungen können - wie soeben dargelegt - zumindest theoretisch ihrerseits durch chiropraktische Manipulation hervorgerufen werden. Gleichwohl spricht bereits das Vorliegen einer beidseitigen Parese bei der Klägerin gegen eine Ursächlichkeit der streitgegenständlichen Behandlung für eine Nervschädigung. Denn eine beidseitige Schädigung des Phrenicusnervs durch eine chiropraktische Manipulation im Bereich der HWS ist nach Angabe des Sachverständigen ausgeschlossen. Die Behandlung erfolgt nur einseitig, wodurch ein zweiseitiger Schaden nicht hervorgerufen werden kann. Bei einem isoliert hervorgerufenen Nervenschaden müssten zudem weitere Ausfallerscheinungen, insbesondere in den peripheren Muskeln auftreten, was bei der Klägerin nicht der Fall ist. Die Untersuchungsergebnisse im Rahmen der Folgebehandlungen sprechen danach ebenfalls gegen einen Ursachenzusammenhang.
56Die bei der Klägerin als maßgebliche Beschwerde bestehende Atemnot ist nach Angabe des Sachverständigen insgesamt als multifaktorelles Geschehen zu bewerten, wobei die festgestellte Zwerchfelldysfunktion nur einer von 5 Faktoren ist. Bei der Klägerin besteht daneben eine chronifizierte Schmerzerkrankung. Hinzu kommen deutliche psychosoziale Anteile, insbesondere durch eine Depression. Neben der Zwerchfelldysfunktion sind danach eine systematische obstruktive Lungenfunktionsstörung, Mikroaspirationen, eine restriktive Lungenfunktionsstörung durch die bestehende Adipositas sowie psychosoziale Einflussfaktoren einzubeziehen.
57Auch der von der Klägerin behauptete offensichtliche zeitliche Zusammenhang zwischen der streitgegenständlichen Behandlung und der aufgetretenen Atemnot gibt letztlich keinen hinreichenden Hinweis auf eine Ursächlichkeit. Insoweit hat der Sachverständige darauf verwiesen, dass bei der Klägerin eine Pneumonie dokumentiert ist, welche Atemnot verursacht und auch schon zum Zeitpunkt der Behandlung vorgelegen haben kann. Die Folgen dieser Pneumonie können auch zu den anhaltenden Problemen geführt haben. Entsprechend hat der Sachverständige auch im Senatstermin weiterhin eine Mischung der genannten Faktoren als ursächlich für den Zustand der Klägerin angesehen.
584.
59Im Hinblick auf den – nur in erster Instanz erhobenen – Vorwurf mangelhafter Aufklärung ist anzuführen, dass nach Angabe des Sachverständigen die Schädigung des Phrenicusnervs aufgrund ihrer extremen Seltenheit kein aufklärungspflichtiges typisches Komplikationsrisiko darstellt.
60Behandlungsalternativen stellten sich weiter allein dann, wenn nach ordnungsgemäßer Diagnostik die Vorerkrankungen der Klägerin bekannt geworden wären. Nachdem die Beklagte – fehlerhaft – lediglich von einer Blockade ohne weitere Risikofaktoren ausging, war die manualmedizinische Behandlung nach Angabe des Sachverständigen aber das Mittel der Wahl. Somit ergibt sich kein gesonderter Aufklärungsmangel.
61Schließlich wäre selbst bei Annahme eines Aufklärungsmangels der dann von der Klägerin zu erbringende Kausalitätsnachweis nicht zu führen. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen Bezug genommen.
62III.
63Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
64Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr.10, 711 ZPO.
65Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und auch keine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert.