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Das Beschwerdeverfahren wird zur Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem Gerichtshof der Europäischen Union ausgesetzt.
Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird zur Auslegung der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 72 Abs. 1 Buchst. c) der Richtlinie 2014/24/EU dahingehend auszulegen, dass in seinen Anwendungsbereich auch solche öffentlichen Aufträge fallen, die zuvor außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2014/24/EU an eine Inhouse-Einrichtung vergeben worden sind, jedoch die Voraussetzungen der Inhouse-Vergabe im Zeitpunkt der Vertragsänderung nicht mehr vorliegen.
G r ü n d e :
2I.
31 Die Antragsgegnerin ist eine Infrastrukturgesellschaft privaten Rechts, die im unveräußerlichen Eigentum der Bundesrepublik Deutschland steht. Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur hat ihr mit Wirkung zum 1. Januar 2021 die Planung, den Bau, den Betrieb, die Erhaltung, die Finanzierung und die vermögensmäßige Verwaltung der Bundesautobahnen übertragen. Die für die Erbringung ihrer Aufgaben notwendigen Finanzmittel werden ihr von der Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung gestellt.
42 Teil des Autobahnnetzes sind über 400 bewirtschaftete Rastanlagen, an denen Nebenbetriebe in Gestalt von Tankstellen und Raststätten unterhalten werden. Betreiberin der Nebenbetriebe war ursprünglich die 1951 von der Bundesrepublik Deutschland gegründete Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen mbH (GfN). Diese wurde 1994 im Vorgriff auf eine beabsichtigte Privatisierung in die U. umfirmiert. An der Eigentümerstruktur änderte sich hierdurch zunächst nichts, einzige Aktionärin war die Bundesrepublik Deutschland. Noch im selben Jahr erwarb die U. die P..
53 In den Jahren 1996 bis 1998 schloss die Bundesrepublik Deutschland ohne vorangegangene Ausschreibung mit der seinerzeit noch bundeseigenen U. circa 280 bis heute gültige Konzessionsverträge über den Betrieb von Nebenbetrieben an den Bundesautobahnen auf der Grundlage eines neuen Musterkonzessionsvertrags. Dieser gibt dem Konzessionsnehmer das Recht, einen den Belangen der Verkehrsteilnehmer der Bundesautobahn dienenden Nebenbetrieb auf einem definierten Betriebsgrundstück zu bauen und zu betreiben. Im Gegenzug hat er eine umsatzabhängige Konzessionsabgabe zu zahlen. Teil der Konzessionsverträge ist ein Betriebskonzept, das eine festgelegten Anzahl von Zapfsäulen und Abfertigungsplätzen sowie eine Raststätte und öffentliche Toiletten vorsieht. Der Nebenbetrieb ist täglich 24 Stunden offen zu halten. Die Konzessionsverträge haben eine Laufzeit von bis zu 40 Jahren. Der Musterkonzessionsvertrag ist im Amtlichen Teil des Verkehrsblatts, dem Amtsblatt des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur, von 1997 unter Nr. 226, S. 825 ff, veröffentlicht worden.
64 Beginnend im Jahr 1998 wurde die U. über das Bankhaus T. in L. im Rahmen eines Investorenauswahlverfahrens im Wege Privatplatzierung privatisiert. Das Investorenauswahlverfahren, an dem sich etwa 50 Interessenten aus dem In- und Ausland beteiligt hatten, führte schließlich zu einer Vereinbarung mit einem Konsortium aus M., B. und drei Investment-Fondsgesellschaften. Die dem Konsortium angehörenden Unternehmen meldeten die geplante Übernahme bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an, die am 7. Dezember 1998 nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Fusionskontrollverordnung 4064/89/ EWG festgestellt hat, dass hiergegen keine Bedenken bestehen (Fall Nr. IV/M.1361). Durch Umfirmierungen sind aus der U. die Beigeladenen als die nunmehrigen Konzessionsinhaberinnen hervorgegangen.
