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Die Berufung des Klägers gegen das am 04. August 1994 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Münster wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Es beschwert den Kläger in Höhe von 30.000,00 DM.
Entscheidungsgründe
2(abgekürzt gemäß § 543 Abs. 1 ZPO)
3A.
4Der Kläger erlitt am 30.05.1971 in ... einen Verkehrsunfall, bei dem er sich insbesondere einen Oberschenkelbruch rechts, einen doppelten Wadenbeinbruch rechts, multiple Rippenbrüche, einen dreifachen Kieferbruch, den Verlust mehrerer Zähne und eine Gehirnerschütterung zuzog. Für die Folgen dieses Unfalles ist die Beklagte dem Grunde nach voll ersatzpflichtig. Das Landgericht hat durch Grund- und Teilendurteil vom 07.11.1972 (11 O 296/72) den Schmerzensgeldanspruch für gerechtfertigt erklärt und eine Ersatzpflicht der Beklagten für sämtliche zukünftigen unfallbedingten Schäden festgestellt. Sodann hat es ein Schmerzensgeld von insgesamt 30.000,00 DM als angemessen erachtet und nach vorprozessual bereits gezahlten 20.082,76 DM dem Kläger durch Schlußurteil vom 22.01.1974 einen restlichen Schmerzensgeldbetrag von 9.917,24 DM zuerkannt.
5Im Laufe der 80er Jahre traten bei dem Kläger erhebliche Schmerzen im rechten Hüftgelenk sowie im linken Kniegelenk auf. Ferner mußte er sich wegen sekundärer Varikose nach tiefer Beinvenenthrombose behandeln lassen. Die Beklagte hat wegen der zeitlich nach den Urteilen von 1972 und 1974 eingetretenen Verletzungsfolgen ein weiteres Schmerzensgeld von 20.000,00 DM, d.h. insgesamt 50.000,00 DM, gezahlt. Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger aufgrund der nach 1974 aufgetretenen Beschwerden ein höheres Schmerzensgeld zusteht.
6Mit seiner erneuten Klage hat der Kläger für die inzwischen festgestellten weiteren Körperschäden, insbesondere eine Hüftgelenkarthrose, eine Kreuzbandruptur im linken Knie mit nachfolgender Arthrose soeine Beinvenenthrombose mit daraus entstandener Varikose im rechten Unterschenkel, weiteres Schmerzensgeld von mindestens 30.000,00 DM, d.h. für sämtliche Unfallschäden insgesamt 80.000,00 DM, geltend gemacht.
7Die Beklagte ist diesem Begehren entgegengetreten. Sie hat die weiteren von ihr gezahlten 20.000,00 DM als Ausgleich für die nachträgliche Verschlimmerung der Verletzungen als ausreichend angesehen und die Ansicht vertreten, der neuen Klage stehe die Rechtskraft der 1972 und 1974 ergangenen Urteile entgegen. Ferner hat sie die Einrede der Verjährung erhoben.
8Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Es hat für einen Teil der geltend gemachten Verletzungsfolgen die Unfallbedingtheit verneint, einen, Teil als mit den bisherigen Urteilen abgegolten angesehen und für den verbleibenden Teil die gezahlten weiteren 20.000,00 DM als ausreichend erachtet.
9Mit der hiergegen gerichteten Berufung verfolgt der Kläger seinen bisherigen Klageantrag in vollem Umfang weiter, wobei er unzureichende Sachverhaltsaufklärung des Landgerichts rügt und im übrigen auch dessen Beweiswürdigung und rechtliche Beurteilung beanstandet. Demgegenüber verteidigt die Beklagte das angefochtene Urteil und hält das weitere Schmerzensgeldbegehren des Klägers nach wie vor für unbegründet.
10B.
11Die zulässige Berufung ist unbegründet.
