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1. Die Anordnung nach § 184 Abs. 1 S. 1 ZPO kann nicht im Wege der öffentli-chen Zustellung nach § 185 ZPO zugestellt werden, da es sich auch bei § 185 ZPO um eine fingierte Zustellung handelt, deren Inhalt dem Adressaten in der Regel nicht zur Kenntnis gelangt. § 184 Abs. 1 S. 1 ZPO lässt es aber nicht zu, die in § 184 Abs. 1 S. 2 ZPO vorgesehene Zustellungsfiktion auf ei-ne Zustellung zu gründen, die ebenfalls nur einer Fiktion entspringt.
2. Sind seit einem ersten erfolglosen Zustellversuch mehr als anderthalb Jahre vergangen, ist in der Regel – wenn nicht feststeht, dass die Auslandszustel-lung keinen Erfolg verspricht – der erneute Versuch einer Zustellung erfor-derlich, bevor die öffentliche Zustellung nach § 185 ZPO bewilligt werden kann.
3. Angesichts der besonderen Bedeutung des Grundrechts auf rechtliches Ge-hör ist eine informelle Information des Zustelladressaten – sei es durch ein-fachen Brief oder per Email – neben der öffentlichen Zustellung nach § 185 ZPO zwingend erforderlich, wenn die Anschrift oder sonstige Kontaktmög-lichkeiten bekannt oder im Wege einer einfachen Internetrecherche ohne Schwierigkeiten ermittelbar sind.
4. Die Heilung von Zustellungsmängeln nach § 189 ZPO setzt einen tatsächli-chen Zugang des zuzustellenden Dokuments bei dem Zustellungsempfän-ger voraus. Eine Ersatzzustellung nach § 178 ZPO genügt diesen Anforde-rungen nicht.
Auf Antrag der Beklagten vom 29.02.2024 wird die Zwangsvollstreckung aus dem Versäumnisurteil der 4a Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf vom 21.02.2023 (Az. 4a O 83/20) einstweilen eingestellt.
Gründe
2I.
3Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen Verletzung des deutschen Teils des EP ….x Unterlassung, Auskunft, Rechnungslegung, Rückruf und Schadensersatzfeststellung in Anspruch.
4Am 25.09.2020 erhob die Klägerin die vorliegende Klage (Bl. 1 ff. GA LG). Das Landgericht erließ am 05.10.2020 neben der prozessleitenden Verfügung (Bl. 36 ff. GA LG) einen Beschluss, durch den der Beklagten gemäß § 184 ZPO aufgegeben wurde, binnen eines Monats einen Zustellungsbevollmächtigten in der Bundesrepublik Deutschland zu benennen (Bl. 32 f. GA LG). Am 06.10.2020 leitete das Landgericht – unter Beifügung entsprechender chinesischer Übersetzungen – durch einen Antrag auf Zustellung eines gerichtlichen Schriftstücks im Ausland an die Rechtshilfeabteilung des Justizministeriums die Auslandszustellung der Klageschrift, der prozessleitenden Verfügung und des Beschlusses nach § 184 ZPO an die Beklagte in China ein (vgl. Bl. 38 GA LG).
5Anfragen des Landgerichts nach dem Sachstand des Zustellungsverfahrens blieben im Jahr 2021 erfolglos (vgl. Bl. 37 Rückseite GA LG). Mit Schriftsatz vom 04.01.2022 (Bl. 64 ff. GA LG) beantragte die Klägerin die öffentliche Zustellung der Klage. Mehrere gerichtliche Sachstandsanfragen an das Justizministerium über das Bundesamt für Justiz sowie die deutsche Botschaft in China blieben auch im Jahr 2022 erfolglos (vgl. Bl. 62 Rückseite GA LG). Mit Schriftsatz vom 27.07.2022 wiederholte die Klägerin ihren Antrag auf öffentliche Zustellung der Klageschrift (Bl. 73 f. GA LG). Im Oktober 2022 erhielt das Landgericht eine offizielle Mitteilung („certificate“) der zuständigen chinesischen Behörde, datiert auf den 06.04.2021, dass die Zustellung fehlgeschlagen und die Beklagte unter der angegebenen Adresse nicht zu finden gewesen sei (Bl. 78 ff. GA LG).
6Der auf dem Zustellungsersuchen angegebene Name und die Adresse der Beklagten stimmen mit der auf ihrer eigenen Internetseite www.D.com.cn angegebenen chinesischen Schreibweise überein. Die Klägerin ließ die angegebene Adresse mit Hilfe eines Taxifahrers kontrollieren und konnte bestätigen, dass sich dort – insoweit auch unstreitig – das Firmengelände der Beklagten befindet. Mit Schriftsatz vom 03.11.2022 (Bl. 87 ff. GA LG) beantragte die Klägerin erneut, die öffentliche Zustellung der Klage zu bewilligen.
7Mit Beschluss vom 04.11.2022 (Bl. 93 f. GA LG) bewilligte das Landgericht die öffentliche Zustellung der Klageschrift, der prozessleitenden Verfügung und des Beschlusses nach § 184 ZPO. Die Benachrichtigung über die öffentliche Zustellung wurde vom 11.11.2022 bis zum 13.12.2022 an der Gerichtstafel des Landgerichts Düsseldorf ausgehängt. Eine Verteidigungsanzeige der Beklagten ging innerhalb der hierzu gesetzten Frist von einem Monat nach Zustellung der Klageschrift (vgl. prozessleitende Verfügung vom 05.10.2020, Bl. 36 ff. GA LG) nicht ein.
8Durch Versäumnisurteil vom 21.02.2023 (Bl. 102 ff. GA LG) verurteilte das Landgericht die Beklagte antragsgemäß zur Unterlassung, Auskunftserteilung, Rechnungslegung und zum Rückruf und stellte die Schadensersatzpflicht der Beklagten dem Grunde nach fest. Die Adresse der Beklagten ist in dem Versäumnisurteil mit „X1, China“ angegeben. An diese Adresse veranlasste das Landgericht am 22.02.2023 die Zustellung des Versäumnisurteils durch Aufgabe zur Post (vgl. Bl. 120 f. GA LG).
9Mit Schriftsatz vom 24.02.2023 (Bl. 126 ff. GA LG) beantragte die Klägerin die öffentliche Zustellung des Versäumnisurteils. Durch Verfügung vom 27.02.2023 teilte das Landgericht der Klägerin mit, dass es einer öffentlichen Zustellung des Versäumnisurteils seines Erachtens nach nicht bedürfe, da das Versäumnisurteil der Beklagten wirksam nach § 184 ZPO durch Aufgabe zur Post habe zugestellt werden können.