75 Nach der Privatisierung erfolgten in den Jahren 1999 bis 2019 noch weitere circa 80 Konzessionsvergaben an die Beigeladenen, von denen nach ihrem eigenen Vortrag 19 im Rahmen einer Ausschreibung an sie vergeben worden sind. Die Beigeladenen sind damit Bestandskonzessionäre von etwa 90 Prozent aller Nebenbetriebe.
86 Das für reine Batterieelektrofahrzeuge im Sinne des Art. 4 der Verordnung 2018/858/EU geltende bundesdeutsche Schnellladegesetz vom 25. Juni 2021 verpflichtet die Antragsgegnerin in § 5 Abs. 3 Satz 1 dem Inhaber einer Konzession zum Betrieb eines Nebenbetriebs mit Tankstelle die eigenwirtschaftliche Übernahme von Errichtung, Unterhaltung und Betrieb der an diesem Standort geplanten Schnellladepunkte anzubieten, soweit dies geboten ist und Teil 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen nicht entgegensteht (Bundesgesetzblatt 2021, Teil I, S. 2141 ff.). In Teil 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist das deutsche Vergaberechts geregelt. In Umsetzung dieses gesetzlichen Auftrags vereinbarte die Antragsgegnerin mit den Beigeladenen am 28. April 2022 eine Ergänzung der bestehenden circa 360 Konzessionsverträge um die eigenwirtschaftliche Übernahme von Errichtung, Unterhaltung und Betrieb von funktionsfähiger Schnellladeinfrastruktur, die eine Pflicht zur Verfügbarhaltung einer für jeden Standort festgelegten Anzahl von Ladepunkten beinhaltet.
97 Die erfolgte Änderung machte die Antragsgegnerin unter dem 6. Mai 2022 im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt, wobei sie den Verzicht auf eine Ausschreibung mit § 132 GWB begründete. Die Bereitstellung von Schnellladeinfrastruktur sei als zusätzliche Dienstleitung im Rahmen der Konzessionsverträge erforderlich geworden, was bei deren Abschluss noch nicht vorhersehbar gewesen sei (Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union, Bekanntmachungsnummer 2022/S 089-245969).
108 Die Antragstellerinnen betreiben jeweils Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge. Mit Anwaltsschriftsatz vom 20. Mai 2022 beantragten sie die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens. Zu dessen Begründung führten sie aus, die mit den Beigeladenen geschlossene Ergänzungsvereinbarung sei nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB unwirksam, da der Auftrag ohne vorherige EU-weite Bekanntmachung vergeben worden sei. Die Änderung könne nicht auf § 132 GWB gestützt werden. Dieser sei schon gar nicht anwendbar, weil die bestehenden Konzessionen nicht im Rahmen einer Ausschreibung vergeben worden seien.
119 Die 2. Vergabekammer des Bundes hat den Nachprüfungsantrag der Antragstellerinnen mit Beschluss vom 15. Juni 2022 (VK 2-54/22) zurückgewiesen. Die Bestimmung des § 132 GWB sei nach § 154 Nr. 3 GWB auf Bestandskonzessionen anwendbar. Deren Änderung durch die Ergänzungsvereinbarung vom 28. April 2022 sei schon nicht wesentlich im Sinne des § 132 Abs. 1 GWB. Die Nebenbetriebe dienten dem Tanken der Verkehrsteilnehmer, worunter jedenfalls bei funktioneller Betrachtung auch das Tanken von Strom falle. Jedenfalls aber sei sie nach § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB zulässig, da die Notwendigkeit einer Schnellladeinfrastruktur 1998 nicht vorhersehbar gewesen sei.