12Der Kläger kann für die Verschlimmerung seiner Unfallverletzungen, die zeitlich nach den Urteilen von 1972 und 1974 eingetreten sind, von der Beklagten über die nach 1974 außerprozessual erhaltenen (zusätzlichen) 20.000,00 DM hinaus kein weiteres Schmerzensgeld fordern. Die mit seiner weiteren Klage geltend gemachten Verletzungsfolgen sind teilweise nicht unfallbedingt (I), zum Teil steht ihrer Berücksichtigung die Rechtskraft der genannten Urteile entgegen (II). Soweit die geklagten Komplikationen als ersatzfähige Spätfolgen bewertet werden müssen, sind sie durch die hierfür nachträglich gezahlten 20.000,00 DM hinreichend abgegolten (III).
13I.
14Der Kläger kann für die bei ihm entstandene Coxarthrose des rechten Hüftgelenks kein Schmerzensgeld verlangen, da nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ein Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallgeschehen und dieser Schädigung - auch nach den erleichterten Beweisanforderungen des § 287 ZPO - nicht bewiesen ist, sondern deutlich mehr für eine unfallunabhängige degenerative Erkrankung dieses Gelenkes spricht.
15Der vom Senat hinzugezogene Sachverständige Privatdozent ... hat in seinem schriftlich erstatteten fachorthopädischen Gutachten sowie seinen ergänzenden mündlichen Erläuterungen die Unfallbedingtheit dieser Arthrose an Hand der zahlreichen seit 1971 vom Hüftbereich des Klägers angefertigten Röntgenbilder ausgeschlossen.
16Der Sachverständige hat diese Bewertung überzeugend damit begründet, daß die Röntgenbilder seit dem Unfall über 20 Jahre lang keine Seitendifferenzen aufgewiesen haben und erstmals durch die am 05.10.1995 angefertigten Aufnahmen eine rapide Verschlechterung dieses Zustandes aufgezeigt worden ist. Da eine unfallbedingte Hüftgelenkarthrose nur durch einen Hüftschiefstand hätte ausgelöst werden können und dieser nach der Beurteilung des Sachverständigen spätestens fünf Jahre nach dem Unfall zu erwarten gewesen wäre, sprechen die hiervon abweichenden Röntgenbefunde des Klägers in dem vorliegenden Fall entscheidend gegen einen solchen Ursachenzusammenhang. Vielmehr ist davon auszugehen, daß bei dem Kläger lediglich zufälligerweise auf der Seite der Fraktur eine unfallunabhängige Arthrose entstanden ist.
17II.
18Das Vorbringen des Klägers, die bei ihm erst nachträglich festgestellte Kreuzbandruptur im linken Knie mit nachfolgenden arthritischen Veränderungen des Kniegelenks sowie die erlittene Venenthrombose im rechten Unterschenkel seien in die bisherige Schmerzensgeldbemessung noch nicht eingegangen, ist unerheblich, da diese Verletzungsfolgen bereits zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlungen vor dem am 07.11.1972 ergangenen "Grundurteil" bzw. dem am 22.01.1974 ergangenen Schlußurteil hätten geltend gemacht werden können und müssen. Der jetzigen Geltendmachung dieser Unfallfolgen steht die Rechtskraft dieser Urteile entgegen.
191.
20Verlangt der Geschädigte aufgrund einer Körperverletzung angemessenes Schmerzensgeld, so werden durch den in dem Urteil zuerkannten Betrag grundsätzlich sämtliche Verletzungsfolgen abgegolten, die sich aus dem zur Begründung des Anspruchs vorgetragenen Verletzungstatbestand ergeben. Denn das Urteil erfaßt den gesamten Streitstoff, den der Kläger dem Gericht zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung zur Beurteilung unterbreitet hatte; ob das Gericht dieses Vorbringen bezüglich des tatsächlichen Umfangs der Verletzungen sowie der weiteren Verletzungsfolgen umfassend berücksichtigt und zutreffend gewürdigt hat, ist für den Umfang des Streitgegenstands und damit auch der Rechtskraft des Urteils in der Regel ohne Bedeutung (stand. RSpr., vgl. etwa BGH VersR 80, 975 = NJW 80, 2754 m.w.Nachw.).
21Daher ist der Verletzte durch die Rechtskraft des Urteils grundsätzlich gehindert, für tatsächlich eingetretene, vom Gericht aber nicht festgestellte Verletzungen sowie unberücksichtigt gelassene Verletzungsfolgen im Wege einer erneuten Klage weiteres Schmerzensgeld zu fordern.