10Mit Schriftsatz vom 03.11.2023 (Bl. 156 f. GA LG) haben sich für die Beklagte ihre jetzigen Prozessbevollmächtigten bestellt und auf Antrag zunächst Akteneinsicht erhalten. Mit Schriftsatz vom 07.11.2023 (Bl. 163 ff. GA LG) haben sie für die Beklagte Einspruch gegen das Versäumnisurteil eingelegt, wobei sie zugleich die vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung und im Hinblick auf die Einspruchsfrist hilfsweise Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt haben.
11Die Beklagte behauptet, erstmals am 24.10.2023 durch eine chinesische Pressemitteilung der Klägerin Kenntnis von dem hiesigen Verfahren erlangt zu haben. Ihr seien weder die Klageschrift noch das Versäumnisurteil zugegangen. Das Versäumnisurteil sei auch an die falsche Adresse geschickt worden. Richtigerweise laute ihre Adresse – wie auch auf ihrer offiziellen Website angegeben – „X2“.
12Die Beklagte wolle sich in der Sache gegen die Klage verteidigen. Sie habe die angegriffene Ausführungsform in China hergestellt und vertrieben, Vertriebshandlungen in Deutschland seien ihr nicht bekannt. Im Übrigen mache die angegriffene Ausführungsform von der Lehre des Klagepatents keinen Gebrauch.
13Die Klägerin behauptet, unter den E-Mail-Adressen A.com, B.com und C.com.cn mehrfach versucht zu haben, die Beklagte zu kontaktieren und sie bereits am 03.08.2020 abgemahnt zu haben. Auf die E-Mail vom 03.08.2020 habe sie eine Lesebestätigung erhalten. In einer weiteren E-Mail vom 03.09.2020 habe sie sich auf ihre Abmahnung bezogen und unter Beifügung des Entwurfs der Klageschrift angekündigt, Klage beim Landgericht Düsseldorf einzureichen. Diese E-Mail sei der Beklagten ausweislich einer Zustellungserklärung von 1X (vgl. Anlage KAP 13) zugestellt worden.
14Das Versäumnisurteil sei vom Gericht an die richtige Adresse gesandt worden. Der Straßenname „x-way“ sei die englische Übersetzung der chinesischen Zeichen; „z-Road“ sei die Schreibweise des chinesischen Namens in arabischen Buchstaben. Die Abweichung sei nicht geeignet, eine Verwechslung zu begründen. Die mit der Zustellung beauftragte Person könne ohne weiteres erkennen, dass die Adresse – wie bei internationalen Briefen üblich – in englischer Sprache angegeben sei.
15Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei der Beklagten nicht zu gewähren. Sie habe die Einspruchsfrist nicht unverschuldet versäumt. Jedenfalls sei das Versäumnisurteil der Beklagten am 23.08.2023 mit der Sendungsnummer EMS……. zugestellt worden. Selbst wenn das Urteil nur einem Pförtner übergeben worden sei, so sei es jedenfalls zurechenbar in den Herrschaftsbereich der Beklagten gelangt, so dass diese Gelegenheit gehabt habe, von seinem Inhalt Kenntnis zu nehmen.
16Das Landgericht hat den Einspruch der Beklagten mit Urteil vom 29.11.2023 (Bl. 213 ff. GA LG) als unzulässig verworfen und den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist zurückgewiesen.
17Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit ihrer am 28.12.2023 eingegangenen Berufung. Sie beantragt, das landgerichtliche Urteil vom 29.11.2023 sowie das Versäumnisurteil vom 21.02.2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise die Sache zur erneuten bzw. weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen. Außerdem beantragt sie, die Zwangsvollstreckung aus dem Versäumnisurteil vom 21.02.2023 ohne, hilfsweise gegen Sicherheitsleistung einstweilen einzustellen. Dem tritt die Klägerin entgegen.
18II.
19Die Zwangsvollstreckung aus dem Versäumnisurteil vom 21.02.2023 (Az. 4a O 83/20) ist gemäß §§ 719 Abs. 1 Satz 1, 707 Abs. 1 Satz 1 ZPO ohne Sicherheitsleistung einstweilen einzustellen.
201.
21Gemäß §§ 719, 707 ZPO kann, wenn gegen ein für vorläufig vollstreckbar erklärtes Urteil Einspruch oder Berufung eingelegt wird, die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil – gegen oder ohne Sicherheitsleistung – einstweilen eingestellt werden.
22Für die Entscheidung über den Einstellungsantrag ist das Berufungsgericht zuständig, soweit dessen Zuständigkeit im Rahmen eines anhängigen Berufungsverfahrens begründet ist (Götz in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2020, § 707 Rn 7).
23Bei der zu treffenden Ermessensentscheidung hat das Gericht die widerstreitenden Interessen des Gläubigers einerseits und des Schuldners andererseits umfassend abzuwägen. Für den Bereich des Patent- und Gebrauchsmusterrechts besteht die Besonderheit, dass die Laufzeit des Schutzrechts und damit das von ihm vermittelte Unterlassungsgebot zeitlich begrenzt ist, weshalb jedenfalls bei einem zeitnahen Ablauf des Schutzrechts jedes Hinausschieben der Zwangsvollstreckung zu einem vollständigen Leerlaufen des Unterlassungsanspruchs führen kann (BGH, GRUR 2000, 862 – Spannvorrichtung; OLG Düsseldorf [2. ZS], BeckRS 2019, 24918; OLG Karlsruhe, GRUR-RR 2015, 326 – Mobiltelefone).
24Die Einstellung der Zwangsvollstreckung ist vor diesem Hintergrund grundsätzlich nur dann gerechtfertigt, wenn entweder bereits im Zeitpunkt der Entscheidung über den Einstellungsantrag bei der im Verfahren nach §§ 719, 707 ZPO gebotenen summarischen Prüfung festgestellt werden kann, dass das angefochtene Urteil voraussichtlich keinen Bestand haben wird, oder wenn der Schuldner die Gefahr eines besonderen Schadens darlegen und glaubhaft machen kann, der über die allgemeinen Vollstreckungswirkungen hinausgeht (Senat, BeckRS 2016, 1679; Senat, BeckRS 2016, 1680; Senat, BeckRS 2016, 9323; OLG Düsseldorf [2. ZS], GRUR-RS 2019, 24918 – Cholesterinsenker; OLG Düsseldorf [2. ZS], GRUR-RR 2010, 122 – prepaid telephone calls; InstGE 9, 173 – Herzlappenringprothese; OLG Karlsruhe, GRUR-RR 2015, 326 – Mobiltelefone; GRUR-RR 2015, 50 – Leiterbahnstrukturen).