1210 Gegen diesen Beschluss der Vergabekammer haben die Antragstellerinnen sofortige Beschwerde beim Oberlandesgericht Düsseldorf eingelegt. Eine Änderung nach § 132 Abs. 1, Abs. 2 GWB scheide schon deswegen aus, weil diese Vorschrift auf die Änderung von ursprünglich nicht im Wettbewerb, sondern ohne Ausschreibung an eine Inhouse-Einrichtung vergebene öffentliche Aufträge überhaupt keine Anwendung finde, wie sich aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 12. Mai 2022, C-719/20 „Comune di Lerici“ ergebe. Dies gelte erst recht, wenn die Ursprungskonzession schon seinerzeit vergaberechtswidrig vergeben worden sei; eine Inhousevergabe im Wissen um eine anschließende Privatisierung sei unzulässig.
1311 Die Antragsgegnerin und die Beigeladenen verteidigen die Entscheidung der Vergabekammer. Unwesentliche Änderungen öffentlicher Aufträge seien immer zulässig. Art. 72 der Richtlinie 2014/24/EU beziehungsweise § 132 GWB erfassten überhaupt nur wesentliche Änderungen. Auf diese fänden sie unabhängig von den Umständen der ursprünglichen Vergabe Anwendung. Die angeführte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs betreffe allein die Frage, ob mit Wegfall der Inhouse-Voraussetzungen neu ausgeschrieben werden müsse, weil dies eine wesentliche und von keinem Ausnahmetatbestand erfasste Änderung sei.
14II.
1512 Der Erfolg des Rechtsmittels hängt nach Auffassung des Senats von der Beantwortung der Vorlagefrage ab. Vor einer Entscheidung ist daher das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. b) und Abs. 2 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen. Für die Vorlageentscheidung spielen folgende rechtliche Überlegungen eine Rolle:
1613 Bedenken gegen die Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags hat der Senat nicht. Entscheidend ist allein, ob die mit den Beigeladenen geschlossene Ergänzungsvereinbarung nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB unwirksam und damit der Nachprüfungsantrag begründet ist.
1714 Die entsprechenden Grundsätze sind in §§ 135 Abs. 1, 132 Abs. 1, Abs. 2 und 154 Nr. 3, Nr. 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) vom 26. Juni 2013 (Bundesgesetzblatt 2013, Teil I, S. 1750 ff) in der Fassung vom 18. April 2016 (Bundesgesetzblatt 2016, Teil I, S. 203 ff) normiert, die auszugsausweise wie folgt lauten:
1815 § 135 GWB Unwirksamkeit
19(1) Ein öffentlicher Auftrag ist von Anfang an unwirksam, wenn der öffentliche Auftraggeber
201. […]
212. den Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben hat, ohne dass dies aufgrund Gesetzes gestattet ist,
22und dieser Verstoß in einem Nachprüfungsverfahren festgestellt worden ist.
23(2) 1Die Unwirksamkeit nach Absatz 1 kann nur festgestellt werden, wenn sie im Nachprüfungsverfahren innerhalb von 30 Kalendertagen nach der Information der betroffenen Bieter und Bewerber durch den öffentlichen Auftraggeber über den Abschluss des Vertrags, jedoch nicht später als sechs Monate nach Vertragsschluss geltend gemacht worden ist. 2Hat der Auftraggeber die Auftragsvergabe im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemacht, endet die Frist zur Geltendmachung der Unwirksamkeit 30 Kalendertage nach Veröffentlichung der Bekanntmachung der Auftragsvergabe im Amtsblatt der Europäischen Union.
2416 § 132 GWB Auftragsänderungen während der Vertragslaufzeit
25(1) 1Wesentliche Änderungen eines öffentlichen Auftrags während der Vertragslaufzeit erfordern ein neues Vergabeverfahren. 2Wesentlich sind Änderungen, die dazu führen, dass sich der öffentliche Auftrag erheblich von dem ursprünglich vergebenen öffentlichen Auftrag unterscheidet. […]
26(2) 1Unbeschadet des Absatzes 1 ist die Änderung eines öffentlichen Auftrags ohne Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens zulässig, wenn
27[…]
283. die Änderung aufgrund von Umständen erforderlich geworden ist, die der öffentliche Auftraggeber im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht nicht vorhersehen konnte, und sich aufgrund der Änderung der Gesamtcharakter des Auftrags nicht verändert […].