22Etwas anderes gilt nur bei solchen Verletzungsfolgen, die zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung zwar eingetreten, aber objektiv - d.h. nach den Erkenntnissen und Erfahrungen eines insoweit Sachkundigen - noch nicht erkennbar waren, oder bei solchen Spätfolgen, die erst nach diesem Zeitpunkt eingetreten sind ("künftige Auswirkungen") und nicht als naheliegend vorhersehbar waren. Diese Ausnahmen sind deshalb gerechtfertigt, weil derartige Verletzungsfolgen bei der Bemessung zwangsläufig unberücksichtigt bleiben mußten und aus diesem Grunde nicht Teil des Streitgegenstandes sein konnten (st. RSpr., vgl. etwa BGH VersR 88, 929).
23Eine Ausnahme von der umfassenden Entscheidung über den Verletzungstatbestand kommt ferner dann in Betracht, wenn der Kläger bestimmte Verletzungsfolgen mangels gegenwärtiger Überschaubarkeit noch nicht zur Entscheidung des Gerichts stellen wollte oder wenn das Gericht selbst einzelne Folgeschäden bewußt ausgeklammert hat, weil deren weitere Entwicklung noch nicht abzusehen war (vgl. BGH VersR 80, 975 <976>).
242.
25Bei Anwendung dieser Grundsätze ist die von dem Kläger als Unfallfolge erlittene Venenthrombose im rechten Unterschenkel bereits durch das in dem Verfahren 11 O 296/72 am 22.01.1974 ergangene Schlußurteil abgegolten worden, auch wenn das Landgericht diese Komplikation nicht erkannt und daher bei der Schmerzensgeldbemessung nicht berücksichtigt hat.
26Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen ... bestehen keine Zweifel, daß die Thrombose bereits während der stationären Behandlung des Klägers im Jahre 1971 entstanden war und bereits damals ohne weiteres hätte erkannt werden können.
27Bei dieser Sachlage war auch diese Verletzungsfolge von dem Schmerzensgeld-Leistungsantrag erfaßt, der durch das Schlußurteil vom 22.01.1974 rechtskräftig beschieden worden ist. Daher steht der jetzigen Geltendmachung dieser Komplikation die Rechtskraft des damaligen Schlußurteils entgegen.
283.
29Falls auch die erst nach Beendigung des früheren Verfahrens 11 O 296/72 festgestellte Kreuzbandruptur im linken Knie sowie die daraus entstandenen arthritischen Veränderungen des Kniegelenks auf den Unfall zurückzuführen sein sollten, können diese Schädigungen gleichwohl nicht mehr geltend gemacht werden.
30Der Sachverständige ... hat insoweit in seinen mündlichen Erläuterungen des schriftlichen Gutachtens überzeugend ausgeführt, daß die Bandruptur bei sorgfältiger Untersuchung bereits in den Jahren 1971/72 - wenn auch möglicherweise nicht ohne Schwierigkeiten - manuell hätte festgestellt werden können. Bei einem derartigen Befund wäre wegen der Lockerung der Gelenkführung geradezu typischerweise auch mit arthritischen Veränderungen des Kniegelenkes zu rechnen gewesen.
31Daher steht auch der jetzigen Geltendmachung dieser Körperschäden die Rechtskraft des Schlußurteils von 1974 (bezüglich der 1972 bereits eingetretenen Bandruptur) bzw. das auch einen Feststellungsausspruch für künftige Unfallschäden enthaltende "Grundurteil" von 1972 (bezüglich der künftigen arthritischen Veränderungen) entgegen.
32III.
33Soweit bei dem Kläger Verletzungsfolgen eingetreten sind, die erst nach 1974 erkennbar bzw. vorhersehbar waren und heute überschaubar sind, wie insbesondere das postthrombotische Syndrom mit Varicosenbildung, ist der 1994 gezahlte weitere Schmerzensgeldbetrag in Höhe von 20.000,00 DM nicht zu gering bemessen.
34IV.
35Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10 ZPO.