25Voraussichtlich keinen Bestand hat das angefochtene Urteil bei offensichtlicher bzw. evidenter Fehlerhaftigkeit. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Erwägungen, die für die erstinstanzliche Entscheidung tragend sind. Erweisen sich diese Feststellungen oder rechtlichen Erwägungen bei der anzustellenden summarischen Prüfung als nicht tragfähig, so ist die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil regelmäßig einstweilen einzustellen. Dies gilt in der Regel ungeachtet dessen, ob sich das angefochtene Urteil im Ergebnis möglicherweise mit anderen Feststellungen oder aufgrund anderer rechtlicher Erwägungen als zutreffend erweisen kann (Senat, BeckRS 2016, 1679; Senat, BeckRS 2016, 1680; Senat, BeckRS 2016, 9323; OLG Düsseldorf [2. ZS], GRUR-RS 2019, 24918 – Cholesterinsenker; OLG Karlsruhe, GRUR-RR 2015, 326 – Mobiltelefone; OLG Karlsruhe, GRUR-RR 2015, 50 – Leiterbahnstrukturen). Denn der Grundsatz, dass eine Einstellung nur dann geboten ist, wenn bereits im Zeitpunkt der Entscheidung über den Einstellungsantrag bei summarischer Prüfung festgestellt werden kann, dass das angefochtene Urteil voraussichtlich keinen Bestand haben wird, beruht darauf, dass sich das Gericht, dessen Urteil angefochten ist, bereits im Einzelnen mit dem Sachverhalt befasst und über die sich stellenden Fragen entschieden hat. Dann genießt die Entscheidung das Vertrauen, welches seine vorläufige Vollstreckbarkeit und damit den grundsätzlichen Vorrang der Interessen des obsiegenden Klägers rechtfertigt. Diese Erwägung kommt jedoch nicht zum Tragen, wenn das erstinstanzliche Gericht wesentliche, entscheidungserhebliche Aspekte des Falls außer Acht gelassen und über die sich insoweit stellenden Fragen nicht entschieden hat (OLG Düsseldorf [2. ZS], GRUR-RR 2010, 122 – prepaid-telephone-calls).
262.
27Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Zwangsvollstreckung aus dem Versäumnisurteil vom 21.02.2023 einstweilen einzustellen. Die Entscheidung des Landgerichts, den Einspruch der Beklagten gegen das Versäumnisurteil vom 21.02.2023 als unzulässig zu verwerfen, ist offensichtlich fehlerhaft. Der Einspruch der Beklagten vom 07.11.2023 ist zulässig, insbesondere ist er fristgerecht eingelegt worden.
28a)
29Es kann dahinstehen, ob das Landgericht das Versäumnisurteil vom 21.02.2023 an die richtige Adresse der Beklagten gesandt hat bzw. ob eine etwaige fehlerhafte Angabe der Anschrift die Gefahr von Verwechslungen begründet hat. Denn durch die Aufgabe des Versäumnisurteils zur Post am 22.02.2023 konnte schon deshalb keine Frist zur Einlegung des Einspruchs nach § 339 Abs. 1 ZPO in Gang gesetzt werden, weil die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Zustellung des Versäumnisurteils durch Aufgabe zur Post gemäß § 184 Abs. 1 S. 2 ZPO nicht vorlagen.
30Die Zustellung durch Aufgabe zur Post ist nach § 184 Abs. 1 S. 2 ZPO nur zulässig, wenn die betroffene Partei keinen Zustellungsbevollmächtigten benannt hat, obgleich sie dazu gemäß § 184 Abs. 1 S. 1 ZPO verpflichtet war. Eine solche Verpflichtung besteht für die im Ausland ansässige Partei erst nach Rechtshängigkeit, also nach rechtswirksamer Zustellung der Klageschrift (§§ 261 Abs. 1, 353 Abs. 1 ZPO). Erst dann nämlich besteht ein Prozessrechtsverhältnis, das eine Prozessförderungspflicht, wie sie in § 184 Abs. 1 S. 1 ZPO bestimmt ist, begründen kann (BGH, NJW 2013, 387 Rn 23). Die Anordnung nach § 184 Abs. 1 S. 1 ZPO kann dem Zustellungsadressaten zwar grundsätzlich bereits mit dem verfahrenseinleitenden Schriftstück zugestellt werden (Häublein/Müller in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2020, § 184 Rn 9; Matthes in Cepl/Voß, Prozesskommentar Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, 3. Auflage 2022, § 184 Rn 3; Dörndorfer in BeckOK ZPO, 51. Edition, Stand: 01.12.2023, § 184 Rn 3), sie muss aber zwingend im Wege der Zustellung nach § 183 Abs. 2 bis 5 ZPO vorgenommen werden (vgl. BGH, NJW 2011, 2218 Rn 11; BGH, NJW 2011, 1885 Rn 10). Dies ergibt sich bereits aus dem insofern klaren Wortlaut des § 184 Abs. 1 S. 1 ZPO, darüber hinaus aber auch aus der gesetzgeberischen Intention dieser Vorschrift. § 184 ZPO bezweckt eine beschleunigte Durchführung von Zustellungen, die an sich nach § 183 Abs. 2 bis 5 ZPO im Ausland vorzunehmen wären, weil der Zustellungsadressat im Inland weder einen Wohn- oder Geschäftssitz hat noch sich hier aufhält. Das Gericht kann in diesem Falle anordnen, dass die Partei einen im Inland ansässigen Zustellungsbevollmächtigten benennt. Eine entsprechende Pflicht zur Benennung eines im Inland ansässigen Zustellungsbevollmächtigten wird aus dem (schon bestehenden) Prozessrechtsverhältnis abgeleitet. Die mit der (fiktiven) Zustellung durch Aufgabe zur Post verbundenen Belastungen für den Empfänger verlangen zwingend, dass ihm die Anordnung nach § 184 Abs. 1 S. 1 ZPO bekannt ist und er – seine Prozessförderungspflicht missachtend – trotzdem keinen inländischen Zustellungsbevollmächtigten benennt (vgl. hierzu auch: BPatG, BeckRS 2019, 25777 Rn 44). Ist ihm die Anordnung nach § 184 Abs. 1 S. 1 ZPO hingegen nicht bekannt, so verbietet es der Grundsatz des Anspruchs auf rechtliches Gehör, eine Zustellung durch Aufgabe zur Post gemäß § 184 Abs. 1 S. 2 ZPO zu fingieren. Insbesondere kann deshalb die Anordnung nach § 184 Abs. 1 S. 1 ZPO nicht im Wege der öffentlichen Zustellung nach § 185 ZPO zugestellt werden, da es sich auch bei § 185 ZPO um eine fingierte Zustellung handelt, deren Inhalt dem Adressaten in der Regel nicht zur Kenntnis gelangt. § 184 Abs. 1 S. 1 ZPO lässt es aber nicht zu, die in § 184 Abs. 1 S. 2 ZPO vorgesehene Zustellungsfiktion auf eine Zustellung zu gründen, die ebenfalls nur einer Fiktion entspringt. Ist es nicht möglich, Klageschrift, prozessleitende Verfügung und Anordnung nach § 184 Abs. 1 S. 1 ZPO gemäß § 183 Abs. 2 bis 5 ZPO zuzustellen, bleibt deshalb nur die Möglichkeit, alle weiteren Zustellungen im Wege der öffentlichen Zustellung nach § 185 ZPO zu bewirken, sofern die Voraussetzungen dieser Vorschrift im Einzelfall vorliegen.
