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Die Berufung der Klägerin gegen das am 12. Dezember 2003 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Arnsberg wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Klägerin wird gestattet, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
G r ü n d e
2I.
3Die am 9.11.1970 geborene Mutter der Klägerin stellte sich während der Schwangerschaft mit der Klägerin erstmals Anfang Februar 1999 beim Beklagten, der als niedergelassener Gynäkologe tätig war, vor.
4Der Mutterpass wurde ab dem 23.2.1999 geführt. Der Beklagte nahm insgesamt acht Vorsorgeuntersuchungen vor: am 23.2., 23.3., 20.4., 18.5., 15.6., 13.7., 4.8. und 17.8.1999. Die vom Beklagten in dieser Zeit gefertigten Ultraschallaufnahmen sind nicht mehr vorhanden. Wegen der wesentlichen Einzelheiten der die Mutter betreffende Behandlungskarte und des Mutterpasses wird auf Bl. 23-29 d.A. Bezug genommen.
5Zwischen den Vorsorgeuntersuchungen vom 13.7.1999 und 4.8.1999 nahm die Mutter rund 6 kg Gewicht zu. Am 4.8. und 17.8.1999 ist jeweils ein CTG dokumentiert. Der Beklagte deutete das CTG vom 4.8.1999 als silentes CTG und unternahm nach seinen – von der Klägerin bestrittenen - Angaben einen erfolgreichen Aufweckversuch. Am 17.8.1999 konnte der Beklagte im CTG keine normalen Bewegungen und Herztöne der Klägerin feststellen. Die Mutter der Klägerin wurde noch am selben Tag im N Krankenhaus in C2 aufgenommen.
6Dort wurde die Klägerin noch am 17.8.1999 (in der 33. Schwangerschaftswoche) als Frühgeburt per Sectio geboren. Der pathohistologische Plazentabefund von Dr. X vom 20.8.1999 lautet auszugsweise (Bl. 73/74 d. A.):
7"Plazentadicke zwischen 2 cm bis 4,5 cm…Übergewichtige Plazenta mit teilweise unreifen Zottenstrukturen und geringen Zeichen chronischer materno-plazentarer Durchblutungsstörung… Kein Hinweis auf Amnion-infektsyndrom."
8Im Arztbrief des Neonatologen Dr. V vom 8.12.1999/ 10.12.1999 (Bl. 37 - 47 d.A.) heißt es u.a.:
9"Ausschluss einer … Rötelninfektion…Für das Vorliegen einer …Ringelröteln- (Parvo-Virus-B19) Infektion ergibt sich kein Anhalt…
10… [Die Klägerin]… ist ein FG von 32 SSW, die Geburt erfolgte durch Notsectio caesarea bei silentem CTG nach vorzeitigem Blasensprung in der 33.SSW…
11Bei …[der Klägerin]… besteht eine schwerste connatale Anämie … sowie eine schwere prä- bzw. peripartale Asphyxie. Als Ursache der schweren connatalen Anämie muss aufgrund der Schwangerschafts- anamnese, des Plazentabefundes (große hydropische Plazenta) sowie des weiteren klinischen Verlaufs und Diagnostik ein Hydrops fetalis diagnostiziert werden...".
12In dem unter dem 7.7.2000 verfassten Arztbriefes von Dr. V (Bl. 30-32 d.A.) heißt es, die Klägerin leide an einer "schwersten Anämie", ferner an einem "leichten Hydrops fetalis". Darüber hinaus teilte Dr. V mit: "Ein Hydrops (Ödeme, Wasseransammlung im Gewebe) kann durch eine schwere Anämie hervorgerufen werden. Das war hier der Fall….". Dr. V korrigierte nunmehr den früheren den Arztbrief vom 8.12./10.12.1999 und hielt jetzt fest:
13"Einen Plazentahydrops (Wasseransammlung in der Placenta) kann man aus diesem pathohistologischen Befund nicht diagnostizieren…Die Plazentadicke zwischen 2 und 4,5 cm ist für diese Diagnose nicht ausreichend…
14…Ein Diabetes mellitus lag in der Schwangerschaft …nicht vor, auch war das klinische Bild der … [Klägerin] … nicht entsprechend.
