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Auf die Berufung der Beklagten wird das am 26.09.2022 verkündete Grundurteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Duisburg abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
Gründe
2I.
3Der Kläger nimmt die Beklagten, eine Steuerberatergesellschaft in der Form einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts und deren Gesellschafter, als Insolvenzverwalter über das Vermögen der A.-GmbH (nachfolgend: Schuldnerin) wegen Verletzung von Pflichten aus einem Steuerberatervertrag auf Schadenersatz in Anspruch.
4Die Schuldnerin, die Elektroarbeiten, vor allem Großprojekte für öffentliche Auftraggeber, durchführte, beauftragte die Beklagte zu 1. mit der Erstellung der Jahresabschlüsse für die Jahre 2009 bis 2011 jeweils zum 31.12. des Jahres, ab 2010 nebst einer Plausibilitätsbeurteilung. Wegen des Inhalts der von der Beklagten erstellten Jahresabschlüsse wird auf die Anlagen K 2 (Bl. 22 ff. GA-LG), K 5 (Bl. 167 ff. GA-LG) und K 6 (Bl. 208 ff. GA-LG) Bezug genommen. Die von der Beklagten zu 1. erstellten Jahresabschlüsse wiesen keine nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbeträge auf.
5Den Jahresabschluss für das Jahr 2010 stellte die Beklagte zu 1. dem Geschäftsführer der Schuldnerin am 22.06.2011 zur Verfügung.
6Im August 2012 beauftragte die Schuldnerin die Beklagte zu 1. mit der Erstellung einer Fortführungsprognose, die diese am 08.11.2012 fertigstellte (Anlage K 4, Bl. 127 ff. GA-LG). Am 18.12.2012 stellte der Geschäftsführer der Schuldnerin einen Eigeninsolvenzantrag. Das Amtsgericht Duisburg eröffnete mit Beschluss vom 26.02.2013 (Anlage K 1, Bl. 19 ff. GA-LG) das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin und bestellte Rechtsanwalt B. zum Insolvenzverwalter (60 IN 215/12 AG Duisburg). Mit Beschluss vom 23.12.2021 wurde Rechtsanwalt B. aus dem Amt als Insolvenzverwalter entlassen und an seiner Stelle der Kläger zum Insolvenzverwalter bestellt.
7Der Kläger wirft den Beklagten vor, es habe bereits seit dem 31.12.2010 eine insolvenzrechtliche Überschuldung bestanden (Bl. 3 GA-LG). Bei ordnungsgemäßer Aufstellung des Jahresabschlusses für das Jahr 2010 hätten dies die Mitarbeiter der Beklagten zu 1. erkennen können und müssen. Auf einen entsprechenden Hinweis der Beklagten hin hätte der Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin früher, nämlich spätestens am 30.06.2011, einen Insolvenzantrag gestellt. In diesem Fall wäre die insolvenzrechtliche Überschuldung erheblich geringer ausgefallen. Die Vertiefung der Überschuldung im Zeitraum zwischen dem 30.06.2011 und dem Zeitpunkt der Insolvenzantragsstellung am 18.12.2012 betrage 895.912,31 €. In dieser Höhe macht der Kläger Schadensersatz geltend.
8Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands erster Instanz wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil (Bl. 2076 ff. GA-LG) Bezug genommen.
9Das Landgericht hat ein Gutachten des Sachverständigen C. vom 06.01.2020 (Anlagenband) eingeholt, das dieser am 30.05.2022 mündlich erläutert hat (Bl. 2027 ff. GA-LG). Durch das am 26.09.2022 verkündete Grundurteil hat das Landgericht den Klageantrag dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Hiergegen wendet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie ihren erstinstanzlichen Vortrag wiederholen und vertiefen.
10Die Beklagten beantragten,
111. unter Abänderung des angefochtenen Grundurteils die Klage abzuweisen,
2. hilfsweise, das angefochtene Grundurteil und den Rechtsstreit zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Duisburg zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
15die Berufung zurückzuweisen.
16Der Kläger wiederholt und vertieft seinen erstinstanzlichen Vortrag und verteidigt das angefochtene Urteil.
17II.
18Die zulässige Berufung der Beklagten hat Erfolg.
19Die vom Senat zugrunde zu legenden Feststellungen rechtfertigen eine andere Entscheidung. Die Klage ist abzuweisen.
201.