31Entgegen der Auffassung des Landgerichts war danach die Einspruchsfrist des § 339 Abs. 1 ZPO noch nicht abgelaufen, als die Einspruchsschrift am 07.11.2023 bei dem Landgericht eingegangen ist. Die nach Maßgabe des § 184 Abs. 1 S. 2 ZPO bewirkte Zustellung des Versäumnisurteils durch Aufgabe zur Post hat die Einspruchsfrist des § 339 Abs. 1 ZPO, welche von einer wirksamen Zustellung abhängt (vgl. BGHZ 98, 263, 267), nicht in Lauf setzen können. Wird – wie vorliegend – unter Verstoß gegen § 184 Abs. 1 S.1 ZPO nach § 184 Abs. 1 S. 2 ZPO zugestellt, ist die Zustellung unwirksam; Fristen beginnen nicht zu laufen (BGH, NJW 2011, 2218 Rn 12). Die Aufgabe des Versäumnisurteils zur Post am 22.02.2023 vermochte deshalb keine Fristen in Gang zu setzen.
32b)
33Der formgerecht eingelegte Einspruch der Beklagten ist auch nicht auf Grund einer nachfolgenden Heilung des Zustellungsmangels verfristet.
34Insofern kann dahinstehen, ob das Versäumnisurteil am 23.08.2023 unter der Sendungsnummer EMS……. einem auf dem Firmengelände der Beklagten tätigen Pförtner übergeben oder im dortigen Empfangsbereich anderweitig hinterlegt wurde. Denn die Heilung von Zustellungsmängeln nach § 189 ZPO setzt einen tatsächlichen Zugang des zuzustellenden Dokuments bei dem Zustellungsempfänger voraus. Der Zustellungsadressat muss das zuzustellende Dokument tatsächlich erhalten haben, so dass er von dem Inhalt Kenntnis nehmen konnte (BGH, NJW 2007, 1605). Das ist dann der Fall, wenn er es in die Hand bekommen hat (BGH, NZG 2020, 70; BFH, NJW 2014, 2524).
35Eine Ersatzzustellung nach § 178 ZPO genügt diesen Anforderungen nicht (Häublein/Müller in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2020, § 189 Rn 14; Matthes in Cepl/Voß, Prozesskommentar zum Gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht, 3. Auflage 2022, § 189 Rn 7). Der in § 189 ZPO geforderte „tatsächliche Zugang“ geht über den materiell-rechtlichen Zugangsbegriff des § 130 BGB hinaus und begnügt sich nicht mit der durch die Begriffe „Machtbereich“ und „Gelegenheit zur Kenntnisnahme“ bewirkten Risikozuweisung (Häublein/Müller in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2020, § 189 Rn 13). Für diese Auslegung spricht neben dem Wortlaut des § 189 ZPO („tatsächlich“) vor allem das systematische Argument, dass die Formen der Übermittlung, bei denen der Zugang normativ oder gar fiktiv bestimmt wird, in den Vorschriften über die (Ersatz-) Zustellung abschließend geregelt sind. Hiervon grenzt sich § 189 ZPO durch die Bezugnahme auf den „tatsächlichen Zugang“ ausdrücklich ab.
36Ein in diesem Sinne „tatsächlicher Zugang“ der Beklagten zu dem Versäumnisurteil vom 21.02.2023 kann nicht festgestellt werden. Ausweislich einer als Anlage B3/B3a zur Akte gereichten beglaubigten Erklärung der ausführenden Niederlassung der China 2X hat der zuständige Postbote die Postsendung im Namen von Frau QX selbst unterzeichnet und im Eingangsbereich des Bürogebäudes der Beklagten beim Pförtner zurückgelassen. Der als „Admin Director“ bei der Beklagten für die Weiterleitung von E-Mails, Post, Briefen und Paketen zuständige Mitarbeiter, Herr JX, hat erklärt, die Postsendung nicht erhalten und erst seit dem 24.10.2023 Kenntnis von dem Versäumnisurteil zu haben (vgl. Anlage B2/B2a). Eine gleichlautende Erklärung hat die zuständige Mitarbeiterin der Rechtsabteilung der Beklagten, Frau MX, abgegeben (vgl. Anlage B1/1a).
37Der Pförtner ist aber kein Vertreter oder Bevollmächtigter im Sinne der §§ 170-172 ZPO. Selbst wenn man also annehmen wollte, das Versäumnisurteil vom 21.02.2023 sei dem im Eingangsbereich des Firmengeländes der Beklagten tätigen Pförtner am 23.08.2023 übergeben worden, konnte hierdurch eine wirksame Zustellung nach § 189 ZPO nicht bewirkt werden. Aus diesem Grunde ist auch am 23.08.2023 keine Frist zur Einlegung des Einspruchs in Gang gesetzt worden.
38Dabei kommt es nicht mehr – wie noch nach dem bis zum 16.06.2017 gültigen § 339 Abs. 2 ZPO a.F. – darauf an, dass in dem Versäumnisurteil vom 21.02.2023 die Einspruchsfrist fehlerhaft mit zwei Wochen angegeben ist. Nach der seit dem 17.06.2017 gültigen Neufassung des § 339 Abs. 2 ZPO ist die Einspruchsfrist bei einer Zustellung im Ausland nicht mehr generell richterlich zu bestimmen, sondern beträgt per Gesetz mindestens einen Monat. Die Unrichtigkeit der nach § 340 Abs. 3 S. 4 ZPO vorgeschriebenen Belehrung hindert den Beginn der Einspruchsfrist nicht (Toussaint in BeckOK ZPO, 51. Edition Stand: 01.12.2023, § 339 Rn 6); sie kann aber eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründen (Toussaint in BeckOK ZPO, 51. Edition Stand: 01.12.2023, § 339 Rn 7).