15Somit hatte … [die Klägerin] … lediglich einen durch die Anämie bedingten Hydrops mäßigen Ausmaßes. Als einziger auffälliger Befund lag eine große Plazenta, wie berichtet, vor, nicht jedoch ein Hydrops placentae. Somit bleibt als einziger verwertbarer Befund die bei der Geburt bestehende schwerste Anämie neben der Frühgeburtlichkeit. Diese ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Ursache des schwersten neurologischen Krankheitsbildes in den nächsten Lebenstagen ohne Eigenatmung und im Koma. Daraus resultiert auch die später und derzeit erheblich erkennbare neuromotorische Entwicklungsstörung… Somit bleibt letztendlich vollkommen unklar, warum das Kind die Anämie entwickelt hat und auch in welcher Geschwindigkeit… Eine sich akut entwickelnde Anämie, wie sie wahrscheinlich abgelaufen ist, in einem nicht gekannten Zeitraum vor der Geburt, dürfte sich um so schwerer für das Gehirn ausgewirkt haben. Möglichkeiten, eine Anämie pränatal zu diagnostizieren, sind beschränkt…".
16Die Klägerin ist schwerstbehindert. Sie hat Behandlungsfehler des Beklagten behauptet. Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines schriftlichen Gutachtens nebst ergänzender Stellungnahmen und Anhörung des Sachverständigen PD Dr. I abgewiesen. Auf die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil wird Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
17Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihre erstinstanzlich geltend gemachten Ansprüche weiter und macht im Wesentlichen geltend, dass der Beklagte die Anämie hätte erkennen können. Er hätte der starken Gewichtszunahme der Mutter und mütterlichen Ödemen nachgehen müssen. Das seien Zeichen dafür, dass die Sauerstoffzufuhr der Frucht nicht mehr ausreichend funktioniere. Durch weitere Untersuchungen wäre die Anämie entdeckt worden. Der Beklagte habe die von ihm gefertigten Ultraschallbilder auch fehlerhaft interpretiert. Auf den Ultraschallbildern sei eine fehlerhafte Nahrungszufuhr und Fehlbildung der Plazenta zu erkennen gewesen. Es gehe zu Lasten des Beklagten, wenn er die maßgeblichen Ultraschallbilder nicht mehr vorlegen könne. Die Plazenta, so behauptet die Klägerin weiter, lasse eine mütterliche Diabetes erkennen, Durchblutungsstörungen, des Weiteren eine Parvovirus B19 – Infektion (Ringelröteln) sowie ein Amnioninfektsyndrom.
18Die Klägerin beantragt,
191.
20das angefochtene Urteil abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, an sie ein Schmerzensgeld in Höhe von 800.000,- DM (409.033,50 €) nebst Zinsen in Höhe von 5% über dem jeweiligen Basiszinssatz nach § 1 des DÜG vom 9.6.1998 seit dem 28.6.2001 zu zahlen,
212.
22den Beklagten zu verurteilen, an sie eine Schmerzensgeldrente in Höhe von 800,- DM (409,03 €) beginnend ab Zustellung der Klage vom 15.11.2001 zu zahlen, spätestens fällig jeweils am 3. eines Monats,
233.
24festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihr jedweden materiellen und immateriellen Schaden aus der Schwangerschaftsbetreuung in der Zeit vom 3.3.1999 bis zur Geburt am 17.8.1999 zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf einem Sozialversicherungsträger oder sonstigen Dritten übergegangen sind,
254.
26den Beklagten zu verurteilen, sie von der Forderung ihres Rechtsschutzversicherers, der ÖRAG, in Höhe von 3.567,49 € nebst 5% Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Zustellung des Antrags vom 19.2.2003 freizustellen.
27Der Beklagte beantragt,
28die Berufung zurückzuweisen.
29Er verteidigt das angefochtene Urteil.