21Ob der Insolvenzverwalter überhaupt befugt ist, den in Streit stehenden Insolvenzvertiefungsschaden geltend zu machen, kann hier offenbleiben.
22Der für die Steuerberaterhaftung zuständige IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs ging bisher davon aus, dass in einem solchen Fall der Insolvenzverwalter diesen Schaden, der der Insolvenzschuldnerin durch die auf der Unternehmensfortführung beruhende Vergrößerung der Verbindlichkeiten erwachse, geltend machen könne (BGH, Urteil vom 06.06.2013, IX ZR 204/12, juris, Rn. 28; vgl. auch BGH, Urteil vom 26.01.2017, IX ZR 285/14, BGHZ 213, 374-394, juris). Der Schaden der Schuldnerin bemesse sich nach der Differenz zwischen ihrer Vermögenslage im Zeitpunkt rechtzeitiger Antragstellung im Vergleich zu ihrer Vermögenslage im Zeitpunkt des tatsächlich gestellten Antrags (BGH, Urteil vom 06.06.2013, IX ZR 204/12, a.a.O.). Eine ausdrückliche Abkehr dieser Rechtsprechung ist auch nicht durch das Urteil des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 13.12.2018 erfolgt, auch wenn darin ausgeführt ist, dass in dem Kontrahierungsschaden des Neugläubigers, mit welchem der Geschäftsführer einer juristischen Person nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft oder nach Feststellung ihrer Überschuldung in ihrem Namen einen Vertrag schließt, überwiegend ein Einzelschaden gesehen werde, welcher nicht vom Insolvenzverwalter, sondern vom Neugläubiger geltend zu machen sei (BGH Urteil vom 13.12.2018, IX ZR 66/18, juris, Rn. 12; vgl. auch OLG Düsseldorf, Urteil vom 29.09.2023, I-22 U 111/23, ZRI 2024, 252 ff., Rn. 20). Demgegenüber nimmt der II. Zivilsenat bei der Haftung des Geschäftsführers an, dass der Insolvenzverwalter nicht befugt sei, einen Insolvenzvertiefungsschaden als Schaden der Gesellschaft geltend zu machen, sondern nur die Neugläubiger ihren Vertrauensschaden gegenüber dem Geschäftsführer geltend machen könnten (BGH, Urteil vom 30.03.1998, II ZR 146/96, BGHZ 138, 211-224, juris, Rn. 8 ff.). In Literatur und Rechtsprechung mehren sich die Stimmen, die eine Aktivlegitimation des Insolvenzverwalters in Bezug auf einen Schadenersatzanspruch gegen einen Steuerberater der Schuldnerin wegen der Verursachung eines Insolvenzvertiefungsschadens in Frage stellen und dies mit einer nicht zu rechtfertigenden Bevorzugung der Altgläubiger gegenüber den Neugläubigern begründen (so KG, Urteil vom 15.11.2022, 21 U 55/21, BeckRS 2022, 41898, Rn. 18 ff.; offengelassen vom OLG Stuttgart, Urteil vom 27.10.2020, 12 U 82/20, juris, Rn. 76 ff.; OLG Düsseldorf, Urteil vom 29.09.2023, I-22 U 111/23, ZRI 2024, 252 ff.; vgl. auch Brügge, DStR 2023, 1672; Meixner, DStR 2018, 966 ff.).
23Der Senat kann die Frage der Aktivlegitimation des Klägers hier im Ergebnis dahinstehen lassen, da die Klage bereits aus einem anderen Grund keinen Erfolg hat.
242.
25Ein Anspruch des Klägers gegen die Beklagten auf Ersatz eines Insolvenzvertiefungsschadens aus §§ 280 Abs. 1, 634 Nr. 4, 675 BGB (Beklagte zu 1.) bzw. aus §§ 280 Abs. 1, 634 Nr. 4, 675 BGB i.V.m. § 128 HGB analog (Beklagten zu 2. bis 5.) besteht nicht. Der Anspruch scheitert daran, dass sich, selbst wenn hier eine Pflichtverletzung anzunehmen ist, nicht feststellen lässt, dass die Schuldnerin bereits Ende 2010 bzw. im Laufe des Jahres 2011 insolvent war.
26a) Im Zusammenhang mit der Aufstellung des Jahresabschlusses 2010 ist den Beklagten allerdings pflichtwidriges Verhalten zur Last zu legen.