39c)
40Die einmonatige Einspruchsfrist nach § 339 Abs. 2 S. 1 ZPO ist somit frühestens mit Kenntniserlangung der Beklagten vom Inhalt des Versäumnisurteils am 24.10.2023 in Gang gesetzt worden. Mithin war die Einspruchsfrist bei Eingang des Einspruchs der Beklagten am 07.11.2023 noch nicht abgelaufen.
41d)
42Da die Einspruchsfrist gewahrt worden ist, bedurfte es keiner Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten. Durch den Einspruch wird vielmehr nach § 342 ZPO der Weg zu der auch vom Bundesverfassungsgericht geforderten Sachentscheidung eröffnet (vgl. BGH, NJW 2002, 827, 829; BGH, NJW 2007, 303) und der Prozess in die Lage zurückversetzt, in der er sich vor Eintritt der Säumnis befand.
433.
44Nach § 719 Abs. 1 S. 2 ZPO ist die Zwangsvollstreckung aus dem Versäumnisurteil vom 21.02.2023 ohne Sicherheitsleistung einzustellen, weil das Versäumnisurteil nicht in gesetzlicher Weise ergangen ist.
45a)
46Ein Fall der Säumnis der Beklagten nach § 331 Abs. 3 S. 1 ZPO, auf den das Landgericht den Erlass des Versäumnisurteils gestützt hat, lag nicht vor. Zwar hat die Beklagte binnen der vom Landgericht mit der prozessleitenden Verfügung vom 05.10.2020 gesetzten Monatsfrist nicht angezeigt, sich gegen die Klage verteidigen zu wollen, allerdings sind weder die Klageschrift noch die prozessleitende Verfügung der Beklagten wirksam zugestellt worden, so dass die Frist des § 276 Abs. 1 S. 1 u. 3 ZPO nicht in Gang gesetzt wurde.
47Ausweislich der Mitteilung der zuständigen chinesischen Behörde vom 06.04.2021 ist die vom Landgericht veranlasste Auslandszustellung nach § 183 Abs. 2 S. 1 ZPO fehlgeschlagen. Das Landgericht hat daraufhin mit Beschluss vom 04.11.2022 die öffentliche Zustellung u.a. der Klageschrift vom 25.09.2020 und der prozessleitenden Verfügung vom 05.10.2020 bewilligt.
48Im vorliegenden Fall lagen schon die Voraussetzungen für die Bewilligung der öffentlichen Zustellung nicht vor (s. hierzu nachfolgend unter lit. aa). Jedenfalls aber ist die vom Landgericht durchgeführte öffentliche Zustellung deshalb unwirksam und konnte keine Fristen in Gang setzen, weil die Beklagte rechtsfehlerhaft nicht zumindest informell über den wesentlichen Inhalt der Klageschrift und der prozessleitenden Verfügung informiert wurde (s. hierzu unter lit. bb).
49aa)
50Nach § 185 Nr. 3 ZPO kann eine öffentliche Zustellung trotz bekannten Aufenthalts der Beklagten im Ausland angeordnet werden, wenn die Zustellung im Ausland nicht möglich ist oder keinen Erfolg verspricht. Dies ist der Fall, wenn ein Rechtshilfeabkommen mit dem betreffenden Staat nicht besteht und auch vertraglos nicht stattfindet (OLG Köln, MDR 2008, 1061) oder wenn Rechtshilfe tatsächlich oder erfahrungsgemäß – etwa aus politischen Gründen – verweigert wird (OLG Hamburg, BeckRS 2019, 9106 Rn 66; Dörndorfer in BeckOK ZPO, 51. Edition, Stand: 01.12.2023, § 185 Rn 6).
51Die Vorschriften über die Zustellung dienen der Verwirklichung des rechtlichen Gehörs (BVerfG, NJW-RR 2010, 421, 422). An die Feststellungen, dass die Voraussetzungen der öffentlichen Zustellung vorliegen, sind deshalb im Erkenntnisverfahren wegen der Intensität eines Eingriffs in dieses grundrechtsgleiche Recht durch eine öffentliche Zustellung hohe Anforderungen zu stellen (BGH, BeckRS 2023, 39546 Rn 5; BGH, BeckRS 2018, 3329, Rn. 16; BGH, NJW-RR 2013, 307 Rn. 16; BGH, NJW 2012, 3582 Rn. 17; OLG Düsseldorf [2. ZS], BeckRS 2017, 162304 Rn 25). Sie darf nur dann bewilligt werden, wenn feststeht, dass eine andere Form der Zustellung nicht oder nur schwer durchführbar ist (BVerfG, NJW 1988, 2361).
52Das gilt erst Recht in Patent- und Gebrauchsmusterverletzungsstreitigkeiten. Hier kann die öffentliche Zustellung nur ultima ratio sein. Werden Klageschrift und prozessleitende Verfügung öffentlich zugestellt, fehlt dem Beklagten regelmäßig nicht nur die Möglichkeit, zur Auslegung des Schutzrechts und zur technischen Gestaltung der angegriffenen Ausführungsform Stellung zu nehmen. Er hat in der Regel auch keine Gelegenheit, zumindest aber keinen Anlass, die Schutzfähigkeit des entsprechenden Patents bzw. Gebrauchsmusters anzugreifen oder in Zweifel zu ziehen. Gleichwohl kann am Ende des Verfahrens ein Urteil stehen, nach dem ein Produkt ggf. dauerhaft vom Markt genommen werden muss (vgl: OLG Düsseldorf [2. ZS], BeckRS 2017, 162304 Rn 26). Das ist nur dann gerechtfertigt, wenn alle dem Gericht zur Verfügung stehenden Zustellmöglichkeiten erfolglos ausgeschöpft wurden.
53Dies ist vorliegend nicht der Fall. Im Verhältnis zur Volksrepublik China existiert ein Rechtshilfeabkommen. Zustellungen sind nach dem Haager Zustellübereinkommen vom 15. November 1965 durchzuführen (HZÜ, BGBl. 1992 II S. 146). Als zentrale Behörde für Zustellungen durch ausländische Stellen im Sinne des § 2 HZÜ ist in der Volksrepublik China das chinesische Justizministerium („Ministry of Justice of the People's Republic of China“) bestimmt worden.
