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Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss der 2. Vergabekammer des Bundes vom 25.05.2023 (VK 2 – 116/22 BKartA) wird als unzulässig verworfen.
Die Antragstellerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der jeweils zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen zu tragen.
Gründe:
2I.
3Die Antragsgegnerin schrieb mit Bekanntmachung vom 06.09.2021 im Verhandlungsverfahren mit vorgeschalteten Teilnahmewettbewerb eine Rahmenvereinbarung zur Lieferung taktischer Führungs- und Kommunikationssysteme EU-weit aus (Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union, Bekanntmachungsnummer ...). Die mittlerweile aufgehobene Ausschreibung hatte die „Lieferung von Funkgeräten für den Führungsfunk sowie ggf. Erbringung verschiedener Serviceleistungen im Rahmen des Programms Digitalisierung Landbasierte Operationen“ (Ziff. II.1.1 der Bekanntmachung) zum Gegenstand. Die abzuschließende Rahmenvereinbarung sollte eine Laufzeit von 15 Jahren haben (Ziff. II.1.4 der Bekanntmachung). Die Antragsgegnerin beabsichtigte insgesamt circa [Passus entfernt] Geräte verschiedener Bauformen zu beschaffen. Neben der Lieferung der Funkgeräte waren Leistungen zur IT-Integration, zur Herstellung der Einsatzreife, zur Ausbildung und Betreuung (Instandsetzung und TLB) auf Abruf zu erbringen (Ziff. II.2.1 Bekanntmachung). Ausweislich Ziff. II.1.5 der Bekanntmachung bildet der Beschaffungsgegenstand einen wesentlichen Bestandteil des langfristigen Programms „Digitalisierung Landbasierte Operationen (D-LBO)“ der Bundeswehr, mit dem die Bundeswehr das übergeordnete Ziel verfolgte, die gesamten Landstreitkräfte zur vernetzten Operationsführung zu befähigen. Mit Änderungsbekanntmachung vom 13.09.2021 (Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union, Bekanntmachungsnummer ...) machte die Antragsgegnerin weitere Anforderungen zur technischen und beruflichen Leistungsfähigkeit bekannt (Ziff. III.2.3 der Bekanntmachung), wobei als ein Eignungskriterium nach Ziff. III.2.3 Nr. 4 der Bekanntmachung die Befähigung zur Portierung von Wellenformen Dritter auf eigene Funkgeräteplattformen aufgestellt wurde.
4Die Antragstellerin gab neben weiteren Unternehmen innerhalb der bis zum 13.10.2021 laufenden Teilnahmefrist einen Teilnahmeantrag ab.
5Aufgrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine fand am 25.02.2022 eine erste amtsinterne Prüfung über dessen Auswirkungen auf das Vergabeverfahren und die dortige Forderungslage statt (vgl. fortgeschriebener Vergabevermerk v.14.12.2022). Es folgte am 14.03.2022 eine Erörterung der Auswirkungen auf das Vergabeverfahren mit dem Bundesministerium der Verteidigung, wobei sich aus der nachfolgend erteilten Weisung des Bundesministeriums der Verteidigung [Passus entfernt] vom 18.03.2022 in Bezug auf die „Digitalisierung Landbasierte Operationen“ neue Zeitlinien und eine deutliche Erhöhung der Bestellmenge ergaben (vgl. auch fortgeschriebener Vergabevermerk vom 14.12.2022). Am 27.04.2022 setzte die Antragsgegnerin die Auswertung der Teilnahmeanträge wegen einer weiteren amtsinternen Prüfung und Abstimmung zu den Auswirkungen der Weisung vom 18.03.2022 aus. Auch die vom Kommando Cyber- und Informationsraum (KdoCIR) erstellten und aktualisierten Bedarfsträgerforderung (BTF) vom 03.06.2022, aus der sich ebenfalls eine Abweichung der aktuellen Forderungslage von dem ausgeschriebenen Bedarf ergab, veranlasste die Antragstellerin zu einer weiteren amtsinternen Überprüfung des laufenden Vergabeverfahrens (vgl. insgesamt fortgeschriebener Vergabevermerk vom 14.12.2022).
6Nachdem die Beigeladene mit Schreiben vom 07.07.2022 auf Nachfrage der Antragsgegnerin mitgeteilt hatte, dass sie eine Einwilligung für eine Nutzung des Funktionssicherheitsanteils der NTN-Wellenformen durch Dritte nicht erteilen werde, beschloss die Antragsgegnerin am 10.08.2022 – so ihre „Entscheidung über die Vergabeart“ zu dem Vorhaben [Passus entfernt] (Streitkräftegemeinsame verbundfähige Funkgeräteausstattung) - Führungsfunkgeräte bei der Beigeladenen ohne europaweite Ausschreibung zu beschaffen. In der „Entscheidung über die Vergabeart“ unter Ziff. 1.1 heißt es hierzu wie folgt:
7„1.1 Beschreibung der Leistung
8(Projekt oder Geräte)
9[Zusammenfassung]
10Das Beschaffungsvorhaben betrifft ein militärisches Funkübertragungssystem („Führungsfunksystem“) zur schnellstmöglichen Erhöhung der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.
11Es sollen schnellstmöglich Führungsfunkgeräte einschl. Zubehör in verschiedenen Bauformen beschafft werden, die zur Ausstattung der Bundeswehr benötigt werden. Darüber hinaus müssten die Funkgeräte – ggf. unter Verwendung weiteren Zubehörs einsetzbar sein.
12Das Führungsfunksystem umfasst [Passus entfernt] Neben der Ausbildung werden für die Bauform Feststationsfunkgerät zusätzlich Betriebs-, Transport- und Lagerbehälter sowie Antennen für den Standbetrieb beschafft.
13Alle Bauformen des Führungsfunksystems müssen zudem operativ erforderliche Interoperabilitäten aufweisen. Die Übertragung der eingestuften Informationen ist sicherzustellen.
14Das Führungsfunksystem dient der schnellstmöglichen Sicherstellung des Informationsaustausches.“
15Hintergrundinformationen [Zusammenfassung]:
16„Seit September 2021 wird bereits ein Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb zur Beschaffung eines Führungsfunksystems (Rahmenvereinbarungsnummer Q/I2CG/R8452) durchgeführt. Das Verfahren befindet sich nun im Stand Auswertung der Teilnahmeanträge. Wegen des bewaffneten Angriffs Russlands auf die Ukraine (UKR) seit dem 24. Februar 2022 hat sich die Bedrohungsanalyse für Deutschland signifikant geändert. Die geänderte Bedrohungsanalyse hat erhebliche Auswirkungen auf die Einsatzverpflichtungen der Bundeswehr in der Bündnis- und Landesverteidigung. Diese Einsatzverpflichtungen führen zu einer erheblichen Änderung des Beschaffungsbedarfs bei Führungsfunkgeräten, der abweichend von dem ursprünglich phasenweisen geplanten Aufwuchs von Führungsfunkgeräten bei den Landstreitkräften, nun die schnellstmögliche Ausstattung mit Funkgeräten verlangt (siehe Anlage Projekt Beschaffung Führungsfunkübertragungssystem).
17Die Leistung beinhaltet abweichend vom Grundsatz der Produktneutralität (eine) Produktvorgabe(n)
18Begründung:
19Siehe Anlage Projekt Beschaffung Führungsfunkübertragungssysteme“
20Zum Auftragstyp führt die Antragsgegnerin unter Ziff. 1.2 weiter aus:
21„verteidigungs- oder sicherheitsrelevanter Auftrag, § 104 GWB
22Vorliegend handelt es sich um einen verteidigungsspezifischen Auftrag gem. § 104 Abs. 1 Nr. 1 GWB. …
23Das Führungsfunksystem ist eine Militärausrüstung in diesem Sinne, weil es eigens zu militärischen Zwecken konzipiert ist bzw. jedenfalls für militärische Zwecke angepasst werden muss. …
24Ergänzend wird auf die Ausführungen unter B.1 (Kriegsmaterial) der Anlage Projekt Beschaffung Führungsfunkübertragungssystem verwiesen.“
25Zum Vertragstyp Rahmenvertrag heißt es unter Ziff. 1.3:
26„[Zusammenfassung]
27Der Zulauf der Beschaffungsgegenstände und die damit verbundene Ausstattung der Streitkräfte ist über einen Zeitraum von XY geplant. Der Beschaffungsgegenstand erfordert diese Laufzeit, da in Folge eines potenziellen Auftragnehmerwechsels die zwingend zu gewährleistende Interoperabilität des Führungsfunksystems zu technischen und wirtschaftlichen Risiken für die unterbrechungsfreie Einsatzbereitschaft des Führungsfunksystems führen würde.
28Aufgrund der erforderlichen Systemfähigkeit des Führungsfunks und der beabsichtigten Nutzungsdauer des Führungsfunks würde eine kürzere Vertragslaufzeit zu einem unzumutbar hohen Koordinations- und Integrationsaufwand beim Auftraggeber führen.“
29Unter Ziff. 3 „Ausnahmen vom Vergaberecht“ heißt es:
30„Sonstige Ausnahmetatbestände: § 107 Abs. 2 GWB i.V.m. Art. 346 AEUV
31Begründet im Wege der Subsumtion: Siehe Anlage Projekt Beschaffung Führungsfunkübertragungssystem“.
32Die Anlage I „Anlage Projekt Beschaffung Führungsfunkübertragungssystem“ stufte die Antragsgegnerin – wie auch weitere Teile der Vergabeakte, unter anderem den „5. Änderungsvertag“ mit der Beigeladenen – als GEHEIM ein.
33Die genannte Anlage I hat einen Umfang von insgesamt 61 Seiten. Unter dem Gliederungspunkt A. Ausgangslage beschreibt die Antragsgegnerin auf 39 Seiten die Situation nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und die Auswirkungen auf den Beschaffungsbedarf. Im Anschluss daran wird unter dem Gliederungspunkt B. die Anwendung von § 107 Abs. 2 S. 1 GWB iVm Art. 346 Abs. 1 AEUV thematisiert, und die Voraussetzungen werden im Einzelnen geprüft, bevor unter C. Erforderlichkeit insbesondere Ausführungen dazu gemacht werden, warum ein Verfahren nach der VSVgV nicht gleichermaßen geeignet ist, die wesentlichen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland zu wahren.
34Nachdem die Antragstellerin am 08.12.2022 aus der Presse erfahren hatte, dass das Verteidigungsministerium beabsichtige bis zu [Passus entfernt] abhörsichere Digitalfunkgeräte für den Führungsfunk von der Beigeladenen zu erwerben, wandte sie sich mit einem undatierten Schreiben (Anlage BF 4) an den Staatssekretär des Bundesministeriums für Verteidigung und äußerte Bedenken, dass die zu beschaffenden Funkgeräte der Beigeladenen zukunftsfähig, wirtschaftlich und mit Blick auf die multinationale Interoperabilität, Fahrzeugintegration und Produktionsfähigkeit geeignet seien.
35Am 14.12.2022 beschäftigte sich der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages mit dem Beschaffungsvorhaben „5. Änderungsvertrag und Neufassung über die von einem militärischen Funkübertragungssystem („Führungsfunksystem“) im Rüstungsprogramm Digitalisierung Landbasierte Operationen (D-LBO)“ und billigte die Beschaffung eines Führungsfunksystems mit dem am gleichen Tag gefassten Maßgabenbeschluss.
36Noch am selben Tag hob die Antragsgegnerin das mit Bekanntmachung vom 06.09.2021 (Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union, Bekanntmachungsnummer ...) bekannt gemachte Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb auf und informierte die Antragstellerin sowie die übrigen am Teilnahmewettbewerb teilnehmenden Unternehmen hierüber jeweils mit Schreiben vom 14.12.2022. Zur Begründung führte sie aus, dass durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der russischen Streitkräfte auf die Ukraine eine veränderte Bedrohungslage in Europa eingetreten sei. Damit hätten auch die operationellen, zeitlichen und fähigkeitsbezogenen Anforderungen an die Bundeswehr neu bewertet werden müssen. Die Anforderungen an den Beschaffungsgegenstand des nunmehr aufgehobenen Verfahrens hätten sich derart erheblich verändert, dass an dem ursprünglichen Vergabeverfahren nicht mehr festgehalten werden könne. Ein Vertrag über ein Führungsfunksystem, das der neuen Forderungslage entspreche, werde in Kürze an die Beigeladene vergeben.
37Ebenfalls am 14.12.2022 schlossen die Antragsgegnerin und die Beigeladene den verfahrensgegenständlichen Vertrag „5. Änderungsvertrag und Neufassung“ ab.
38Mit Anwaltsschreiben vom 19.12.2022 (Anlage BF 5) rügte die Antragstellerin gegenüber der Antragsgegnerin die beabsichtigte Auftragserteilung an die Beigeladene sowie die Aufhebung des vorangegangenen Verhandlungsverfahrens mit Teilnahmewettbewerb. Zur Begründung führte sie aus, der Anwendungsbereich des § 107 Abs. 2 GWB sei nicht eröffnet, da die wesentlichen Informationen zur geforderten Beschaffenheit und Funktion der Funkgeräte bereits durch die vorangegangene EU-Bekanntmachung vom 06.09.2021 im nunmehr aufgehobenen Vergabeverfahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden seien. Weder der Beschaffungsgegenstand noch der Umfang der nunmehr im Wege der Direktvergabe beabsichtigten Beschaffung habe sich im Vergleich zu der mit EU-Bekanntmachung vom 06.09.2021 mitgeteilten Beschaffung wesentlich verändert. Auch die Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift des § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. b) und c) VSVgV lägen nicht vor. Weder sei eine Dringlichkeit im Sinne des § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. b) VSVgV gegeben, noch rechtfertigten technische Besonderheiten im Sinne des § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. c) VSVgV die Durchführung eines Verhandlungsverfahrens mit nur einem einzigen Unternehmen. Anhaltspunkte dafür, dass allein die Geräte der Beigeladenen die auftraggeberseitigen Anforderungen erfüllten, gäbe es nicht. Vielmehr bestünde Anlass zu der Annahme, dass die durch die Beigeladene angebotenen Digitalfunkgeräte notwendige Anforderungen an die Abhörsicherheit nicht erfüllten. Nach Marktkenntnis der Antragstellerin seien die Funkübertragungssysteme der Beigeladenen nicht – wie nach dem Maßgabenbeschluss des Haushaltsausschusses vom 14.12.2022 gefordert – multinational interoperabel und im zukünftigen System des Projekts [Passus entfernt] integrierbar. Die beabsichtigte Auftragsvergabe an die Beigeladene könne schließlich nicht als ein Änderungsvertrag zu bereits bestehenden Vereinbarungen mit der Beigeladenen im Sinne des § 132 Abs. 2 S. 2 GWB angesehen werden. Hierfür sei der Umfang des zu vergebenden Auftrags zu hoch. Letztlich fehle ein Aufhebungsgrund im Sinne des § 37 VSVgV für das ursprüngliche Vergabeverfahren, da die genannten technischen Anforderungen an den Beschaffungsgegenstand im Wesentlichen unverändert geblieben seien, was sich aus den Presseberichten zum Maßgabebeschluss des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestags vom 14.12.2022 ergebe.