27aa) Die Pflicht eines Steuerberaters, welcher wie hier mit der Aufstellung des Jahresabschlusses beauftragt ist, richtet sich in erster Linie darauf, einen nach Maßgabe des HGB ordnungsgemäßen Jahresabschluss zu erstellen (OLG Köln, Urteil vom 25.01.2023, I-16 U 179/21, juris, Rn. 50).
28Mängel weist der Jahresabschluss auf, wenn er nicht der vereinbarten oder jedenfalls nicht der für Jahresabschlüsse nach der gewöhnlichen Verwendung üblichen Beschaffenheit entspricht. Welche Beschaffenheit vertraglich geschuldet ist, richtet sich nach dem Umfang der Pflichten, die den Steuerberater nach dem Inhalt des ihm erteilten Auftrags bei der Erstellung eines Jahresabschlusses treffen. Dies hängt von dem konkreten Mandat ab (BGH, Urteil vom 04.03.1987, IVa ZR 222/85, juris, Rn. 15.; BGH, Urteil vom 07.03.2013, IX ZR 64/12, juris, Rn. 14). Der mit der Erstellung des Jahresabschlusses beauftragte Steuerberater schuldet grundsätzlich einen den handelsrechtlichen Vorschriften entsprechenden, die Grenzen der zulässigen Gestaltungsmöglichkeiten nicht überschreitenden und in diesem Sinne richtigen Jahresabschluss (vgl. Zugehör, WM 2013, 1965). Gemäß § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB ist in einer Handelsbilanz bei der Bewertung von der Fortführung der Unternehmenstätigkeit auszugehen, sofern dem nicht tatsächliche oder rechtliche Gegebenheiten entgegenstehen. Von diesen Grundsätzen darf gemäß § 252 Abs. 2 HGB nur in begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden. § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB bestimmt schließlich, dass der Jahresabschluss der Kapitalgesellschaft unter Beachtung der Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Kapitalgesellschaft zu vermitteln hat. Angesichts der fachlichen Kompetenz des Steuerberaters erwartet der Mandant, dass der Steuerberater den Jahresabschluss entsprechend dem Inhalt der dem Steuerberater zur Verfügung gestellten Unterlagen und den sonst dem Steuerberater bekannten Umständen vollständig erstellt, Bewertungsfragen - im Zusammenwirken mit dem Mandanten - klärt und bei offenen Fragen über die damit zusammenhängende Problematik aufklärt und eine Entscheidung des Mandanten herbeiführt.
29Allerdings ist der Steuerberater ohne besondere Vereinbarung nicht verpflichtet, von sich aus die für die Fortführungsprognose (§ 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB) erheblichen Tatsachen zu ermitteln. Vielmehr hat der Steuerberater den Jahresabschluss lediglich auf der Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und der ihm bekannten Umstände zu erstellen. Nur in diesem Rahmen hat der Steuerberater zu prüfen, ob tatsächliche oder rechtliche Gegebenheiten bestehen, die einer Fortführung der Unternehmenstätigkeit entgegenstehen können (§ 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB). Der Bilanzaufsteller bestätigt mit seiner Unterschrift unter den Jahresabschluss, dass ihm keine Umstände bekannt sind, die zu einer Abkehr von der Fortführungsvermutung zwingen (Kaiser, ZIP 2012, 2478, 2483). Soweit danach Entscheidungen des Mandanten erforderlich sind oder Gestaltungsmöglichkeiten genutzt werden sollen oder Bewertungsprobleme zu lösen sind, hat der Steuerberater hierzu die Entscheidung des Mandanten einzuholen, sofern das Mandat nicht ausdrücklich bereits entsprechende Vorgaben enthält (BGH, Urteil vom 26.01.2017, IX ZR 285/14, BGHZ 213, 374-394, juris, Rn. 18 ff.).
30Auch wenn der erstellte Jahresabschluss mangelfrei ist, können darüber hinaus weitergehende Hinweispflichten auf eine mögliche Insolvenzreife der Gesellschaft bestehen. Eine solche Hinweispflicht kann auch dann bestehen, wenn dem Steuerberater kein Mandat zur Insolvenzberatung erteilt wurde und er nur für die Erstellung des Jahresabschlusses verantwortlich ist. Den Steuerberater trifft eine Hinweispflicht auch außerhalb des beschränkten Mandatsgegenstands nicht nur, soweit ihm die Gefahren bekannt oder für ihn offenkundig gewesen sind, sondern auch dann, wenn sich ihm die Gefahren bei ordnungsgemäßer Bearbeitung hätten aufdrängen müssen (BGH, Urteil vom 26.01.2017, IX ZR 285/14, BGHZ 213, 374-394, juris, Rn. 44).
