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Das Beschwerdeverfahren wird zur Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem Gerichtshof der Europäischen Union ausgesetzt.
Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird zur Auslegung der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 32 Abs. 2 lit. c der Richtlinie 2014/24/EU mit Rücksicht auf Art. 14 AEUV einschränkend dahingehend auszulegen, dass die Vergabe eines der Daseinsvorsorge dienenden öffentlichen Auftrags bei äußerster Dringlichkeit auch dann im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung erfolgen kann, wenn das Ereignis für den öffentlichen Auftraggeber voraussehbar und die angeführten Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit ihm zuzuschreiben sind.
G r ü n d e :
2I.
31 Die Antragsgegnerin ist eine Stadt und als solche kommunale Schulträgerin der auf ihrem Stadtgebiet belegenen T.. Die T. ist eine Förderschule. Ihre Schüler sind aufgrund ihrer körperlichen und motorischen Einschränkungen für den Schulbesuch auf die Beförderung mit speziellen Schulbussen angewiesen, die neben dem Fahr- auch über Begleitpersonal verfügen müssen. Entsprechende Leistungen wurden schon in der Vergangenheit von der Antragsgegnerin beauftragt. Der insoweit bestehende Vertrag endete regulär mit dem 31. Januar 2022.
42 Etwa vier Monate vor Auslaufen des Vertrags schrieb die Antragsgegnerin mit Bekanntmachung vom 20. September 2021 über den Landschaftsverband Westfalen-Lippe im offenen Verfahren einen Rahmenvertrag über die schultägliche Beförderung von Kindern mit Behinderung zur T. für die Zeit vom 1. Februar 2022 bis zum 31. Juli 2027 EU-weit aus (Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union, Bekanntmachungsnummer …). Der Auftrag war in drei Gebietslose unterteilt.
53 Neben der Antragstellerin und dem Beigeladenen gaben noch zwei weitere Bieter Angebote ab. Mit Schreiben vom 12. November 2021 informierte die Antragsgegnerin die Antragstellerin nach § 134 GWB, dass beabsichtigt sei, dem Beigeladenen den Zuschlag bezüglich aller drei Lose zu erteilen. Nach erfolgloser Rüge reichte die Antragstellerin am 22. November 2021 einen Nachprüfungsantrag ein.
64 Zur Sicherstellung der Beförderung der Schulkinder ab dem 1. Februar 2022, die aufgrund des laufenden Nachprüfungsverfahrens nicht gewährleistet war, leitete die Antragsgegnerin eine sog. Interimsvergabe für das zweite Schulhalbjahr 2021/22 für einen Zeitraum von sechs Monaten (1. Februar bis zum 31. Juli 2022) als Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb ein. Die Gründe für die Wahl des Verfahrens legte sie unter dem 30. November 2021 in einem Vermerk nieder. Danach sei bei einer Ausschreibung im offenen Verfahren auch bei einer auf 15 Tage verkürzten Angebotsfrist eine Sicherstellung der Beförderung nicht gewährleistet. Unter Berücksichtigung der Prüfung und Wertung der Angebote und der Information nach § 134 GWB könne in Anbetracht der Weihnachtsfeiertage ein Zuschlag nicht vor Ende Dezember 2021, vermutlich sogar erst Anfang Januar 2022 erfolgen. Die dann noch bis zum Beginn der Leistung verbleibende Zeit von knapp einem Monat sei als Rüstzeit für das auszuwählende Unternehmen nicht ausreichend, da Fahrzeuge, Fahr- und Begleitpersonal zur Verfügung stehen müssten.
75 Mit Schreiben vom 2. Dezember 2021 forderte sie die Antragstellerin, den Beigeladenen und die beiden anderen Bieter aus dem am 20. September 2021 bekanntgemachten Vergabeverfahren zur Angebotsabgabe bis zum 13. Dezember 2021 auf. Die Antragstellerin und der Beigeladene gaben jeweils Angebote ab. Die Antragstellerin erhielt den Zuschlag für die Lose 1 und 2. Mit E-Mail vom 22. Dezember 2021 informierte die Antragsgegnerin die Antragstellerin über die am selben Tage erfolgte Zuschlagserteilung für Los 3 an den Beigeladenen.
86 Nach erfolgloser Rüge reichte die Antragstellerin fristgerecht einen Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer Westfalen ein mit dem Ziel, den Vertragsschluss mit der Beigeladenen für unwirksam zu erklären. Sie machte geltend, der Beigeladene sei ungeeignet, weil er weder über die erforderlichen personellen Kapazitäten noch über geeignete Fahrzeuge verfüge. Der mit dem Beigeladenen geschlossene Vertrag sei nach § 135 Abs. 1 GWB unwirksam, da die Wartefrist nach § 134 Abs. 1 GWB nicht eingehalten und die Wahl des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb nicht gerechtfertigt gewesen sei.