54Im Ausgangspunkt richtig hat das Landgericht deshalb am 06.10.2020 die Auslandszustellung der Klageschrift und der prozessleitenden Verfügung nach § 183 Abs. 3 S. 1 ZPO veranlasst. Dass diese Zustellung fehlgeschlagen ist, begründet noch nicht die Annahme, dass die Volksrepublik China die internationale Rechtshilfe im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland tatsächlich oder erfahrungsgemäß verweigert. Keinen Erfolg verspricht die Auslandszustellung erst dann, wenn sie einen derart langen Zeitraum in Anspruch nehmen würde, dass ein Zuwarten der betreibenden Partei billigerweise nicht zugemutet werden kann (OLG Düsseldorf [2. ZS], BeckRS 2017, 162304 Rn 49).
55Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben. Zwar ist die Mitteilung der chinesischen Behörden über die fehlgeschlagene Zustellung erst nach außergewöhnlich langer Zeit (zwei Jahre nach der Veranlassung der Auslandszustellung) zu den Akten gelangt, der Grund hierfür bleibt allerdings unklar. So datiert die Mitteilung der chinesischen Behörden selbst bereits auf den 06.04.2021, womit die Bearbeitung des Zustellungsersuchens etwa fünf Monate in Anspruch genommen hätte. Dieser Zeitraum erscheint nicht ungewöhnlich lang und zur Gewährung rechtlichen Gehörs hinnehmbar (BGH, BeckRS 2009, 6405: mindestens sechs bis neun Monate; OLG Köln, BeckRS 2008, 12371: ein Jahr; Wittschier in Musielak/Voit, ZPO, 20. Auflage 2023, § 185 Rn 6: Grenze bei einem Jahr). Das verdeutlicht, dass die Bearbeitung eines Zustellungsersuchens in China durchaus zeitnah erfolgen kann. Für den verspäteten Eingang der Mitteilung beim Landgericht mag es verschiedene Erklärungen geben, etwa ein Versehen im Postlauf, ggf. auch bedingt durch die besondere Situation während der Corona Pandemie, die insbesondere in dem hier maßgeblichen Zeitraum im Jahr 2021 zu zum Teil erheblichen Einschränkungen bei internationalen Post- und Paketsendungen geführt hat.
56Unter Berücksichtigung des langen Zeitraums zwischen dem ersten (erfolglosen) Zustellungsversuch gemäß der Verfügung vom 06.10.2020 und der Bewilligung der öffentlichen Zustellung am 04.11.2022 durfte das Landgericht mit Blick auf die Verfahrensgarantie des Art. 103 Abs. 1 GG vor der öffentlichen Zustellung der Klageschrift und der prozessleitenden Verfügung nicht auf einen weiteren Zustellversuch unter der bekannten Geschäftsanschrift der Beklagten verzichten.
57In der Mitteilung der chinesischen Behörde vom 06.04.2021 findet sich der Hinweis: „No such company at the address provided. The recipient could not be found without more contact details“. Diese Mitteilung war erkennbar falsch. Dies hat die Klägerin selbst durch die Beauftragung eines Taxifahrers verifiziert, der das Unternehmen der Beklagten unter der im Zustellungsauftrag angegebenen Adresse ohne Schwierigkeiten auffinden konnte.
58Zwischen der Mitteilung der chinesischen Behörden über den erfolglosen Zustellversuch vom 06.04.2021 und der Bewilligung der öffentlichen Zustellung am 04.11.2022 sind mehr als anderthalb Jahre vergangen. Nach einem solchen Zeitablauf ist der erneute Versuch einer Zustellung zwingend erforderlich (vgl. hierzu auch: BGH, GRUR 2019, 322 Rn 15 ff.: erneuter Zustellversuch erforderlich nach sieben Monaten). Zum einen können sich die tatsächlichen Gegebenheiten und insbesondere die Möglichkeiten der wirksamen Zustellung in der Zwischenzeit geändert haben, zum anderen kann erfahrungsgemäß die erste fehlgeschlagene Zustellung auch darauf beruhen, dass die Zustellung unsorgfältig ausgeführt worden ist (vgl. BGH, GRUR 2019, 322 Rn19 unter Verweis auf: BFH, BeckRS 2002, 25000670, juris-Rn. 11; vgl. auch: OLG Brandenburg, BeckRS 2021, 43985 Rn 23). Aufgrund der grundsätzlich funktionierenden Rechtshilfe mit China (vgl. auch: OLG Hamburg, BeckRS 2019, 9106 Rn 81) stand vor diesem Hintergrund zu erwarten, dass ein erneuter Zustellungsversuch an der bekannten Adresse der Beklagten in China in noch hinnehmbarer Zeit zum Erfolg führen würde.
59bb)
60Im Übrigen leidet die öffentliche Zustellung der Klageschrift und der prozessleitenden Verfügung – ihre Zulässigkeit unterstellt – auch deshalb an einem Verfahrensmangel, weil eine informelle Information der Beklagten seitens des Gerichts unterblieben ist.
61Das Erfordernis, den Zustellungsadressaten einer öffentlichen Zustellung jedenfalls informell über die Bewilligung der öffentlichen Zustellung und den wesentlichen Inhalt der zustellenden Dokumente zu informieren, folgt aus dem Gebot des rechtlichen Gehörs, welches sich aus Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 47 Abs. 2 EU-Grundrechtscharta ergibt. Angesichts der besonderen Bedeutung des Grundrechts auf rechtliches Gehör ist eine informelle Information des Zustelladressaten – sei es durch einfachen Brief oder per Email – neben der öffentlichen Zustellung zwingend erforderlich, wenn – wie vorliegend – die Anschrift oder sonstige Kontaktmöglichkeiten bekannt oder im Wege einer einfachen Internetrecherche ohne Schwierigkeiten ermittelbar sind (OLG Hamburg, BeckRS 2019, 9106; OLG Frankfurt a.M., BeckRS 2018, 3326 Rn. 13; OLG Köln, BeckRS 2008, 12371 Rn. 6; OLG Köln, NJW-RR 1998, 1683, 1684; Dörndorfer in BeckOK ZPO, 51. Edition, Stand: 01.12.2023, § 185 Rn 6; nunmehr wohl auch: Häublein/Müller in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2020, § 185 Rn 22; so im Übrigen auch die Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 04.04.2022, S. 4, Bl. 67 GA LG).
62Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs soll die ordnungsgemäße Erfüllung der Zustellvorschriften gewährleisten, dass der Adressat Kenntnis von dem zuzustellenden Schriftstück nehmen und seine Rechtsverteidigung darauf einrichten kann (BVerfG, NJW 1988, 2361; BGH, NJW-RR 2012, 1012). Ob schon jeder Zustellungsmangel zur Verfehlung dieses verfassungsrechtlich gebotenen Zwecks führt, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner grundlegenden Entscheidung vom 26.10.1987 (NJW 1988, 2361) zwar offengelassen. Es hat jedoch die Zustellfiktion im Fall der öffentlichen Zustellung wegen unbekannten Aufenthalts (§ 185 Abs. 1 ZPO, damals § 203 Abs. 1 ZPO a. F.) nur dann für verfassungsrechtlich gerechtfertigt angesehen, „wenn eine andere Art der Zustellung aus sachlichen Gründen nicht oder nur schwer durchführbar ist, sei es wegen des unbekannten Aufenthalts des Zustellungsempfängers, sei es wegen der Vielzahl oder Unüberschaubarkeit des Kreises der Betroffenen“. Verfassungsrechtlich unbedenklich ist die Zustellfiktion des § 185 ZPO danach nur dann, wenn eine Kenntnisnahme des Zustellempfängers auf anderen Wegen ersichtlich keinen oder nur geringen Erfolg verspricht.
63Hieraus folgt für den Fall des bekannten Aufenthalts des Zustelladressaten im Ausland, der – wie hier – mit modernen Kommunikationsmitteln ohne weiteres erreicht werden kann, zwingend das Gebot, ihn im Fall einer öffentlichen Zustellung über diese Informationswege von dem Verfahren und insbesondere von der Klageschrift und relevanten Fristen in Kenntnis zu setzen. Dies gebietet eine verfassungskonforme Auslegung des § 185 ZPO. Denn nur so kann im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs der Zweck der Zustellvorschriften gewährleistet werden.
64Hierauf hat die Klägerin mit ihrem Schriftsatz vom 04.01.2022 selbst hingewiesen und für den Fall der Bewilligung der öffentlichen Zustellung der Klage die informelle Benachrichtigung der Beklagten – per einfachem Brief oder per E-Mail – angeregt (Schriftsatz vom 04.01.2022, S. 4, Bl. 67 GA LG). Dass sie dabei ggf. fehlerhafte Kontaktdaten der Beklagten angegeben hat, ändert an dem Erfordernis der informellen Benachrichtigung im Grundsatz nichts. Denn zum einen hat das Landgericht die von der Klägerin angegebenen Kontaktdaten nicht genutzt, um die Beklagte von dem Inhalt der Klageschrift und der prozessleitenden Verfügung zu informieren, zum anderen lagen ihm auch die richtigen Kontaktdaten der Beklagten vor. Die bereits im Zustellungsersuchen verwendete Adresse der Beklagten in chinesischen Schriftzeichen war unstreitig richtig und das Landgericht konnte nach der Verifizierung dieser Adresse durch die Klägerin trotz der einmalig fehlgeschlagenen Zustellung auch davon ausgehen, dass ein an diese Adresse gerichtetes Schreiben die Beklagte erreichen würde. Zudem waren dem Landgericht aus dem schriftsätzlichen Vortrag der Klägerin die beiden E-Mail-Adressen B.com und C.com.cn bekannt, über die die Beklagte ausweislich ihrer offiziellen Website zu erreichen ist. Allein der Umstand, dass die Beklagte auf an diese E-Mail-Adressen gerichtete Schreiben der Klägerin nicht reagiert hat, lässt nicht den Schluss zu, eine seitens des Gerichts über diese Adressen versandte Information sei von vornherein aussichtslos.
65cc)
66Eine Information seitens des Gerichts war auch nicht deshalb entbehrlich, weil die Beklagte im Zeitpunkt der Bewilligung der öffentlichen Zustellung am 04.11.2022 bereits anderweitig Kenntnis von dem Inhalt der Klageschrift und der prozessleitenden Verfügung erlangt hatte. Ungeachtet der Frage, ob eine informelle Information seitens der Klägerin überhaupt Einfluss auf die Informationspflichten des Gerichts haben könnte – woran der Senat angesichts der unterschiedlichen Wahrnehmung und Bedeutung von gerichtlichen und privaten Mitteilungen erhebliche Zweifel hat –, stammen die von der Klägerin angeführten E-Mails an die Beklagte sämtlich aus August/September 2020 und konnten schon deshalb naturgemäß keine Informationen über den Inhalt der prozessleitenden Verfügung vom 05.10.2020 enthalten. In Anbetracht des mit der öffentlichen Zustellung der Klageschrift und der prozessleitenden Verfügung verbundenen intensiven Eingriffs in das rechtliche Gehör der Beklagten hätte es dem Landgericht daher zwingend oblegen, selbst mit der Beklagten in Kontakt zu treten und diese von der Erhebung der Klage und den mit der prozessleitenden Verfügung vom 05.10.2020 gesetzten Fristen in Kenntnis zu setzen.
67dd)
68Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der Beklagten der Umstand der von der Klägerin beabsichtigten Klageerhebung anderweitig bekannt war und sie sich in rechtsmissbräuchlicher Weise der Zustellung der Patentverletzungsklage entzogen hätte, was sie nach § 242 BGB daran hindern würde, sich auf einen Mangel der Zustellung zu berufen.
69Als rechtsmissbräuchlich hat der Bundesgerichtshof insofern das Berufen auf die Unwirksamkeit einer öffentlichen Zustellung erachtet, wenn der Zustellungsadressat zielgerichtet versucht hat, eine Zustellung, mit der er sicher rechnen musste, zu verhindern (BGH, NJW-RR 2008, 1310). Entsprechendes lässt sich vorliegend nicht feststellen.
70Soweit die Klägerin vorträgt, unter der E-Mail-Adresse A.com Kontakt zu der Beklagten aufgenommen zu haben, hat die Beklagte unter Verweis auf eine Auskunft über die Website abc.de glaubhaft gemacht, dass diese E-Mail-Adresse nicht der Beklagten gehört (vgl. Schriftsatz vom 07.11.2023, S. 12, Bl. 174 GA LG).
71Die von der Klägerin nach ihrem Vortrag (vgl. Schriftsatz vom 21.11.2023, S. 4, Bl. 202 GA LG) außerdem zur Kontaktaufnahme genutzten E-Mail-Adressen B.com und C.com.cn entsprechen zwar den auf der Website der Beklagten angegebenen Adressen, es lässt sich aber nicht feststellen, dass der Beklagten an diese Adresse ein Entwurf der Klageschrift übersandt und ein gesetzlicher Vertreter der Beklagten von diesem Entwurf Kenntnis genommen hat. Soweit die Klägerin vorträgt, der Beklagten mit E-Mail vom 03.09.2020 einen Entwurf der Klageschrift übermittelt zu haben, legt sie eine Lesebestätigung für diese E-Mail – anders als im Hinblick auf die E-Mail vom 03.08.2020, die ausweislich des Vortrags der Klägerin allerdings nur die Abmahnung enthielt – nicht vor. Sie verweist vielmehr lediglich auf eine Zustellungserklärung von 1X (vgl. Anlage KAP 13). Diese aber ist – wie im Übrigen auch die Lesebestätigung – kein hinreichender Beleg dafür, dass die E-Mail einem gesetzlichen Vertreter der Beklagten tatsächlich zugegangen und von diesem zur Kenntnis genommen wurde.