31bb) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist eine Pflichtverletzung der Beklagten zu 1. im Zusammenhang mit der Aufstellung des Jahresabschlusses für das Jahr 2010 anzunehmen.
32(1) Die Beklagte zu 1. war damit beauftragt, für die Jahre 2010 bis 2012 die Jahresabschlüsse der Schuldnerin aus den ihr zur Verfügung gestellten Unterlagen und erteilten Auskünften zu erstellen, und ab dem Jahr 2010 darüber hinaus jeweils auch eine Plausibilitätsbeurteilung vorzunehmen.
33Schon der Jahresabschluss zum 31.12.2010 wies Fehler auf. Die Beklagte zu 1. selbst hat in ihrer Fortführungsprognose für die Schuldnerin zum 30.06.2012 (Anlage K 4, Bl. 127 ff. GA-LG) festgestellt, dass sich der Zustand des Rechnungswesens und der untersuchten Jahresabschlüsse im Laufe der Analyse in Teilbereichen als lücken- und fehlerhaft erwies. Das betraf insbesondere die korrekte Erfassung und Zuordnung von Mitarbeiterstunden sowie Ein- und Ausgangsrechnungen zu einzelnen Projekten. Diese Fehler führten – wie die Beklagte zu 1. weiter in ihrer Fortführungsprognose aufführt (dort Seite 6, Bl. 132 GA-LG) – dazu, dass die von der Schuldnerin erstellte Nachkalkulation und damit verbunden auch die Bewertung von unfertigen Leistungen unzutreffende Werte auswiesen. Auch die Abgrenzung von Anzahlungs- und Schlussrechnungen sei nicht konsequent erfolgt. Für den Stichtag 30.06.2012 wurden die Mängel nach der Fortführungsprognose buchhalterisch berichtigt, unter anderem durch Aufzeichnungen aus erstellten Aufmaßen der Projektleiter für die Bewertung der unfertigen Erzeugnisse (Seite 25 der Fortführungsprognose, Bl. 151 GA-LG). Für den Zeitraum vom 01.01.2012 bis zum 30.06.2012 ergab sich nach den Feststellungen der Beklagten zu 1. nach Verarbeitung sämtlicher Korrekturen ein Verlust in Höhe von 236 TEUR. Die Beklagte zu 1. selbst ging davon aus, dass die positiven Ergebnisse der Jahre 2009 bis 2011 nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprachen und sich der Verlust auf diese Zeiträume verteilt (Seite 25 der Fortführungsprognose, Bl. 151 GA-LG). Darauf stellt auch der Sachverständige C. in seinem Gutachten vom 06.01.2020 ab (dort Seite 10). Vor diesem Hintergrund genügt das pauschale Bestreiten der Beklagten, dass ein Ergebnisfehler bereits in den Geschäftsjahren 2009 und 2010 vorhanden gewesen sei (vgl. nur Bl. 447 GA-OLG), hier nicht. In welcher Höhe sich dieser Fehler auf den Jahresabschluss zum 31.12.2010 konkret ausgewirkt hat, kann hier dahinstehen. Da der Fehler ausweislich der Feststellungen der Beklagten zu 1. in der Fortführungsprognose auf strukturellen Problemen beruhte, die von Anfang an bestanden haben dürften, wird dieser Fehler auch Einfluss auf den Jahresabschluss zum 31.12.2010 gehabt haben. Ob die Beklagten als Jahresabschlussersteller diesen Fehler im Zuge der Plausibilitätsbeurteilungen allerdings auch hätten erkennen können und müssen, was sie bestreiten (vgl. Bl. 447 GA-OLG), kann hier dahinstehen.