39Mit Anwaltsschriftsatz ebenfalls vom 19.12.2022 hat die Antragstellerin die Einleitung des vorliegenden Nachprüfungsverfahrens beantragt. Sie hat unter Wiederholung und Vertiefung der erhobenen Rügen die Ansicht vertreten, der mit der Beigeladenen geschlossene Vertrag sei nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB unwirksam, da er nicht ohne europaweite Bekanntmachung hätte vergeben werden dürfen. Zudem hat sie weitergehende Akteneinsicht beantragt.
40Die Antragstellerin hat zuletzt beantragt,
411. die Unwirksamkeit des durch die Antragsgegnerin an die Beigeladene vergebenen Auftrags nach § 135 Abs. 1 GWB festzustellen und die weitere Verfahrensausführung zu untersagen;
2. festzustellen, dass die Antragstellerin in ihren Rechten aus § 97 Abs. 6 GWB verletzt ist und die Aufhebung des Vergabeverfahrens ... (Nr. der Bekanntmachung), ... (Aktenzeichen der Vergabestelle) rechtswidrig war;
3. die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin für notwendig zu erklären;
4. der Antragsgegnerin die Kosten des Nachprüfungsverfahrens sowie die Kosten einer zweckentsprechenden Rechtsverfolgung gemäß der §§ 182 Abs. 4 GWB, 80 VwVfG einschließlich der vorprozessualen Anwaltskosten aufzuerlegen;
5. ihr Akteneinsicht zu gewähren.
Die Antragsgegnerin hat beantragt,
48den Nachprüfungsantrag vom 19.12.2022 zurückzuweisen und denjenigen vom 23.12.2022 zu verwerfen sowie
49der Antragstellerin die Kosten der Nachprüfungsverfahren sowie die zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Antragsgegnerin aufzuerlegen und auszusprechen, dass für die Antragsgegnerin die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten notwendig ist.
50Die mit Beschluss vom 21.12.2023 zum Verfahren hinzugezogene Beigeladene hat beantragt,
511. den Nachprüfungsantrag einschließlich des Antrags der Antragstellerin, der Antragsgegnerin die weitere Ausführung des verfahrensgegenständlichen Auftrags zu untersagen, zurückzuweisen;
2. die Antragstellerin hat die Kosten des Nachprüfungsverfahrens einschließlich der Kosten zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung der Beigeladenen zu tragen;
3. die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten der Beigeladenen für notwendig zu erklären.
Die Antragsgegnerin und die Beigeladene haben die Ansicht vertreten, der Rechtsweg zu den Vergabenachprüfungsinstanzen sei mangels Anwendbarkeit des Vierten Teils des GWB nach § 107 Abs. 2 Nr. 1 und 2 GWB i. V. m. Art 346 Abs. 1 lit. a) und b) AEUV nicht eröffnet.
56Mit Beschluss vom 25.05.2023 hat die Vergabekammer den auf Feststellung der Unwirksamkeit des durch die Antragsgegnerin an die Beigeladene vergebenen Auftrags gerichteten Nachprüfungsantrag als unbegründet zurückgewiesen (Ziff. 1 des Tenors). Die Voraussetzungen des § 107 Abs. 2 GWB, der eine Statthaftigkeit des Nachprüfungsantrags ausschließen würde, lägen nicht vor. Beide Varianten des § 107 Abs. 1 Nr. 1 GWB i. V. m. Art 346 Abs. 1 lit. a) AEUV und § 107 Abs. 1 Nr. 2 GWB i. V. m. Art 346 Abs. 1 lit. b) AEUV setzten voraus, dass zum Schutz wesentlicher Sicherheitsinteressen der Verzicht auf ein Vergabeverfahren auch wirklich erforderlich sein müsse. Dies sei vorliegend nicht der Fall, da die Antragsgegnerin auch bei Anwendung des Vergaberechts befugt gewesen sei, den Auftrag im Wege eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb direkt nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. c) VSVgV zu vergeben. Die Voraussetzungen des § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. c) VSVgV lägen vor.
57Die Aufhebung des am 06.09.2021 bekannt gemachten Vergabeverfahrens sei nicht nur wirksam, sondern auch rechtmäßig, da sie von den Aufhebungsgründen des § 37 Abs. 2 VSVgV gedeckt sei. Die Grundlagen des ursprünglichen Vergabeverfahrens hätten sich aus schwerwiegenden, nicht der Antragsgegnerin zuzurechnenden Gründen im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 2 und 4 VSVgV wesentlich geändert. Die Antragsgegnerin habe aber gegen ihre aus § 37 Abs. 2 VSVgV folgende Verpflichtung verstoßen, die Auftragsinteressenten unverzüglich über die Aufhebungsentscheidung zu informieren. Die Tatsache, dass am 14.12.2022 der Vertrag mit der Beigeladenen unterschriftsreif vorgelegen habe und tatsächlich geschlossen worden sei, zeige, dass die Entscheidung über die Aufhebung schon Monate vor dem 14.12.2022 getroffen worden sei.
58Der Beschluss der Vergabekammer ist wie sich aus dem vorgelegten Sendungsbeleg ergibt (GA Bl. 485, 486) mitsamt Empfangsbekenntnis am Freitag, dem 26. Mai 2023 um 9.34 Uhr in der Kanzlei der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin eingegangen.
59Noch am selben Tag beauftragte U., der sich zu diesem Zeitpunkt noch im Urlaub befand, J., den Beschluss der Vergabekammer mit einer von ihm verfassten E-Mail an die Vertreter der Antragstellerin sowie an seine ebenfalls mit der Sache befassten Q. und A. weiterzuleiten. Die E-Mail lautet wie folgt:
60[Passus entfernt]
61Wie in der E-Mail angekündigt unterzeichnete U. das Empfangsbekenntnis nach Rückkehr in sein Büro am Mittwoch, dem 31. Mai 2023 und sandte es an die Vergabekammer zurück.
62Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 13.06.2023 – eingeworfen in den Nachtbriefkasten des Oberlandesgerichts Düsseldorf am 13.06.2023 – legte die Antragstellerin sofortige Beschwerde gegen den Beschluss der Vergabekammer ein. Anlagen waren dem Schriftsatz nicht beigefügt. Diese gingen einen Tag später, am 14.06.2023 in elektronischer Form per beA beim Oberlandesgericht Düsseldorf ein. Unter den Anlagen befand sich eine Version der Beschwerdeschrift vom 13.06.2023 in einer teilweise geschwärzten Version für die Beigeladene. Zur Begründung ihrer Beschwerde macht die Antragstellerin geltend, ihr Nachprüfungsantrag sei zulässig. Die Ausnahmetatbestände des § 107 Abs. 2 GWB lägen nicht vor. Insbesondere läge weder eine Ausnahme nach Art. 346 Abs. 1 lit a) AEUV noch eine Ausnahme nach Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV vor. Wesentliche Sicherheitsinteressen im Sinne des Art. 346 Abs. 1 lit a) AEUV seien nicht betroffen. Art. 346 Abs. 1 lit a) AEUV greife als Ausnahmetatbestand nur dann ein, wenn bereits der Beschaffungsgegenstand selbst so geheim sei, dass jedwede Information der Öffentlichkeit ausscheide. Dies sei vorliegend schon aufgrund der parlamentarischen Informationspflicht nicht der Fall. Zudem seien wesentliche Informationen zur geforderten Beschaffenheit und Funktion der Digitalfunkgeräte in dem vorangegangenen Vergabeverfahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Der Öffentlichkeit sei überdies bekannt, dass die deutschen Heereskräfte über keine verschlüsselungsfähigen Führungsfunksysteme verfügten. Die anzuschaffenden softwaredefinierten Funkgeräte seien kein Kriegsmaterial im Sinne des Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV und nicht von der Kriegswaffenliste von 1958 erfasst. Sie seien weder „Elektronenmaterial für militärische Zwecke“ im Sinne der Nr. 11 noch „Sonstige Ausrüstungen und sonstiges Material“ im Sinne der Nr. 13. Die Liste sei abschließend.
63Entgegen den Ausführungen im angefochtenen Beschluss der Vergabekammer seien keine technischen Besonderheiten nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. c) VSVgV gegeben, die eine Direktvergabe an die Beigeladene rechtfertigten. Auch insoweit stehe die erfolgte Selbstbindung einer Direktvergabe entgegen.
64Die Antragstellerin beantragt,
651. den Beschluss der 2. Vergabekammer des Bundes vom 25.05.2023 (Az.: VK 2 – 116/22), der Beschwerdeführerin am 31.05.2023 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt, in Bezug auf den Antrag der Beschwerdeführerin vom 03.05.2023 in Ziffer 1, Feststellung der Unwirksamkeit des geschlossenen Vertrages, aufzuheben;
2. die Unwirksamkeit des zwischen der Beschwerdegegnerin sowie der Beigeladenen am 14.12.2022 geschlossenen Vertrages betreffend die Auftragsvergabe des Auftrags „Digitalisierung Landbasierte Operationen (DLBO)“ festzustellen;
3. die Vergabeakte beizuziehen, und der Beschwerdeführerin unverzüglich umfassende Akteneinsicht gemäß § 165 GWB zu gewähren;
4. die Hinzuziehung eines Prozessbevollmächtigten durch die Beschwerdeführerin zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung im Verfahren vor der Vergabekammer für notwendig zu erklären;
5. der Beschwerdegegnerin die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Beschwerdeführerin sowie die Kosten des Beschwerdeverfahrens aufzuerlegen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
721. die sofortige Beschwerde der Antragstellerin kostenpflichtig zurückzuweisen,
2. auf die Anschlussbeschwerde der Antragsgegnerin hin den Beschluss der 2. Vergabekammer des Bundes vom 25.05.2023 (VK 2-116/22 VS-NfD) abzuändern und den auf die Feststellung der Unwirksamkeit des zwischen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen geschlossenen Vertrages vom 14.12.2022 gerichteten Nachprüfungsantrag der Antragstellerin als unzulässig zu verwerfen;
3. der Antragstellerin die gesamten Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer sowie die zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Antragsgegnerin und die Kosten der Anschlussbeschwerde aufzuerlegen;
sowie hilfsweise,
77den mit der Beigeladenen abgeschlossenen Vertrag vom 14.12.2022 insgesamt nach § 3 Abs. 4 BwBBG nicht für unwirksam zu erklären.
78Die Beigeladene beantragt,
791. die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss der 2. Vergabekammer des Bundes vom 25.05.2023, Aktenzeichen VK 2 – 116/22, als unzulässig, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen;
2. der Antragstellerin und der Beschwerdeführerin die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beigeladenen aufzuerlegen.
Auf die Anschlussbeschwerde der Antragsgegnerin beantragt die Antragstellerin,
83die Anschlussbeschwerde der Antragsgegnerin und den Hilfsantrag zurückzuweisen.
84Die Antragsgegnerin und die Beigeladene verteidigen die Entscheidung der Vergabekammer in der Sache und wiederholen sowie vertiefen ihren Vortrag.
85II.
861. Die sofortige Beschwerde ist unzulässig. Sie ist nicht innerhalb der Frist des § 172 Abs. 1 GWB eingelegt worden ist.
87Nach § 172 Abs. 1 GWB ist die sofortige Beschwerde binnen einer Notfrist von zwei Wochen, die mit der Zustellung der Entscheidung beginnt, schriftlich bei dem Beschwerdegericht einzulegen. Diese Frist begann vorliegend mit der Zustellung an die Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin am 26.05.2023 und endete mit Ablauf des 09.06.2023 (§ 175 Abs. 2 GWB i. V. m. § 72 Nr. 2 GWB i. V. m. § 222 ZPO i. V. m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB), so dass sowohl die am 13.06.2023 durch Einwurf in den Nachtbriefkasten eingereichte sofortige Beschwerde als auch die am 14.06.2023 per beA eingereichte teilgeschwärzte Version des Beschwerdeschriftsatzes für die Beigeladene die Frist nicht hätten wahren können.
88Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass der angefochtene Beschluss dem Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin U. bereits am Freitag, dem 26.05.2023, zugestellt worden ist, auch wenn er das Empfangsbekenntnis erst am Mittwoch, dem 31.05.2023, unterzeichnet hat.