72Entsprechendes bestreitet die Beklagte ausdrücklich und legt zur Glaubhaftmachung „eidesstattliche Versicherungen“ ihrer Mitarbeiter Frau MX und Herrn JX vor. Bei diesen handelt es sich nach den Angaben der Beklagten zum einen um die „Head of Legal Department“, zuständig für gerichtliche Verfahren und rechtliche Auseinandersetzungen, und zum anderen um den „Admin Director“, zuständig für eingehende E-Mails. Beide haben versichert, von dem gerichtlichen Verfahren erst seit dem 24.10.2023 Kenntnis zu haben (vgl. Anlagen B1/1a und B2/B2a).
73Selbst wenn man demgegenüber annehmen wollte, dass der Entwurf der Klageschrift einem (ggf. anderen) Vertreter der Beklagten bereits im Jahr 2020 bekannt war oder die Beklagte – bzw. einer ihrer gesetzlichen Vertreter – im Jahr 2020 zumindest von dem gegen sie erhobenen Patentverletzungsvorwurf Kenntnis hatte, gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sie versucht hätte, eine an sie gerichtete Zustellung zielgerichtet zu verhindern. Vielmehr ist die auf ihrer offiziellen Website angegebene Postanschrift unstreitig zutreffend; Zustellungen konnten und können dort an sie bewirkt werden. Vor diesem Hintergrund aber ist es nicht gerechtfertigt, ihr die Berufung auf den festgestellten Zustellungsmangel gemäß § 242 BGB zu versagen.
74b)
75Der Senat folgt der Auffassung, wonach bei einer Einstellung der Zwangsvollstreckung gemäß § 719 Abs. 1 S. 2 ZPO im Falle des Einspruchs gegen ein gesetzwidrig erlassenes Versäumnisurteil nicht die zusätzlichen Voraussetzungen von § 707 Abs. 1 S. 2 ZPO vorliegen müssen (so auch: OLG Stuttgart, NJW-RR 2003, 713, 714; OLG Celle, NJW-RR 2000, 1017; OLG Brandenburg, AnwBl 2002, 65; OLG Koblenz, FamRZ 2001, 174; OLG Hamm, MDR 1978, 412).
76Zwar ist der Wortlaut von § 719 Abs. 1 ZPO insoweit nicht eindeutig, weil zwar Satz 1 auf § 707 ZPO verweist, in Satz 2 dann aber spezielle Regelungen für die Einstellung der Zwangsvollstreckung aus einem Versäumnisurteil genannt werden. § 719 Abs. 1 S. 2 ZPO ist aber insoweit als Sonderregelung zu § 707 ZPO zu verstehen, als hierin klargestellt wird, dass eine Einstellung der Zwangsvollstreckung bei Versäumnisurteilen nur gegen Sicherheitsleistung erfolgen darf, auch dann, wenn der Schuldner zur Sicherheitsleistung nicht in der Lage ist und die Vollstreckung ihm einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde. Dies stellt eine gesetzliche Sanktion dafür dar, dass der durch ein Versäumnisurteil Verurteilte – regelmäßig der Beklagte – seinen prozessualen Verpflichtungen nicht oder nicht fristgerecht genügt hat. Ist dagegen das Versäumnisurteil nicht in gesetzlicher Weise ergangen oder war die Säumnis der unterlegenen Partei unverschuldet, dann ist eine derartige Sanktion nicht gerechtfertigt, da es an dem prozessualen Fehlverhalten des Unterlegenen fehlt.
77Ebenso wenig gerechtfertigt ist es jedoch auch, die somit eröffnete Einstellungsmöglichkeit von den zusätzlichen besonderen Voraussetzungen des § 707 Abs. 1 S. 2 ZPO abhängig zu machen, weil es insoweit an einer Vergleichbarkeit zu den übrigen geregelten Fällen – Wiedereinsetzung/Vorbehaltsurteil und Berufung – fehlt. In den genannten Fallkonstellationen liegt entweder ein rechtskräftiges Urteil oder aber jedenfalls ein Urteil nach Prüfung des beiderseitigen Parteivortrages durch das Gericht vor, so dass der Unterlegene Gelegenheit zur Verteidigung gehabt hat, weswegen diesen Urteilen eine höhere Richtigkeitsgewähr zukommt als den allein auf einseitigem Parteivortrag beruhenden Versäumnisurteilen.
78Wird ein gesetzwidriges Versäumnisurteil gegen den Unterlegenen erlassen, dann hat nicht nur der Gläubiger eine Rechtsposition erlangt, die ihm in dieser Art von Gesetzes wegen nicht zugestanden hat, sondern der Unterlegene ist in seinen Rechten in schwerwiegender Weise beeinträchtigt worden. In einer derartigen Konstellation ist ein berechtigtes Interesse des Gläubigers, seine gesetzwidrig erlangte prozessuale Stellung durch die hiermit eröffnete Möglichkeit der Zwangsvollstreckung weiter auszunutzen, nicht erkennbar. Demgegenüber ist der Schuldner ersichtlich schutzbedürftig, da seine durch den Erlass des Urteils bereits beeinträchtigte prozessuale – und wirtschaftliche – Position durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen des Gläubigers weiter verschlechtert würde. Dies gilt in verstärktem Maße bei Versäumnisurteilen, bei denen die Vollstreckung des Gläubigers ohne Sicherheitsleistung möglich ist (§ 708 Nr. 2 ZPO), so dass bei einem späteren Obsiegen des Schuldners sein dann gegebener Schadensersatzanspruch aus § 717 Abs. 2 ZPO nicht gesichert ist.
79Aus diesen Gründen erscheint es dem Senat als zwingend, bei einem nicht in gesetzlicher Weise ergangenen Versäumnisurteil die Zwangsvollstreckung – jedenfalls dann, wenn wie hier zugleich erhebliche Einwendungen gegen den titulierten Anspruch vorgebracht werden – ohne Sicherheitsleistung einzustellen, ohne dass es der Prüfung und Bejahung der zusätzlichen Voraussetzungen von § 707 Abs. 1 S. 2 ZPO bedarf.
80V. Dr. F. Dr. G.