34(2) Denn jedenfalls haben die Beklagten im Zusammenhang mit der geschuldeten Plausibilitätskontrolle ihre Pflicht verletzt. Die Beklagte zu 1. hat im Rahmen der Plausibilitätskontrolle einen Schnelltest nach Kralicek zur Beurteilung von Finanzstabilität und Ertragslage 2010 durchgeführt und dabei nicht diejenigen Zahlen eingestellt, die eine Insolvenzfrühwarnung ermöglicht hätten. Das betrifft konkret die erhaltenen Anzahlungen. Diese hätten nach den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen als Verbindlichkeiten kategorisiert werden müssen, und zwar ungeachtet des in § 268 Abs. 5 S. 2 HGB verankerten, auf die Erstellung der Bilanz bezogenen Wahlrechts (S. 10 des Gutachtens). § 268 Abs. 5 S. 2 gibt dem Unternehmen das Wahlrecht, Anzahlungen auf Vorräte i.R.d. Postens „Verbindlichkeiten“ separat auszuweisen (Passivseite) oder sie vom Posten „Vorräte“ offen abzusetzen (Aktivseite). Die Passivierung von Anzahlungen auf Bestellungen dient vorrangig der erfolgsneutralen Erfassung des schwebenden Geschäfts, wenn zwischen den Anzahlungen einerseits und den unter „Vorräten“ ausgewiesenen Vermögensgegenständen andererseits ein inhaltlicher Bezug besteht, die Vorräte also gerade für die jeweilige Bestellung angeschafft bzw. hergestellt worden sind. Im Schrifttum wird deshalb eine Beschränkung des Wahlrechts auf den Fall gefordert, dass den Anzahlungen sachlich entsprechende Vorräte zugeordnet werden können (vgl. zum Meinungsstand Staub/Meyer, HGB, 6. Aufl. 2021, § 268 Rn. 23). Soll – wie vorliegend – mittels einer Plausibilitätskontrolle die Finanzstabilität und Ertragslage beurteilt werden, können diese das Wahlrecht begründenden Erwägungen indes nicht tragen; vielmehr erscheint es hier aus Gründen der Vorsicht geboten, Anzahlungen als Verbindlichkeiten zu erfassen, und zwar ungeachtet der Frage, ob in entsprechendem Umfang überhaupt Vorräte vorhanden und durch Anzahlungen finanziert sind.
35Werden die Zahlen um das wahrgenommene Ausweiswahlrecht bereinigt, sind die Finanzstabilität und Ertragslage des Unternehmens nach den Feststellungen des Sachverständigen nicht mehr mit der Note 3 und mittel einzustufen, sondern der Insolvenzfrühwarnindikator hätte mit der Note 4,25 eine schlechte Situation prognostiziert. Dabei ist noch nicht der Ergebnisfehler in Bezug auf die Bewertung der unfertigen Ergebnisse berücksichtigt, der sich nach den gutachterlichen Feststellungen ebenfalls negativ auf die Bewertung der Finanzstabilität und Ertragslage auswirkt. Schon ohne diesen Fehler, der sich – wie ausgeführt – der Höhe nach nicht bestimmen lässt, hätte bereits eine Note, die mit 4,25 kurz vor der Grenze zur Insolvenzgefährdung (ab 4,5) steht, die Beklagte zu 1. veranlassen müssen, die Schuldnerin darauf hinzuweisen. In diesem Fall hätte die Schuldnerin entscheiden können, ob sie eine weitergehende Prüfung einleitet.
36b) Allerdings folgt daraus allein noch nicht, dass aufgrund dieser Pflichtverletzung bei der Schuldnerin ein Insolvenzvertiefungsschaden eingetreten ist. Ein solcher Schaden liegt nur vor, wenn sich die Verbindlichkeiten eines insolvenzreifen Unternehmens wegen verspäteter Insolvenzantragstellung vermehren (vgl. BGH, Urteil vom 06.06.2013, IX ZR 204/12, juris, Rn. 27). Der Kläger hat hier jedoch schon nicht substantiiert dargelegt, dass die Schuldnerin zum 31.12.2010 zahlungsunfähig oder – mangels positiver Fortführungsprognose – insolvenzrechtlich überschuldet war.
37aa) Die Darlegungs- und Beweislast der Kausalität einer fehlerhaften Bilanz bzw. einer sonstigen Pflichtverletzung für den geltend gemachten Insolvenzverschleppungsschaden obliegt dem Kläger, der den Insolvenzvertiefungsschaden geltend macht (vgl. BGH, Urteil vom 26.01.2017, IX ZR 285/14, juris, Rn. 42). Danach muss er hier darlegen und beweisen, dass die Schuldnerin zum 31.12.2010 insolvenzreif war (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 27.10.2023, I-22 U 111/23, juris, Rn. 39 ff.). Als Insolvenzgrund kommt vorliegend allein eine Überschuldung i.S.v. § 19 InsO in Betracht; dies stellt auch der Kläger nicht in Frage.