89a. Voraussetzung einer wirksamen Zustellung gegen Empfangsbekenntnis an eine der in § 175 Abs. 3 ZPO i. V. m. §§ 175 Abs. 2, 72 Nr. 2 GWB aufgeführten Personen ist neben der Übermittlung des Schriftstücks in Zustellungsabsicht die Empfangsbereitschaft des Empfängers. Die Entgegennahme des zuzustellenden Schriftstücks muss mit dem Willen erfolgen, es als zugestellt gegen sich gelten zu lassen (BGH, Beschl. v. 20.07.2006 – I ZB 39/05, NJW 2007, 600). Auf den Zeitpunkt, an dem die zuzustellende Entscheidung in die Kanzleiräume des Verfahrensbevollmächtigten gelangt oder durch das Kanzleipersonal entgegengenommen wird, kommt es nicht an (BGH, Beschl. v. 18.09.1990 – XI ZB 8/90, NJW 1991, 42). Zugestellt ist ein Schriftstück daher erst an dem Tag, an dem der Zustellungsadressat vom Zugang des übermittelten Schriftstücks persönlich Kenntnis erlangt und es empfangsbereit entgegennimmt (BGH, Beschl. v. 20.07.2006 – I ZB 39/05, NJW 2007, 600). Die inhaltliche Kenntnisnahme ist hingegen nicht entscheidend. Es genügt die mit der Erlangung des Gewahrsams verbundene Möglichkeit zur inhaltlichen Prüfung (BGH, Beschl. v. 20.07.2006 – I ZB 39/05, NJW 2007, 600; BGH, Beschl. v. 25.09.1991 – XII ZB 98/91, NJW-RR 1992, 251). In der Regel wird der Empfangswille des Prozessbevollmächtigten durch Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses zum Ausdruck gebracht. Er kann aber auch konkludent vor Ausstellung des Empfangsbekenntnisses geäußert werden. Dies ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung beispielsweise der Fall, wenn der Prozessbevollmächtigte eine in Zustellabsicht in sein Gewahrsam gelangte Urteilsabschrift zur Bearbeitung durch seinen Sozius auszeichnet (BGH, Beschl. v. 04.06.1974, VI ZB 5/74) oder ein ihm übermitteltes Urteil an die Mandantschaft weiterleitet (vgl. BGH, Beschl. v. 13.01.2015 – VIII ZB 55/14, juris Rn 12).
90Das Empfangsbekenntnis dient nur dem Nachweis des Geschehens (BGH, Beschl. v. 04.06.1974 – VI ZB 5/74, NJW 1974, 1469) und beweist gemäß § 175 Abs. 2 GWB i.V. m. § 72 Nr. 2 GWB i. V. m. § 175 Abs. 3 ZPO und der darin enthaltenen gesetzlichen Beweisregel das in ihm angegebene Zustellungsdatum (vgl. zu § 174 Abs. 4 S. 1 ZPO a. F.: BGH, Beschl. v. 07.10.2021 – IX ZB 41/20, NJW-RR 2021, 1584 Rn 10; BGH, Beschl. v. 19.04.2012 – IX ZB 303/11, NJW 2012, 2117 Rn 6; BGH, Urt. v. 24.04.2001 – VI ZR 258/00, NJW 2001, 2722; BGH, Urt. v. 07.06.1990 – III ZR 216/89, BGH NJW 1990, 2125). Dadurch ist der Beweis, dass das zuzustellende Schriftstück den Adressaten tatsächlich zu einem früheren Zeitpunkt erreicht hat, nicht ausgeschlossen (BGH, Beschl. v. 07.10.2021 – IX ZB 41/20, NJW-RR 2021, 1584 Rn 10). Allerdings ist eine bloße Erschütterung der Richtigkeit der Angaben im Empfangsbekenntnis nicht ausreichend. Vielmehr muss die Beweiswirkung vollständig entkräftet, mit anderen Worten jede Möglichkeit der Richtigkeit der Empfangsbestätigung ausgeschlossen werden (BGH, Beschl. v. 07.10.2021 – IX ZB 41/20, MJW-RR 2021, 1584 Rn 10; BGH, Beschl. v. 19.04.2012 – IX ZB 303/11, NJW 2012, 2117; BGH, Urt. v. 24.04.2001 – VI ZR 258/00, NJW 2001, 2722; BGH, Urt. v. 07.06.1990 – III ZR 216/89, NJW 1990, 2125; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 27.03.2001 – 2 BvR 2211/97, NJW 2001, 1563).
91b. Ausgehend von diesen Grundsätzen ist der Beschluss der Vergabekammer bereits am 26.05.2023 zugestellt worden. Der Verfahrensbevollmächtigte der Antragstellerin hat die ihm zur Empfangnahme zwecks Zustellung am 26.05.2023 angebotene Beschlussabschrift – so wie angeboten – noch am selben Tag und nicht erst mit Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses am 31.05.2023 angenommen. Wie sich aus der E-Mail vom 26.05.2023 ergibt, hat er bereits am 26.05.2023 Kenntnis von dem Zugang des Schriftstücks in der Kanzlei und von der Zustellabsicht der Vergabekammer erhalten. Er hat nach Erhalt dieser Information das Schriftstück nicht zurückgewiesen, sondern den Entschluss, es als zugestellt zu behalten, jedenfalls dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er J. noch am selben Tag beauftragt hat, den Beschluss der Vergabekammer an die Antragstellerin sowie an die mit dieser Sache ebenfalls befassten Q. und A. weiterzuleiten. Wie sich aus der vorliegenden E-Mail vom 26.05.2023 ergibt, hat J. diesen Auftrag noch am selben Tag umgesetzt. Damit hat der Verfahrensbevollmächtigte unabhängig davon, dass das Empfangsbekenntnis zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgestellt und zurückgesandt worden war, den Beschluss der Vergabekammer zur weiteren Grundlage seines Vorgehens gemacht und damit zugleich nach außen konkludent den Willen erklärt, das Schriftstück als zugestellt entgegen zu nehmen. Der Inhalt der E-Mail steht der Annahme einer solchen Erklärung nicht entgegen. Dies gilt zunächst für die an die Antragstellerin adressierte Mitteilung, den Beschluss nur „für eine allererste Unterrichtung“ sowie „völlig ungeprüft“ zu übermitteln. Für den Empfangswillen kommt es nicht auf die inhaltliche Kenntnisnahme und erst recht nicht auf die inhaltliche Prüfung an. Vielmehr genügt – wie bereits oben ausgeführt – die mit der Erlangung des Gewahrsams verbundene Möglichkeit zur inhaltlichen Prüfung (vgl. BGH, Beschl. v. 20.07.2006 – I ZB 39/05, NJW 2007, 600; BGH, Beschl. v. 25.09.1991 – XII ZB 98/91, NJW-RR 1992, 251). Gleiches gilt für seine Erklärung an die Mandantin, das Empfangsbekenntnis erst nach Rückkehr in das Büro am kommenden Dienstag unterzeichnen zu wollen. Denn es kommt nicht darauf an, ob der Rechtsanwalt selbst die Absicht gehabt hat, durch die Annahme der Zustellung die Berufungsfrist an diesem Tag in Lauf zu setzen. Die richtige Vorstellung von den rechtlichen Folgen, die die Entgegennahme eines zuzustellenden Schriftstücks zum Gewahrsam oder Verbleib auslöst, ist unbeachtlich (BGH, Beschl. v. 04.06.1974 – VI ZB 5/74, NJW 1974). Dem Rechtsanwalt steht die Bestimmung über den Fristlauf dann nicht mehr zu, wenn er sich – so wie hier – auf die Zustellung eingelassen hat, das heißt durch sein Verhalten erklärt hat, er wolle das Schriftstück als ihm zugestellt behandeln. Das Verfahrensrecht verlangt im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, dass sich der Zustellungsempfänger an dem durch seine Erklärung geschaffenen äußeren Tatbestand festhalten lassen muss und sich nicht in Widerspruch zu diesem Verhalten darauf berufen kann, er habe in Wahrheit das Schriftstück nicht als zugestellt annehmen wollen (BGH, Beschl. v. 04.06.1974 – VI ZB 5/74, NJW 1974, 1469; BGH, Beschl. v. 13.06.1966 – III ZR 224/65, VersR 1966, 930). Eine möglicherweise beim Verfahrensbevollmächtigten vorhanden gewesene irrige Auffassung, er dürfe seinen Annahmewillen erst für einen späteren Zeitpunkt erklären, kann es nicht rechtfertigen, den Beschluss als erst am Mittwoch, dem 31.05.2023, zugestellt anzusehen.