30Wegen der weiteren Einzelheiten des zweitinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, die beigezogenen Behandlungsunterlagen, das Sitzungsprotokoll und den Vermerk des Berichterstatters zum Senatstermin vom 6. September 2004 über die ergänzende Anhörung des Sachverständigen PD Dr. I Bezug genommen.
31II.
32Die Berufung bleibt ohne Erfolg.
33Die Klägerin hat gegen den Beklagten keine Ansprüche auf Schmerzensgeldkapital und –rente, Ersatz materieller Schäden und Feststellung der Schadensersatzpflicht des Beklagten für etwaige weitere Schäden aus § 823 Abs. 1 BGB i. V. mit § 847 BGB a.F. oder – soweit materielle Schäden in Rede stehen – aus Schlechterfüllung des Behandlungsvertrages des Beklagten mit der Mutter in Verbindung mit den Grundsätzen des Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte. Auch die ergänzende Beweisaufnahme durch den Senat hat keine Behandlungsfehler des Beklagten bei der Betreuung der Schwangerschaft der Mutter der Klägerin ergeben. In der medizinischen Beurteilung des Geschehens macht sich der Senat die Feststellungen des Sachverständigen PD Dr. I zu Eigen, der das Gutachten auch in zweiter Instanz eingehend und sachlich überzeugend begründet hat.
341.
35Der tragische gesundheitliche Verlauf beruht nach den Feststellungen des Sachverständigen auf der Anämie mit Asphyxie und Frühgeburtlichkeit. Die Asphyxie ist Folge der Anämie. Die Asphyxie beruht nicht auf einer Plazentainsuffizienz, da eine Beeinträchtigung der Plazenta nicht vorgelegen hat.
36Wie der Sachverständige stets betont hat, gab es keinen vorgeburtlichen Hinweis auf die Anämie. Insbesondere lag ein signifikanter Aszites (Wassersucht) der Klägerin nicht vor. Das hat auch der Neonatologe Dr. V in seinem Arztbrief von 7.7.2000 festgestellt. Es gibt deshalb keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte die Ultraschalluntersuchungen und die von ihm gefertigten Ultraschallaufnahmen fehlgedeutet haben könnte. Dem steht nicht entgegen, dass der Beklagte die Ultraschallaufnahmen im Wesentlichen nicht mehr vorlegen kann, weil sie möglicherweise beim Umzug 1999/2000 in Verlust geraten sind. Denn, wie ausgeführt, wurde von dritter Seite (Dr. V) bestätigt, dass nur ein Hydrops mäßigen Ausmaßes vorlag. Angesichts der jahrelangen Erfahrungen des Beklagten mit der Bewertung von Ultraschallaufnahmen (seit ca. 1972), hat der Senat auch keine Zweifel, dass der Beklagte die Ultraschallaufnahmen zutreffend ausgewertet hat. Dafür spricht auch, dass die Plazenta nach den Feststellungen des Sachverständigen keine Auffälligkeiten aufwies. Insbesondere ihre Größe lag im Normbereich. Aufgrund der Plazentahistologie kann man ferner diagnostizieren, dass auch keine connatalen Infektionen vorlagen, insbesondere keine Parvovirus B 19 – Infektion (Ringelröteln). Auch ein Amnioninfektsyndrom lag nicht vor. Eine erneute Untersuchung der Plazenta verspricht nach den Ausführungen des Sachverständigen keine zusätzlichen Erkenntnisse.