292In den Fällen des Satzes 1 Nummer 2 und 3 darf der Preis um nicht mehr als 50 Prozent des Wertes des ursprünglichen Auftrags erhöht werden.
3017 § 154 GWB Sonstige anwendbare Vorschriften
31Im Übrigen sind für die Vergabe von Konzessionen […] folgende Vorschriften entsprechend anzuwenden:
32[…]
333. § 131 Absatz 2 und 3 und § 132 […],
344. die §§ 133 bis 135,[…].
3518 Der Senats sieht die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 132 Abs. 2 Nr. 3 GWB bei der inhaltlichen Ergänzung fast aller Konzessionsverträge als erfüllt an, weil der öffentliche Auftraggeber jedenfalls bei Abschluss der Verträge in den Jahren 1996 bis 1998 nicht vorhersehen konnte, dass sich ein Bedarf für eine Schnellladeinfrastruktur an Bundesautobahnraststätten entwickeln und eine gesetzliche Verpflichtung zu deren Errichtung begründet werden wird, und sich der Gesamtcharakter der Nebenbetriebskonzessionen durch die Ergänzung nicht verändert. Auch erhöht sich der Wert des ursprünglichen Auftrags nicht um mehr als 50 Prozent
3619 Für den Senat ist jedoch nicht klar, ob der Anwendungsbereich des Art. 132 Abs. 2 Nr. 3 GWB, durch den Art. 72 Abs. 1 Buchst. c) der Vergaberichtlinie 2014/24/EU in nationales Recht umgesetzt worden und der dementsprechend richtlinienkonform auszulegen ist, auch für solche Verträge eröffnet ist, die außerhalb des Anwendungsbereichs des im 4. Teil des GWB geregelten Vergaberechts mit einer Inhouse-Einrichtung des öffentlichen Auftraggebers geschlossen worden sind, jedoch im Zeitpunkt der Auftragsänderung die Inhouse-Kriterien nicht mehr erfüllt sind, weil das Kapital des Konzessionsnehmers nunmehr zu 100 Prozent von privaten Investoren gehalten wird.
3720 Hierauf kommt es aber für die Entscheidung an, weil der Senat in der Ergänzungsvereinbarung eine wesentliche Änderung im Sinne des § 132 Abs. 1 Satz 1 GWB sieht. Damit ist entscheidend, ob die Antragsgegnerin und die Beigeladenen die zwischen ihnen bestehenden, ohne Ausschreibung vergebenen Konzessionsvereinbarungen nach § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit § 154 Nr. 3 GWB ohne Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens um die eigenwirtschaftlichen Übernahme von Errichtung, Unterhaltung und Betrieb von funktionsfähiger Schnellladeinfrastruktur ergänzen durften, weil dann eine Vergabe des Auftrags im Sinne von § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union aufgrund Gesetzes gestattet war.
3821 Der Senat erachtet den Wortlaut des Art. 72 der Vergaberichtlinie 2014/24/EU nicht für hinreichend eindeutig. Zwar ist in Art. 72 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 und Abs. 5 jeweils von der Durchführung eines „neuen Vergabeverfahrens“ die Rede. In Art. 72 Abs. 1 Buchst. b) findet sich die Formulierung „des ursprünglichen Vergabeverfahrens“ und in Abs. 4 Buchst. a) „das ursprüngliche Vergabeverfahren“. Auch in dem auf Art. 72 Abs. 1 Buchst. c) bezogenen Erwägungsgrund 109 der Vergaberichtlinie 2014/24/EU wird ausgeführt, dass ein gewisses Maß an Flexibilität erforderlich ist, um den Auftrag an unvorhersehbare Gegebenheiten anzupassen, ohne ein „neues Vergabeverfahren“ einleiten zu müssen. Nach dem üblichen Sprachgebrauch ist dann von einem „neuen“ Verfahren die Rede, wenn es ein vorangegangenes „altes“ bzw. „ursprüngliches“ Verfahren gegeben hat. Auch dürfte der Begriff „Vergabeverfahren“ im Zusammenhang mit der Vergaberichtlinie 2014/24/EU darauf hindeuten, dass es sich hierbei um ein förmliches Verfahren nach den Vorschriften der Richtlinie 2014/24/EU handelt. Zwingend ist dies jedoch nicht. Auch die Beauftragung einer Inhouse-Einrichtung kann als Vergabe eines Auftrags (InhouseVergabe) und der zeitliche Ablauf bis zur Auftragserteilung als Verfahren verstanden werden.