97 Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag mit Beschluss vom 9. Februar 2022 (VK 3-01/22) zurückgewiesen. Zusätzlich zu einem Verstoß gegen § 134 Abs. 1 GWB bedürfe es einer die Zuschlagschancen schmälernden Rechtsverletzung, an der es fehle. Im Übrigen sei auch eine besondere Dringlichkeit gegeben gewesen, weil die Erteilung des ausgeschriebenen Auftrags wegen des laufenden Nachprüfungsverfahrens nicht möglich gewesen sei.
108 Gegen diesen Beschluss der Vergabekammer hat die Antragstellerin sofortigen Beschwerde beim Oberlandesgericht Düsseldorf eingelegt. Nach Auslaufen des Interimsauftrags zum 31. Juli 2022 und Erledigung des Nachprüfungsverfahrens gemäß § 168 Abs. 2 S. 2 GWB ist die Antragstellerin zum Feststellungsantrag übergegangen mit dem Ziel festzustellen, dass sie durch den Abschluss des Vertrags zwischen der Antragsgegnerin und dem Beigeladenen in ihren Rechten verletzt ist. Aufgrund der vergaberechtswidrigen Durchführung des Vertrags sei ihr ein Schaden entstanden, da ihr der Zuschlag hätte erteilt werden müssen.
11II.
129 Der Erfolg des Rechtsmittels hängt nach Auffassung des Senats von der Beantwortung der Vorlagefrage ab. Vor einer Entscheidung ist daher das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen. Für die Vorlageentscheidung spielen folgende rechtliche Überlegungen eine Rolle:
1310 Bedenken gegen die Zulässigkeit des Feststellungsantrags und des ursprünglichen, durch das Auslaufen der Interimsvergabe erledigten Nachprüfungsantrags einschließlich des Schadenserfordernisses hat der Senat nicht. Entscheidend ist allein, ob der mit dem Beigeladenen geschlossene Vertrag nach § 135 Abs. 1 GWB unwirksam war.
1411 Die entsprechenden Grundsätze sind in §§ 135 Abs. 1 und 134 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) sowie § 14 Abs. 4 Nr. 3 der Vergabeverordnung (VgV) normiert, die auszugsausweise wie folgt lauten:
1512 § 135 GWB Unwirksamkeit
16(1) Ein öffentlicher Auftrag ist von Anfang an unwirksam, wenn der öffentliche Auftraggeber
171. gegen § 134 verstoßen hat oder
182. den Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben hat, ohne dass dies aufgrund Gesetzes gestattet ist,
19und dieser Verstoß in einem Nachprüfungsverfahren festgestellt worden ist.
2013 § 134 GWB Informations- und Wartepflicht
21(1) 1Öffentliche Auftraggeber haben die Bieter, deren Angebote nicht berücksichtigt werden sollen, über den Namen des Unternehmens, dessen Angebot angenommen werden soll, über die Gründe der vorgesehenen Nichtberücksichtigung ihres Angebots und über den frühesten Zeitpunkt des Vertragsschlusses unverzüglich in Textform zu informieren. […]
22(2) 1Ein Vertrag darf erst 15 Kalendertage nach Absendung der Information nach Absatz 1 geschlossen werden. 2Wird die Information auf elektronischem Weg oder per Fax versendet, verkürzt sich die Frist auf zehn Kalendertage. […]
23(3) 1Die Informationspflicht entfällt in Fällen, in denen das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb wegen besonderer Dringlichkeit gerechtfertigt ist. […]
2414 § 14 VgV Wahl der Verfahrensart
25[…]
26(4) Der öffentliche Auftraggeber kann Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben,
27[…]
283. wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der betreffende öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die Mindestfristen einzuhalten, die für das offene und das nicht offene Verfahren sowie für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vorgeschrieben sind; die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dürfen dem öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sein.
2915 Nach Auffassung des Senats ist allein entscheidend, ob die Antragsgegnerin den Auftrag an den Beigeladenen nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben durfte, weil dann eine Vergabe des Auftrags ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union aufgrund Gesetzes gestattet war und nach dem eindeutigen Wortlaut des § 134 Abs. 3 Satz 1 GWB auch die Informations- und Wartepflicht entfiel. Letzteres steht auch im Einklang mit Art. 2b der Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007.