92Nichts anderes ergibt sich aus der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 18.09.1990 (Az. XI ZB 8/90). Dort hat der Bundesgerichtshof ausgeführt, dass durch die Entgegennahme eines Schriftstücks und die anschließende Bearbeitung durch das Kanzleipersonal auf der Grundlage einer allgemeinen Anweisung des Rechtsanwalts noch keine Zustellung bewirkt wird, weil die weitergehende einzelfallabhängige Willensentscheidung des Rechtsanwalts, das in seinen Gewahrsam gelangte Schriftstück auch tatsächlich als zugestellt zu behandeln, hierdurch nicht vorweggenommen wird. Anders ist der Sachverhalt jedoch hier. U. hat veranlasst, dass J. den in der Kanzlei eingegangenen Beschluss der Vergabekammer zur Unterrichtung der Mandantschaft an die Antragstellerin und zur weiteren Prüfung an Q. und A weiterleitet. Sie handelte nicht aufgrund einer allgemeinen, sondern einer konkreten Weisung des Verfahrensbevollmächtigten.
93c. Ist somit die Zustellung aus den oben genannten Gründen bereits am 25.06.2023 erfolgt, kommt es auf eine mögliche Empfangnahme und einen Empfangswillen der ebenfalls mit der Sache befassten Q. und A. sowie etwaige Vertretungsregelungen nicht an.
94Auch die Frage, ob die Beschwerdefrist durch den Einwurf in den Nachbriefkasten am 13.06.2023 gewahrt werden oder wegen Nichteinhaltung der in § 172 Abs. 3 S. 1 GWB i. V. m. § 175 Abs. 2 GWB i. V. m. § 72 Nr. 2 GWB i. V. m. § 130d S. 1 ZPO vorgeschriebenen Form keine Wirkung entfalten konnte, bedarf keiner Entscheidung.
952. Aber selbst wenn die sofortige Beschwerde der Antragstellerin fristgemäß eingelegt worden wäre, hätte sie im Ergebnis keinen Erfolg gehabt. Anders als die Vergabekammer ausgeführt hat, wäre ihr Nachprüfungsantrag nicht statthaft gewesen, weil der 4. Teil des GWB vorliegend keine Anwendung gefunden hätte und damit der Weg zu den Nachprüfungsinstanzen nicht eröffnet gewesen wäre.
96Die Antragsgegnerin hat sich in vergaberechtlich nicht zu beanstandender Weise auf die Bereichsausnahme des § 107 Abs. 2 Nr. 2 GWB berufen. Nach dieser Vorschrift ist der 4. Teil des GWB nicht auf öffentliche Aufträge anzuwenden, die dem Anwendungsbereich des Artikels 346 Abs. 1 lit. b des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union unterliegen. Art. 346 Abs. 1 lit. b AEUV sieht vor, dass jeder Mitgliedstaat Maßnahmen ergreifen kann, die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich sind, soweit sie die Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen. Als Ausnahmevorschrift ist die Bestimmung eng auszulegen. Ein Mitgliedstaat der die in Art. 346 AEUV umschriebenen Ausnahmen in Anspruch nehmen möchte, muss nachweisen, dass die betreffenden Befreiungen nicht die Grenzen der genannten Tatbestände überschreiten (EuGH, Urteil v. 07.09.2023 C- 601/21, Rn. 81 u. 82 mwNachw. – Kommission/Polen).
97Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
98a. Bei den zu beschaffenden Systemfunkgeräten handelt es sich um Kriegsmaterial iS von Art. 346 Abs. 1 lit. b AEUV.
99Die unter Kriegsmaterial zu fassenden Gegenstände sind in der in Artikel 346 Abs. 2 AEUV in Bezug genommenen und vom Rat am 15. April 1958 aufgestellten Liste aufgeführt, an deren Rechtsverbindlichkeit nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union keine Zweifel bestehen (EuGH, Urteil v. 7. Juni 2012, C-615/10 Rn. 26). Der Begriff des Kriegsmaterials ist in der Warenliste zwar selbst nicht definiert. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und nach Auffassung der EU-Kommission ist für die Einordnung als Kriegsmaterial maßgeblich, dass es sich bei dem zu beschaffenden Gegenstand um Material handelt, das in objektiver Hinsicht spezifisch militärische Eigenschaften aufweist (EuGH, Urteil v. 7. Juni 2012, C-615, Rn. 40; EU-Kommission, Mitteilung zu Auslegungsfragen bezüglich der Anwendung des Art. 296 EGV, KOM(2006)779). Die Natur der in der Warenliste aufgeführten Waren sowie der ausdrückliche Hinweis in Art. 346 AEUV auf „eigens militärische Zwecke“ bestätigen, dass Art. 346 Abs. 1 lit b AEUV die Nichtanwendung der Gemeinschaftsregeln lediglich für die Beschaffung von Ausrüstungsgegenständen gestattet, die speziell zu militärischen Zwecken konzipiert, entwickelt und hergestellt werden (vgl. Erwägungsgrund 10 der Richtlinie 2009/81/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009).
100Ausgehend hiervon handelt es sich bei der in Rede stehenden Funkgeräteausstattung um Kriegsmaterial. Zwar werden Funkgeräte in der Warenliste nicht ausdrücklich genannt. Sie zählen aber zu dem unter Nr. 11 aufgeführten „Elektronenmaterial für militärische Zwecke“, wobei der Begriff „Elektronenmaterial“ nicht wörtlich zu verstehen ist. Richtigerweise muss es „elektronisches“ Material für militärische Zwecke heißen. Dies folgt aus einem Vergleich mit anderen Sprachfassungen. Die englische Fassung lautet „Military electronic equipment“, was mit „elektronische Ausrüstung für militärische Zwecke“ zu übersetzten ist. Die französische Übersetzung lautet „Matériel electronique pour l´usage militaire“ und ist übereinstimmend mit der englischen Fassung; ebenso die spanische, italienische, niederländische und die portugiesische Fassung.
101Die auftragsgegenständlichen Funkgeräte sind elektronisches Material für militärische Zwecke.
102aa. Es bestehen keine Zweifel, dass Funkgeräte als elektronisches Material zu qualifizieren sind.