3922 Nach Ansicht des Senates führt auch die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht zu einem eindeutigen Ergebnis. So hat der Gerichtshof der Europäischen Union in zwei Entscheidungen seine Grundsätze für nachträgliche Vertragsänderungen auf solche Verträge angewandt, die zu einem Zeitpunkt geschlossen worden sind, als das Gemeinschaftsrechts noch keine Geltung hatte. In seinem grundlegenden Urteil vom 19. Juni 2008, C-454/06, „pressetext“ hat er nicht nur die Grundsätze entwickelt, wann eine Änderung der Bestimmungen eines öffentlichen Auftrags während seiner Geltungsdauer als Neuvergabe zu werten ist, sondern diese auch auf einen Auftrag für anwendbar erachtet, der geschlossen wurde, bevor die Republik Österreich der Europäischen Union beigetreten ist, für den also die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben seinerzeit noch nicht galten (ECLI:EU:C:2008:351, Slg. 2008 I-4401 Rnrn. 28, 34-37). Im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Italienische Republik hat der Gerichtshof der Europäischen Union betreffend die Verlängerung einer bereits 1969 und damit vor Erlass der einschlägigen Unionsvorschriften vergebenen Baukonzession klargestellt, dass das anwendbare Unionsrecht jenes ist, das zum Zeitpunkt der Änderung des Vertrages gilt und der Umstand, dass der ursprüngliche Konzessionsvertrag vor dem Erlass der einschlägigen Unionsvorschriften abgeschlossen wurde, irrelevant ist (EuGH, Urteil vom 18. September 2019, C-526/17, ECLI:EU:C:2019:756, Rn. 60).
4023 Dies könnte dahingehend verstanden werden, dass es für die Anwendbarkeit der Grundsätze für nachträgliche Vertragsänderungen ohne Durchführung eines (neuen) Vergabeverfahrens, die nunmehr in Art. 72 der Vergaberichtlinie 2014/24/EU normiert sind, nicht darauf ankommt, auf welche Art und Weise der ursprüngliche Auftrag zustande gekommen ist, insbesondere ob hierbei die Grundsätze der Nichtdiskriminierung, der Gleichheit und des wirksamen Wettbewerbs beachtet worden sind. Für eine solche Betrachtung könnte auch sprechen, dass der Gerichtshof der Europäischen Union generell keine Veranlassung sieht, in bestehende, auf unbestimmte Zeit oder für mehrere Jahre abgeschlossene Rechtsverhältnisse einzugreifen, wenn diese Rechtsverhältnisse vor Geltung diesbezüglicher Unionsvorschriften begründet worden sind (EuGH, Urteil vom 24. September 1998, C-76/97, ECLI:EU:C:1998:432, Slg. 1998, I-5357, Rn. 54 - Tögel; EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2000, C-337/98, ECLI:EU:C:2000:543, Slg. 2000 I-8377 Rn. 38 - Matra-Transport).