3016 Für die Dringlichkeitsvergabe im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV, der die Vorgaben zur Anwendung des Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung in Art. 32 Abs. 2 lit. c der Vergaberichtlinie 2014/24/EU in deutsches Recht umsetzt und dementsprechend richtlinienkonform auszulegen ist, müssen äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit einem für den öffentliche Auftraggeber nicht voraussehbaren Ereignis es nicht zulassen, die Mindestfristen anderer Verfahrensarten einzuhalten, wobei die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit ihm nicht zuzurechnen sein dürfen.
3117 Nach der zu Art. 6 Abs. 3 lit. d der Richtlinie 93/36/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs müssen hierfür drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein (EuGH, Urteil vom 15. Oktober 2009, C-275/08, NZBau 2010, 63 Rn. 68 - Kommission/Bundesrepublik Deutschland): Es müssen 1ein unvorhersehbares Ereignis, 2dringliche und zwingende Gründe, die die Einhaltung der in anderen Verfahren vorgeschriebenen Fristen nicht zulassen, und 3ein Kausalzusammenhang zwischen dem unvorhersehbaren Ereignis und den sich daraus ergebenden dringlichen, zwingenden Gründen gegeben sein (EuGH, Urteil vom 15. Oktober 2009, C-275/08, NZBau 2010, 63 Rn. 69 - Kommission/Bundesrepublik Deutschland). Dabei dürfen die angeführten Umstände zur Begründung der zwingenden Dringlichkeit auf keinen Fall dem öffentlichen Auftraggeber zuzuschreiben sein. Satz 2 des Art. 6 Abs. 3 lit. d der Richtlinie 93/36/EWG ist unverändert in Art. 32 Abs. 2 lit. c der Vergaberichtlinie 2014/24/EU übernommen worden.
3218 Die Voraussetzung dringlicher und zwingender Gründe, die die Einhaltung der in anderen Verfahren vorgeschriebenen Fristen nicht zulassen, war vorliegend in Bezug auf die Vergabe des streitgegenständlichen Auftrags zum 1. Februar 2022 zur Überzeugung des Senats erfüllt. Der bestehende Beförderungsvertrag lief zum 31. Januar 2022 aus. Die nahtlose Sicherstellung einer Beförderung über diesen Endzeitpunkt hinaus war im Interesse der Daseinsfürsorge für die Schulkinder, die aufgrund ihrer Behinderungen eine besonders vulnerable Personengruppe bilden, dringend geboten. Diese Umstände ließen es nicht zu, die Mindestfristen einzuhalten, die für andere Verfahren vorgeschrieben sind. Die Antragsgegnerin hat in ihrem Vermerk vom 30. November 2021 bei einer Ausschreibung im offenen Verfahren mit einem Zuschlag nicht vor Ende Dezember 2021 oder Anfang Januar 2022 kalkuliert, wobei Anfang Januar 2022 realistischer erscheint. Die Mindestfrist beträgt 15 Tage. Hätte die Antragsgegnerin anstelle der Aufforderung zur Angebotsabgabe am 2. Dezember 2021 eine Auftragsbekanntmachung abgesandt, wäre folglich das früheste Ende der Angebotsfrist der 17. Dezember gewesen. Sodann hätten die Angebote ausgewertet und die Eignung der Bieter geprüft werden müssen. Daran hätte sich die Information der unterlegenen Bieter nach § 134 Abs. 1 GWB und die zehntägige Wartefrist nach § 134 Abs. 2 GWB angeschlossen. Die dann noch bis zum Beginn der Leistung verbleibende Zeit von knapp einem Monat erschien der Antragsgegnerin ausweislich ihres Vermerks als zur Rüstzeit für das auszuwählende Unternehmen nicht ausreichend, da Fahrzeuge, Fahr- und Begleitpersonal zur Verfügung stehen müssten. Diese Annahme ist jedenfalls von ihrem Beurteilungsspielraum gedeckt. Dass die Gewährleistung regelmäßiger schultäglicher Fahrten im Hinblick auf Fahrzeuge, Fahr- und Begleitpersonal einen gewissen Vorlauf benötigt, ist nachvollziehbar.