103Der Richtliniengeber selbst geht in anderem Zusammenhang davon aus, dass Funkanlagen elektrische oder elektronische Geräte sind. Nach Art. 1 der Richtlinie 2014/53/EU vom 16. April 2014 sind Funkanlagen ein elektrisches oder elektronisches Ereignis im Sinne der genannten Richtlinie. Dessen ungeachtet hat die Beigeladene ausgeführt, dass wesentliche Elemente der verfahrensgegenständlichen Software Defined Radios (SDR) elektronische Bausteine sind. Bei einem SDR sind alle Prozesse bis kurz vor dem eigentlichen Sende- und Empfangsvorgang rein softwaregesteuert und laufen auf hochintegrierten, spezialisierten Chips in Halbleiterbauswese ab. Selbst die finalen Schritte zur Umwandlung der digitalen Wellenformen in eine analoge Modulation der Funkwelle laufen rein softwaregesteuert durch einen Wandler-Chip ab und werden erst dann mit einem elektrisch verstärkten Signal an der Antenne abgestrahlt. Diesem Vorbringen ist die Antragstellerin nicht entgegengetreten. Auch das Bundesvergabeamt der Republik Österreich hat in einem vergleichbaren Fall – es ging um die Beschaffung eines modularen VHF-Funkgerätesystems für das österreichische Bundesheer – angenommen, dass das Funkgerätesystem die Voraussetzungen von Nr. 11 der Warenliste erfüllt, weil elektronische Bausteine funktionsbestimmend für das zum Einsatz kommende System sind (Bescheid v. 19. Mai 2006, Az. n/0026-BVA/05/2006-21).
104bb. Die zu beschaffenden Systemfunkgeräte sind in den verschiedenen Bauformen zum Einsatz für militärische Zwecke bestimmt.
105Sie sind speziell zu militärischen Zwecken konzipiert. Die Systemfunkgeräte garantieren als militärisches Kommunikationsmittel eine durchgängige Führung und Befehlsführung im Einsatz. Damit sind sie ein zentrales Element für alle Operationen auf dem Gefechtsfeld auch und gerade unter direkter Feindeinwirkung und technisch bedingten Ausfällen. Unverzichtbare Voraussetzung für den militärischen Einsatz ist daher Abhörsicherheit durch Verschlüsselung und Härtung mittels Störfestigkeit gegen elektromagnetische Angriffe (GA Bl. 347). Militärische SDR verfügen daher nicht nur über eine hochspezialisierte und gehärtete Hardware-Plattform (GA Bl. 331), sondern auch über ein Portfolio von sog. Wellenformen, das eine lage- und auftragsabhängige Nutzbarkeit ermöglicht. Wellenformen bestimmen die informationstechnische Funktionalität eines SDR maßgeblich. Sie werden für die jeweiligen Funkgerätemodelle und –familien passend entwickelt bzw. für die Verwendung spezifisch darauf angepasst. So können auf einem militärischen SDR gleichzeitig Wellenformen verschiedener Eigenschaften gespeichert und wahlweise abgerufen werden, um etwa die Funktionssicherheit der Kommunikation lageabhängig zu sichern, selbst wenn feindliche Kräfte mit elektronischer Kampfführung stören oder ungünstige äußere Bedingungen vorhanden sind. Zivile Funkgeräte können die speziell entwickelte Wellenform eines militärischen Führungsfunkgeräts nicht nutzen.
106Diesem Vorbringen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen ist die Antragstellerin nicht entgegengetreten.
107b. Art. 346 Abs. 1 lit. b AEUV verlangt als weitere Voraussetzung, dass eine Inanspruchnahme der dort geregelten Abweichung (hier: die Nichtdurchführung eines Vergabeverfahrens nach der Richtlinie 2014/24) erforderlich ist, um wesentliche Sicherheitsinteressen zu wahren. Dies ist vorliegend der Fall.
108aa. Die Beschaffung des digitalen Führungsfunksystems berührt wesentliche Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland.
109Die Vorschrift des Art. 346 Abs. 1 lit. b AEUV gewährt den Mitgliedstaaten einen weiten Ermessensspielraum bei der Entscheidung über die Maßnahme, die sie für den Schutz ihrer wesentlichen Sicherheitsinteressen für erforderlich halten (EuGH, Urteil vom 20. März 2018, C-187/16 – juris, Rn. 78; EuG, Urteil vom 30. September 2003, T-26/01, Rn. 58: besonders weites Ermessen). Sie dient jedoch nicht als Ermächtigung, durch bloße Berufung auf diese Interessen von den Bestimmungen des AEUV abzuweichen. Der öffentliche Auftraggeber, der sich auf diese Ausnahme beruft, muss vielmehr im Einzelfall nachweisen, dass der Verzicht auf ein Vergabeverfahren zur Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich ist, insbesondere eine Ausschreibung dem Erfordernis des Schutzes solcher Interessen nicht hätte gerecht werden können (EuGH, Urteile vom 20. März 2018, C-187/16 – juris, Rn. 78; vom 7. Juni 2012, C-615/10, Rn. 35, und vom 8. April 2008, C-337/05, Rn. 44; Senatsbeschluss vom 1. Oktober 2020, VII-Verg 32/20). Grundsätzlich ist es Sache der EU-Mitgliedstaaten, ihre wesentlichen Sicherheitsinteressen festzulegen (EuGH, Urteil vom 20. März 2018, C-187/16 – juris, Rn. 75). Ihnen kommt dabei eine weite Einschätzungsprärogative zu (Kokott in Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 346 Rn. 4). Dies drückt sich im Wortlaut des Art. 346 Abs. 1 lit. b AEUV aus, wonach jeder Mitgliedstaat die Maßnahmen ergreifen kann, die „seines Erachtens“ für die Wahrung seiner Sicherheitsinteressen erforderlich sind. Für die Festlegung wesentlicher Sicherheitsinteressen genügt deshalb die begründete Annahme einer Gefahr der äußeren oder inneren Sicherheit (Wegener in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 346 Rn. 4; Jaeckel in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 71. EL 2020, Art. 346 Rn. 14). Die Mitgliedstaaten sind in ihrer Entscheidung, einen bestimmten Beschaffungsauftrag von den Regeln des Binnenmarktes auszunehmen, jedoch nicht uneingeschränkt frei. Vielmehr muss der Mitgliedstaat, der sich auf die Ausnahme des Art. 346 AEUV berufen will, nachweisen, welche Sicherheitsinteressen betroffen sind und welcher Zusammenhang zwischen diesem Sicherheitsinteresse und der konkreten Beschaffung besteht. Eine pauschale oder floskelhafte Bezugnahme auf ein nicht näher spezifiziertes Sicherheitsinteresse reicht für den Nachweis nicht aus. Die Bewahrung wehrtechnischer Kernfähigkeit im Inland kann grundsätzlich ein von Art. 346 Abs. 1 lit. b AEUV gedecktes Sicherheitsinteresse darstellen. Auf der anderen Seite erfahren rein wirtschaftspolitisch motivierte Maßnahmen ohne Rückwirkungen auf die Verteidigungsfähigkeit der eigenen oder der verbündeten Streitkräfte keine Rechtfertigung (Kokott, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 346 Rn. 4; Jaeckel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 71. EL 2020, Art. 346 Rn. 15). Deshalb ist von Art. 346 AEUV unter pauschalem Verweis auf Sicherheitsinteressen nicht der Erhalt ganzer Industriezweige gedeckt. Anerkennenswert ist allein das Interesse an dem Erhalt von sicherheitsrelevanten industriellen Kernkapazität (Dreher, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl. 2021, § 107 Rn. 58; Renner/Rubach/Larsen/Sterner, NZBau 2007, 407; André, EuZW 2012, 631, 634 f.), wobei auch dann im Einzelfall der Zusammenhang zu dem konkreten Beschaffungsvorhaben dargelegt werden muss. Das betroffene Sicherheitsinteresse muss schließlich wesentlich sein. Diese Präzisierung im Wortlaut des Art. 346 AEUV unterstreicht den Ausnahmecharakter der Bestimmung und stellt klar, dass die besondere militärische Natur der auf der Warenliste enthaltenen Gegenstände allein nicht ausreicht, um den Verzicht auf die Anwendung europäischer Vergaberegeln zu rechtfertigen. Das Merkmal „wesentlich“ beschränkt vielmehr mögliche Ausnahmen auf Beschaffungen, die von höchster Wichtigkeit für die militärischen Fähigkeiten sind (KOM(2006) 779 endg., S. 8), insbesondere auf Verträge, die äußerst hohe Anforderungen an die Versorgungssicherheit stellen oder von besonders hoher Vertraulichkeit und Wichtigkeit für die nationale Souveränität sind (Erwägungsgrund 16 der der Richtlinie 2009/81/EG).