38(1) Nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO liegt Überschuldung vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens in den nächsten zwölf Monaten ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich. Bei positiver Fortbestehensprognose ist eine eventuelle rechnerische Überschuldung für die Frage der insolvenzrechtlichen Überschuldung unerheblich (BeckOK/InsR/Wolfer, 36. Ed. 15.7.2024, InsO § 19 Rn. 9). Eine positive Fortführungsprognose setzt nach der Rechtsprechung des BGH in subjektiver Hinsicht den Fortführungswillen des Schuldners bzw. seiner Organe und in objektiver Hinsicht die sich aus einem aussagekräftigen Unternehmenskonzept herzuleitende Lebensfähigkeit des Unternehmens voraus. Dem schlüssigen und realisierbaren Unternehmenskonzept muss grundsätzlich ein Ertrags- und Finanzplan zugrunde liegen, der für den Prognosezeitraum aufzustellen ist und aus dem sich ergibt, dass die Finanzkraft der Gesellschaft mittelfristig zur Fortführung des Unternehmens ausreicht (BGH, Urteil vom 13.7.2021, II ZR 84/20, NJW 2021, 3046, Rn. 68 m.w.N.).
39(2) Auf Grundlage des Klägervortrags, auch unter Berücksichtigung der gutachterlichen Ausführungen des Sachverständigen C., lässt sich jedoch nicht feststellen, dass das Unternehmen der Schuldnerin bereits zum 31.12.2010 bzw. im darauffolgenden Jahr überschuldet i.S.d. § 19 InsO war.
40Schon der Vortrag des Klägers dazu, zu welcher Fortführungsprognose der Geschäftsführer seinerzeit gekommen wäre, ist erstinstanzlich vage geblieben. Mit Schriftsatz vom 14.02.2020 hat der Kläger dazu vorgetragen, der Geschäftsführer hätte „versucht, eine positive Fortführungsprognose zu erstellen. Eine solche hätte sich wahrscheinlich nicht mehr aufstellen lassen.“ (Bl. 928 GA-LG). Dieser Vortrag genügt indes nicht, um die Kausalität einer Pflichtverletzung für einen etwaigen Schaden darzulegen, worauf das Landgericht bereits im Hinweisbeschluss vom 15.06.2020 hingewiesen hat (Bl. 948 GA-LG). Entsprechendes gilt, soweit der Kläger sich in seiner Berufungserwiderung auf seinen Vortrag beruft, der Geschäftsführer der Schuldnerin hätte sich nach Hinweisen der Beklagten auf das Bestehen von Hindernissen zur Fortführung beraten lassen und gegebenenfalls wesentlich früher einen Insolvenzantrag gestellt (Bl. 291 GA-OLG).
41Nach wie vor ergibt sich aus dem Klägervortrag nicht, dass zum damaligen Zeitpunkt, also zum 31.12.2010, schon in objektiver Hinsicht eine positive Fortbestehensprognose nicht mehr möglich war. Ohne Erfolg beruft sich der Kläger darauf, dass sich eine Fortführungsprognose, die den vorgenannten höchstrichterlichen Anforderungen hätte genügen können, gar nicht hätte aufstellen lassen, erst recht nicht durch den Geschäftsführer der Schuldnerin, dem dazu schlicht die Expertise gefehlt habe (Bl. 474 GA-OLG). Der Kläger begründet dies zudem mit der „Fehlerhaftigkeit der eigenen wirtschaftlichen Daten, der Buchhaltung und Auswertungen“, insbesondere aufgrund erheblicher Fehler in der Buchhaltung der Schuldnerin (Bl. 472 ff. GA-OLG), was die Beklagten bestreiten (Bl. 501 GA-OLG). Dabei verkennt der Kläger, dass es originäre Aufgabe des Geschäftsführers eines Unternehmens ist, die wirtschaftliche Lage des Unternehmens laufend zu beobachten. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, muss er für eine Organisation sorgen, die ihm die dafür erforderliche Übersicht über die Gesellschaft jederzeit ermöglicht (BGH, Urteil vom 20.02.1995, II ZR 9/94, NJW-RR 1995, 669). Bei Anzeichen einer Krise hat er sich durch Aufstellung eines Vermögensstatus einen Überblick über den Vermögensstand zu verschaffen (BGH, Beschluss vom 24.09.2019, II ZR 248/17, juris, Rn. 21). Entsprechend hat der Geschäftsführer für die Beurteilungsgrundlage zu sorgen (vgl. BGH, Urteil vom 13.07.2021, II ZR 84/20, NJW 2021, 3046, Rn. 71); dies betrifft gemäß § 41 GmbHG auch die ordnungsgemäße Buchführung. Der Verweis auf die fehlende Expertise des Geschäftsführers der Schuldnerin und die unsichere Datengrundlage verfängt daher schon im Grundsatz nicht. Ungeachtet dessen trägt der Kläger, der als Insolvenzverwalter – wie die Beklagten zutreffend vortragen (Bl. 500 GA-OLG) – im Besitz der Buchhaltungsunterlagen ist, die nach § 36 Abs. 2 Nr. 1 InsO zur Insolvenzmasse gehören, die Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzung des von ihm geltend gemachten Insolvenzvertiefungsschadens. Um plausibel zu machen, dass ein Insolvenzantrag gestellt worden wäre, muss er angesichts des grundsätzlich anzunehmenden Fortführungswillens nachweisen, dass eine ordnungsgemäße positive Fortführungsprognose – auf entsprechenden Hinweis der Beklagtenseite hin – nicht hätte erstellt werden können, wobei unter Berücksichtigung des Beurteilungsspielraums des Geschäftsführers auf die Erkenntnismöglichkeiten eines ordentlichen Geschäftsleiters in der damaligen, konkreten Situation abzustellen ist (vgl. BGH, Urteil vom 13.07.2021, II ZR 84/20, BGHZ 230, 255-288, juris, Rn. 69). Dem Kläger obliegt im Haftungsprozess insoweit die volle Darlegungs- und Beweislast (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 27.10.2020, 12 U 82/20, juris, Rn. 72). Dem ist der Kläger hier nicht nachgekommen.
42Ebenfalls ohne Erfolg beruft sich der Kläger in seinem Schriftsatz vom 13.09.2024 darauf, dass zum Zeitpunkt der Aufstellung einer positiven Fortführungsprognose überhaupt nicht bekannt gewesen wäre, dass Vorräte überbewertet gewesen sind und somit eine wesentlich geringere Unterdeckung der Aktiva gegenüber den Passiva vorhanden war (Bl. 507 GA-OLG). Selbst wenn dies zutrifft, besagt dies allein noch nicht, dass der Geschäftsführer der Schuldnerin – unter Berücksichtigung der Erkenntnismöglichkeiten eines ordentlichen Geschäftsleiters in seiner damaligen Situation – keine positive Fortführungsprognose hätte aufstellen können. Und selbst wenn dem Geschäftsführer der Schuldnerin in Anwendung dieses Maßstabes eine Überbewertung der Vorräte nicht hätten auffallen müssen, legt der Kläger nicht weiter dar, wie sich dieser Fehler konkret auf die Fortführungsprognose ausgewirkt hätte.
43Auch der Sachverständige konnte auf der Grundlage der ihm vorliegenden Unterlagen nach seinen Ausführungen nicht zu einer eindeutigen Aussage in Bezug auf die Fortbestehensprognose kommen (Seite 8 des Gutachtens). Soweit der Sachverständige nach „Bereinigung des Ausweiswahlrechts und insbesondere nach Korrektur des linearisierten Ergebnisfehlers“ zu dem Schluss gekommen ist, dass eine positive Fortbestehensprognose zum 31.12.2010 nicht ohne Weiteres hätte bejaht werden können, genügt dies nicht. Entsprechendes gilt, soweit der Sachverständige im Rahmen der Abschlussanalyse auch Krisenwarnsignale einbezogen hat. Auch diesbezüglich nimmt der Sachverständige lediglich an, dass die Fortführung des Unternehmens nicht überwiegend wahrscheinlich gewesen sei. Dies geht – wie ausgeführt – zu Lasten des Klägers.
44bb) Da sich die Kausalität zwischen Pflichtverletzung der Beklagten und dem geltend gemachten Schaden hier nicht feststellen lässt, kommt es auch nicht darauf an, ob der Kläger einen erstattungsfähigen Schaden schlüssig dargelegt hat und ob ein etwaiger Schadensersatzanspruch des Klägers aufgrund eines der Schuldnerin analog § 31 BGB zuzurechnenden Mitverschuldens ihres Geschäftsführers erheblich gemindert oder sogar ganz ausgeschlossen ist.
453. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
46Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 543 Abs. 2 ZPO.
47Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 895.912,31 € festgesetzt.
48… … …