3319 Allerdings fehlt es an den weiteren Voraussetzungen, dass ein unvorhersehbares Ereignis und ein Kausalzusammenhang zwischen dem unvorhersehbaren Ereignis und den sich daraus ergebenden dringlichen, zwingenden Gründen gegeben sein müssen. Nach Erwägungsgrund 109 der Vergaberichtlinie 2014/24/EU sind unvorhersehbar nur solche Umstände, die auch bei einer nach vernünftigem Ermessen sorgfältigen Vorbereitung durch den öffentlichen Auftraggeber unter Berücksichtigung der diesem zur Verfügung stehenden Mittel, der Art und Merkmale des spezifischen Projekts, der bewährten Praxis im betreffenden Bereich und der Notwendigkeit, ein angemessenes Verhältnis zwischen den bei der Vorbereitung der Zuschlagserteilung eingesetzten Ressourcen und dem absehbaren Nutzen zu gewährleisten, nicht hätten vorausgesagt werden können.
3420 Der Umstand, dass eine ordnungsgemäße Vergabe des Beförderungsauftrags in dem am 20. September 2021 bekanntgemachten Verfahren aufgrund der Stellung eines Nachprüfungsantrags nicht rechtzeitig zum 1. Februar 2022 erfolgen konnte, kann folglich nicht als unvorhersehbar gewertet werden. Mit möglichen Verzögerungen durch Nachprüfungsverfahren muss der öffentliche Auftraggeber bei Einleitung des Vergabeverfahrens rechnen und sie bei seiner Zeitplanung berücksichtigen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss v. 27.3.2015, 15 Verg 9/14 juris Rn. 24). Das erst am 20. September 2021 bekanntgemachte Vergabeverfahren, in dem am 12. November 2021 die Mitteilung nach § 134 GWB ergangen ist, ließ auch bei wohlwollendster Betrachtung keinen Raum für ein Nachprüfungsverfahren, wenn eine Rüstzeit des erfolgreichen Bieters von mehr als einem Monat zu veranschlagen ist.
3521 Die sich hieraus ergebende Konsequenz, dass eine rechtzeitige Auftragserteilung vergaberechtlich nicht zulässig war und ein sich rechtskonform verhaltender öffentlicher Auftraggeber in vergleichbaren Fällen zukünftig eine nicht rechtzeitige Bereitstellung der Leistung hinnehmen muss, erscheint dem Senat für Fallgestaltungen wie die vorliegende, in der ein unabweisbares Bedürfnis für die Kontinuität der Versorgungsleistungen besteht, gleichwohl zweifelhaft. Das Unterbleiben der Erteilung eines Auftrags zum 1. Februar 2022 hätte vorliegend zur Folge gehabt, dass die auf besondere Fürsorge angewiesenen Schüler der T. diese nur dann hätten besuchen können, wenn ihre Beförderung auf private Initiative ihrer Eltern organisiert und durchgeführt worden wäre. Unter Umständen hätten sie die Schule gar nicht besuchen können und wären in ihrem Recht auf Bildung und Teilhabe beschnitten worden.
3622 Dementsprechend wird in Teilen der deutschen obergerichtlichen Rechtsprechung die Auffassung vertreten, eine Vergabe im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb sei bei für die Allgemeinheit unverzichtbaren Leistungen auch dann möglich, wenn die Dringlichkeit auf Versäumnisse der Vergabestelle zurückzuführen sei; der Aspekt der Zurechenbarkeit und Vorhersehbarkeit trete dann hinter die Notwendigkeit der Kontinuität der Leistungserbringung zurück, wenn bedeutende Rechtsgüter wie etwas Leib und Leben und hohe Vermögenswerte unmittelbar gefährdet sind (OLG Frankfurt, Beschluss vom 30.01.2014, 11 Verg 15/13, juris Rn. 50 (ÖPNV, Verkehrsleistungen im Stadtverkehr); OLG Celle, Beschluss vom 24.09.2014, 13 Verg 9/14, juris Rn. 66 (Bereich der Gefahrenabwehr)). In der wert- und insbesondere grundrechtsgebundenen Ordnung des Grundgesetzes und der Unionsverträge müsse der Staat immer und unabhängig von früheren Versäumnissen in rechtmäßiger Weise in der Lage sein, auf Notlagen zu reagieren oder sie abzuwenden, mithin unverzichtbare Leistungen zu erbringen (OLG Frankfurt a. M., Vergabesenat, Beschluss vom 24. November 2022, 11 Verg 5/22, BeckRS 2022, 38371 Rn. 56).