4124 In eine andere Richtung deutet hingegen das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 12. Mai 2022, C-719/20, „Comune di Lerici“ (ECLI: EU:C:2022:372). Die italienische Gemeinde Lerici hatte die kommunale Abfallbewirtschaftung mit einer ausdrücklich als „Inhouse-Vergabe“ bezeichneten Entscheidung einer Gesellschaft übertragen, deren Anteilseigner ausschließlich Gemeinden einschließlich ihrer selbst waren. In der Folgezeit geriet diese Gesellschaft in finanzielle Schwierigkeiten und wurde von der börsennotierten IREN SpA übernommen, die die Erbringung der übertragenen Dienstleistungen fortsetzte. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat hierin eine unzulässige Vertragsänderung gesehen. Aus dem Wortlaut von Art. 72 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24/EU ergebe sich, dass dessen Anwendungsbereich auf den Fall beschränkt sei, in dem der Rechtsnachfolger des ursprünglichen Auftragnehmers die Ausführung des öffentlichen Auftrags, der Gegenstand des ursprünglichen Vergabeverfahrens war, entsprechend den Anforderungen der Richtlinie fortsetze, wozu die Beachtung der Grundsätze der Nichtdiskriminierung, der Gleichheit und des wirksamen Wettbewerbs zwischen den Wirtschaftsteilnehmern gehörten. Diese Auslegung werde auch durch Art. 72 Abs. 4 der Richtlinie gestützt, wonach eine Änderung des Auftrags als wesentlich angesehen werde, wenn mit ihr Bedingungen eingeführt werden, die, wenn sie für das ursprüngliche Vergabeverfahren gegolten hätten, die Zulassung anderer als der ursprünglich ausgewählten Bewerber oder die Annahme eines anderen als des ursprünglich angenommenen Angebots ermöglicht oder das Interesse weiterer Teilnehmer am Vergabeverfahren geweckt hätten, sowie durch das Ziel, den Bereich des öffentlichen Auftragswesens einem möglichst umfassenden Wettbewerb zu öffnen, das mit den einschlägigen Richtlinien im Interesse nicht nur der Wirtschaftsteilnehmer, sondern auch der öffentlichen Auftraggeber angestrebt werde. Mithin könne eine Änderung des Auftragnehmers wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht unter Art. 72 der Richtlinie 2014/24 fallen, da der öffentliche Auftrag, um den es im Ausgangsverfahren geht, ursprünglich ohne Ausschreibung an eine Inhouse-Einrichtung vergeben wurde (ECLI:EU:C: 2022:372, Rnrn. 41-43).
4225 Dies könnte für eine generelle Herausnahme von ursprünglich an eine Inhouse-Einrichtung vergebenen Aufträgen aus dem Anwendungsbereich des Art. 72 und damit auch der vorliegenden relevanten Bestimmung des Art. 72 Abs. 1 Buchst. c) der Richtlinie 2014/24/EU sprechen, wenn die Voraussetzungen für eine Inhouse-Vergabe im Zeitpunkt der Vertragsänderung nicht mehr vorliegen.
4326 Denn das Hauptziel der Gemeinschaftsvorschriften ist es, über das öffentliche Auftragswesen freien Dienstleistungswettbewerb und die Öffnung für einen unverfälschten Wettbewerb in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Dieses doppelte Ziel verfolgt das Gemeinschaftsrecht insbesondere durch die Anwendung des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Bieter und der sich daraus ergebenden Verpflichtung zur Transparenz (EuGH, Urteil vom 19. Juni 2008, C-454/06, ECLI:EU:C:2008: 351, Slg. 2008 I-4401 Rnrn. 31, 32 - pressetext; EuGH, Urteil vom 12. Mai 2022, C-719/20, ECLI:EU:C:2022:372, Rn. 42 - Comune di Lerici). Das angestrebte Ziel, den Bereich des öffentlichen Auftragswesens einem möglichst umfassenden Wettbewerb zu öffnen, würde jedoch nicht erreicht, wenn die Änderung eines inhouse vergebenen Auftrag während der Laufzeit ohne Neuvergabe möglich ist, obwohl die inhouse Kriterien jetzt nicht mehr vorliegen. Zu keinem Zeitpunkt wäre es anderen Bietern und Bewerbern möglich, den Auftrag zu erhalten. Den Ursprungsauftrag nicht, weil der Anwendungsbereich der Vergaberichtlinie nicht eröffnet war, bei einer wesentlichen Vertragsänderung nicht, weil diese von Art. 72, vorliegend von Art. 72 Abs. 1 Buchst. c) der Richtlinie 2014/24/EU gedeckt wäre.