37Die Gewichtszunahme der Mutter vom 13.7.1999 auf den 4.8.1999 gab keinen Hinweis auf eine Anämie der Klägerin. Die Mutter hatte keine Diabetes und selbst keine Anämie. Eine Gewichtszunahme der Mutter muss zwar grundsätzlich an eine EPH-Gestose denken lassen. Eine EPH-Gestose führt nach den Feststellungen des Sachverständigen aber nicht zu einer Anämie. Gleiches gilt umgekehrt. Das Vollbild einer EPH-Gestose lag überdies auch nicht vor. Die Abkürzung "H" steht für Hypertonie; Bluthochdruck bei der Mutter bestand nach den Feststellungen des Sachverständigen aber nicht. Es handelte sich lediglich um eine monosymptomatische proteinurische Gestose, die nicht zu einer Beeinträchtigung der intrauterinen Kindesentwicklung führt. Ödeme ("E" für engl. "edema") sind nach den Erläuterungen des Sachverständigen überdies nur relevant, wenn sie generalisiert sind. Solche Ödeme bestanden zur Überzeugung des Senats nicht. Am 4.8.1999 dokumentierte der Beklagte im Gravidogramm des Mutterpasses "Ödeme negativ". Richtig ist zwar, dass die Hebamme, die die Mutter der Klägerin unabhängig vom Beklagten betreute, später, nämlich am 14.8.1999, generalisierte Ödeme dokumentiert hat (Bl. 29 d.A.). Das besagt zum einen aber nichts über den 4.8.1999. Zum anderen unterliegt die Bewertung von Ödemen auch einem ärztlichen Ermessensspielraum. Damit lässt sich auch vereinbaren, dass der Beklagte auch am 17.8.1999 keine generalisieren Ödeme dokumentierte, sondern erneut "Ödeme negativ".
38Das CTG vom 4.8.1999 war zwar pathologisch, weil es Anzeichen für einen beginnenden Sauerstoffmangel zeigte. Es erforderte aber kein akutes Vorgehen, weil das CTG mangels sinusoidaler Floating-Line nicht sinusoid war. Das CTG hätte zwar eine kurzfristige Kontrolle erfordert. Diese Kontrolle hätte aber nach den Feststellungen des Sachverständigen nichts für eine Anämie ergeben, ebenso wenig wie das am 17.08.1999 erneut gefertigte CTG.
39Der Beklagte hat, wie der Sachverständige ausgeführt hat, insgesamt alle vorgeburtlich gebotenen Untersuchungen vorgenommen und alle notwendigen Befunde erhoben. Letztlich hat der Beklagte sogar mehr als das getan, weil die beiden CTG vom 4.8. und 17.8.1999 nicht vorgeschrieben waren. Weitere Befunderhebung war nicht angezeigt. Insbesondere bestand mangels Auffälligkeiten keine Veranlassung, die Mutter der Klägerin zur Dopplersonografie in ein DEGUM-Zentrum zu überweisen.
402.
41Selbst wenn entgegen den tatsächlichen Feststellungen vorgeburtlich erkennbare Anhaltspunkte für eine Anämie unterstellt würden, steht nicht mit der notwendigen Gewissheit fest, dass der Zustand der Klägerin sich weniger tragisch entwickelt hätte. Mit einer Dopplersonografie hätte es nach den Feststellungen des Sachverständigen nicht sein Bewenden gehabt. Um das Ausmaß der Anämie festzustellen, wäre zusätzlich eine Kordozentese (Nabelschnurpunktion) vorgenommen worden. Bereits dabei sterben nach den Ausführungen des Sachverständigen rund 26% der Feten.
42Selbst wenn im Übrigen eine intrauterine Bluttransfusion vorgenommen worden wäre, könnte diese die Gesundheit des Kindes nach den Feststellungen des Sachverständigen nicht garantieren. Überdies ist es nach den Ausführungen des Sachverständigen auch möglich, dass die Anämie bereits vor dem 4.8.1999 eingetreten war; da kein Aszites vorlag, hätte der die Schwangerschaft betreuende Arzt das jedoch nicht erkennen können.
433.
44Relevante Dokumentationslücken bestehen nicht. Wie oben ausgeführt, ist es unschädlich, dass die Ultraschallaufnahmen weitgehend nicht vorgelegt werden können. Die Ergebnisse der 1. Screening-Untersuchung (9. – 12. SSW) sowie der 3. Screening-Untersuchung (29.- 32. SSW) sind im Übrigen zwar nicht im Mutterpass dokumentiert (S. 10/11 des Mutterpasses), aber – wie der Sachverständige erläutert hat - in der Behandlungskarte des Beklagten unter dem 23.3. und 4.8.1999.
45Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO.
46Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht.
47Das Urteil beschwert die Klägerin mit mehr als 20.000,- € (Art. 26 Nr. 8 EGZPO).