3723 Der vorlegende Senat teilt diese Auffassung für unverzichtbare Leistungen der Daseinsvorsorge. Er sieht sich jedoch durch Art. 32 Abs. 2 lit. c der Vergaberichtlinie 2014/24/EU an einer entsprechend einschränkenden Anwendung des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV gehindert. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung von den nationalen Trägern öffentlicher Gewalt, alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem vom Unionsrecht verfolgten Ziel im Einklang steht (EuGH, Urteil vom 11. September 2019, C-143/18, BKR 2020, 81 Rn. 38 - DSL Bank ./. Romano). Der Senat erachtet den Wortlaut der Richtlinie als dahingehend eindeutig, dass er eine Außerachtlassung der Aspekte der Zurechenbarkeit und Vorhersehbarkeit nicht gestattet.
3824 Für eine einschränkende Auslegung des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV ist daher nach Auffassung des Senats nur Raum, wenn Art. 32 Abs. 2 lit. c der Vergaberichtlinie 2014/24/EU mit Rücksicht auf höherrangiges Unionsrecht dahingehend einschränkend unter seinen Wortlaut auszulegen sein sollte, dass eine Vergabe im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung bei für die Allgemeinheit unverzichtbaren Leistungen auch dann zulässig ist, wenn die Dringlichkeit auf Versäumnisse der Vergabestelle zurückzuführen ist, weil der Aspekt der Zurechenbarkeit und Vorhersehbarkeit hinter die Notwendigkeit der Kontinuität der Leistungserbringung zurücktritt.
3925 Als eine solche Norm höherrangigen Unionsrechts kommt nach Ansicht des Senats der die Gewährleistung von Diensten von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse garantierende Art. 14 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union in Betracht. Nach dieser in der Literatur auch als Funktionsgewährleistungspflicht bezeichneten Bestimmung (vgl. Jung in Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, AEUV Art. 14 Rn. 22) tragen die Union und die Mitgliedstaaten in Anbetracht des Stellenwerts, den Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse innerhalb der gemeinsamen Werte der Union einnehmen, unbeschadet des Artikels 4 des Vertrags über die Europäische Union und der Artikel 93, 106 und 107 dieses Vertrags im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse im Anwendungsbereich der Verträge dafür Sorge, dass die Grundsätze und Bedingungen, insbesondere jene wirtschaftlicher und finanzieller Art, für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass diese ihren Aufgaben nachkommen können.
4026 Nach Auffassung der einschlägigen Kommentarliteratur entspricht der Begriff „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ dem der „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ in Art. 106 Abs. 2 Satz 1 AEUV und Art. 36 GRCh, wobei den Mitgliedstaaten ein weiter Gestaltungsspielraum zukommt (Jung in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, AEUV Art. 14 Rn. 12). Es muss sich um eine konkret dem Gemeinwohl dienende Wirtschaftsaktivität handeln, die ohne Rücksicht auf Sonderfälle und auf die Wirtschaftlichkeit jedes einzelnen Vorgangs erbracht wird. Er umfasst jedenfalls diejenigen wirtschaftlichen Dienste, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht werden und deren Tätigkeitsprofil sich mit dem Begriff der „Daseinsvorsorge“ umschreiben lässt (Jung in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, AEUV Art. 14 Rnrn. 12, 13, Art. 106 Rn. 36; Hatje in Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, AEUV Art. 14 Rnrn. 10, 11; auch Mitteilung der Kommission über Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa zu ex-Art. 16 EGV, ABl EG 2001 Nr. C 17/4; BayObLG, Vergabesenat, Beschluss vom 31. Oktober 2022, Verg 13/22, BeckRS 2022, 35589 Rn. 37).
4127 Zu diesen Leistungen zählt die streitgegenständliche schultägliche Beförderung von Kindern mit Behinderung zur T. Nach Auffassung des Senats besteht daher insoweit ein Spannungsverhältnis zwischen dem grundsätzlich klaren und eindeutigen Wortlaut des Art. 32 Abs. 2 lit. c der Vergaberichtlinie 2014/24/EU und der in Art. 14 AEUV normierten Funktionsgewährleistungspflicht, nach der die Mitgliedstaaten und die Union eine positive Verpflichtung trifft, durch geeignete Gestaltung der Rahmenbedingungen dafür zu sorgen, dass die Träger von Diensten im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse ihren Aufgaben angemessen nachkommen können (Jung in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, AEUV Art. 14 Rn. 22), der nur zu Lasten einer der beiden Bestimmungen gelöst werden kann, wobei dem Senat eine auf Art. 14 AEUV gestützte Gewährleistung der Daseinsvorsorge unter einschränkender Auslegung der Richtlinie als vorzugswürdig erscheint.
4228 Die zur Vorabentscheidung gestellte Frage ist daher aus Sicht des Senats entscheidungserheblich. Der Senat sieht nicht, dass der Rechtsstreit unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten ohne Beantwortung der Frage entschieden werden könnte.