4427 Allerdings steht nach Auffassung des Senats nicht zweifelsfrei fest, ob der Gerichtshof der Europäischen Union den Anwendungsbereich von Art. 72 Abs. 1 tatsächlich in diesem Sinne einschränken wollte. So können seine Ausführungen auch dahingehend verstanden werden, dass Art. 72 Abs. 1 bei einer ursprünglichen Inhouse-Vergabe zwar grundsätzlich anwendbar ist, jedoch der zur Überprüfung stehende Auftragnehmerwechsel die in Abs. 1 Buchst. d) Ziff. ii der Richtlinie 2014/24/EU geregelten Voraussetzungen nicht erfüllt, wonach dieser keine weitere wesentliche Änderung des Auftrags zur Folge haben darf.
4528 So findet er sein Auslegungsergebnis nicht nur durch die Regelung in Art. 72 Abs. 4 bestätigt, sondern führt ferner aus, dass die Fortsetzung der Ausführung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden öffentlichen Auftrags durch IREN SpA auf die Änderung einer grundlegenden Bedingung des Auftrags zurückgeht, die eine Ausschreibung erfordert (EuGH, Urteil vom 12. Mai 2022, C-719/20, ECLI:EU:C:2022:372, Rn. 42 u. 50 - Comune di Lerici). Die Änderung einer grundlegenden Bedingung eines Auftrags ist aber gleichzusetzen mit einer wesentlichen Änderung des Auftrags, zu der ein Auftragnehmerwechsel nach Art. 72 Abs. 1 Buchstabe d Ziff. ii nicht führen darf.
4629 Für eine Anwendbarkeit von Art. 72 Abs. 1 Buchstabe c) auf ursprünglich inhouse ohne Ausschreibung vergebene Aufträge könnte möglicherweise auch sprechen, dass es im Hinblick auf die Zielsetzung des Gemeinschaftsrechts (siehe Rn. 26) keinen Unterschied machen dürfte, ob der Auftrag deshalb außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2014/24/EU vergeben worden ist, weil es sich um eine Inhouse-Vergabe handelte oder bei Abschluss des Ursprungsvertrags das Gemeinschaftsrecht überhaupt noch keine Geltung hatte.
4730 Nach Auffassung des vorlegenden Senats ist hingegen irrelevant, ob die ursprüngliche Konzessionsvergabe an die Beigeladenen im Vorfeld der beabsichtigten Privatisierung vergaberechtskonform war oder ob die Privatisierung der Beigeladenen ab 1998 eine wesentliche Änderung der Konzessionsverträge darstellte, da insoweit die in Umsetzung von Art. 2 f Abs. 1 Buchst. b) der Richtlinie 89/665/EWG geschaffene Sechs-Monats-Frist des § 135 Abs. 2 GWB schon lange abgelaufen ist.
4831 Die hinter dieser Ausschlussfrist stehende Intension, nach Ablauf angemessener Mindestverjährungsfristen für Rechtssicherheit zu sorgen, würde konterkariert, könnte bei jeder folgenden Änderung die Vergaberechtskonformität der ursprünglichen Vergabe oder vorangegangener Änderungen auch noch nach Ablauf dieser Fristen in Zweifel gezogen werden. Der allgemeine Grundsatz der Rechtssicherheit lässt eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Vergabe oder Änderung eines öffentlichen Auftrags nicht mehr zu, nachdem die vorgesehene Ausschlussfrist abgelaufen ist (EuGH, Urteil vom 26. März 2020, C-496/18, ECLI:EU:C:2020:240 Rn. 102 - Hungeod Közlekedésfejlesztési).
4932 Die zur Vorabentscheidung gestellte Frage ist daher aus Sicht des Senats entscheidungserheblich. Der Senat sieht nicht, dass der Rechtsstreit unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten ohne Beantwortung der Frage entschieden werden könnte.