110Unter Anwendung dieser Grundsätze hat die Antragsgegnerin nachvollziehbar dargetan, dass die Beschaffung des Führungsfunksystems für die Bundeswehr wesentliche Sicherheitsinteressen berührt. Die Antragsgegnerin hat ein fundamentales Interesse daran, die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr sicherzustellen und zu optimieren, um Gefahren für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und/oder eines NATO-Bündnispartners abwehren zu können. Wie bereits ausgeführt hat ein verschlüsselungsfähiges und abhörsicheres Führungsfunksystem bedeutenden Einfluss auf die militärische Einsatz- und Kriegsfähigkeit der Bundeswehr zur Bündnis- und Landesverteidigung. Kommunikation ist ein wesentlicher Teil eines militärischen Einsatzes. Die Systemfunkgeräte garantieren als militärisches Kommunikationsmittel eine durchgängige Führung und Befehlsführung im Einsatz. Damit sind sie ein zentrales Element für alle Operationen auf dem Gefechtsfeld auch und gerade unter direkter Feindeinwirkung und technisch bedingten Ausfällen.
111bb. Der Mitgliedstaat, der sich auf die Ausnahmebestimmung des Art. 346 AEUV beruft, muss nachweisen, dass eine Inanspruchnahme der dort geregelten Abweichung, also der Verzicht auf die Anwendung europäischer Vergaberegeln erforderlich ist, um seine wesentlichen Sicherheitsinteressen zu wahren (EuGH, Urteil v. 7. Juni 2012, C-615/10 Rn. 45). Er muss nachweisen, dass eine Ausschreibung, wie sie in der Richtlinie vorgesehen ist, dem Erfordernis des Schutzes seiner Interessen nicht hätte gerecht werden können (EuGH, Urteil v. 7. September 2023, C-601/21, Rn. 82; EuGH, Urteil v. 20. März 2018, C-187/16, Rn. 78 u. 79), also das gleiche Ziel nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen für den freien Warenverkehr und die Dienstleistungsfreiheit (vgl. Erwägungsgrund 17 der Richtlinie 2009/81/EG) gewährleistet werden können (EuGH, Urteil v. 7. September 2023, C-601/21, Rn. 75). Ein solches Verständnis des Erforderlichkeitsmaßstabs deckt sich mit der Definition der Erforderlichkeit als Bestandteil des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nach nationalem Recht. Der Begriff der Erforderlichkeit beschreibt das Verhältnis eines eingesetzten Mittels zu einem erstrebten Zweck. Das gewählte Mittel ist erforderlich, wenn es keine mildere Maßnahme gibt, die denselben Erfolg mit gleicher Sicherheit erzielt (F. Wollenschläger, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Kommentar zum Gundgesetz, 220. Lieferung, 7/2023 Rn. 321).
112Die Antragsgegnerin macht geltend, zur Wahrung ihrer wesentlichen Sicherheitsinteressen sei bei der Beschaffung ein hohes Maß an Vertraulichkeit erforderlich, weshalb der Kreis der potentiellen Lieferanten für die digitalen Funkgeräte auf ein Unternehmen zu beschränken sei. Die Einführung und Implementierung eines verschlüsselungsfähigen und abhörsicheren Führungsfunksystems erfordere die Preisgabe militärisch hochsensibler Informationen auch in Bezug auf die zu verwendende Verschlüsselungstechnologie (Schriftsatz vom 18.08.2023, dort Seite 23). Es müssten Einzelheiten zur Funktechnik, zum vorhandenen Gerätestand, zu Fähigkeitslücken und zu aktuellen und künftigen militärtaktischen Vorgehensweisen der nationalen Streitkräfte und der NATO-Verbündeten offenbart werden. Sowohl der Beschaffungsgegenstand als auch die Auftragsdurchführung selbst erfordere daher ein hohes Maß an Vertraulichkeit. Ein Durchsickern dieser Informationen würde zu irreparablen Schäden für die Verteidigungssicherheit führen, denn sie ließen nicht nur Rückschlüsse auf die Kampf- und Verteidigungsfähigkeit der Streitkräfte zu, sondern Kenntnisse über die eingesetzte Verschlüsselungstechnologie ermöglichten es dem Gegner, Schwachstellen zu erkennen und Maßnahmen zu entwickeln, um die Übertragung zu entschlüsseln. Dies gelte erst Recht nach dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Diese kriegerischen Handlungen in unmittelbarer Nachbarschaft zum NATO-Bündnisgebiet bedeuteten eine ernsthafte Gefährdung der nationalen und europäischen Sicherheitsordnung, weshalb der NATO-Atlantikrat die Umsetzung der Crises Response Measures (CRM) beschlossen habe. Aus Gründen der militärischen Geheimhaltung sei es daher unumgänglich, den Kreis derjenigen, denen die für die Angebotserstellung notwendigen hochsensiblen Daten zur Verfügung gestellt werden müssten, auf ein Unternehmen zu beschränken, um das Risiko einer unbefugten Multiplikation oder Verbreitung der Erkenntnisse so klein wie möglich zu machen. Ein wettbewerbliches Verfahren nach der VSVgV biete keinen hinreichenden Schutz. Das in § 11 VSVgV vorgesehene Regelverfahren – nicht offenes Verfahren oder Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb – sehe die Beteiligung mehrere Bieter und Bewerber vor. Der in § 6 Abs. 3 VSVgV und § 7 VSVgV geregelte Schutz der Vertraulichkeit sei bei der aktuellen Krisensituation und der Sensibilität der Informationen für die Verteidigungsfähigkeit nicht ausreichend, wie die Antragsgegnerin in ihrem Schriftsatz vom 18.10.2023 (dort S. 8) und auch in ihren Schriftsätzen in dem Verfahren vor der Vergabekammer vom 18.01.2023 (dort S. 34-38) und vom 27.03.2023 (dort S. 42-48) nachvollziehbar und überzeugend ausgeführt hat.
113Mit diesem Vorbringen hat die Antragsgegnerin nachgewiesen, dass die Nichtanwendbarkeit der Vorschriften über eine Vergabe nach dem 4. Teil des GWB erforderlich war, um ihre wesentlichen Sicherheitsinteresse zu wahren.
114(1) Ohne Erfolg macht die Antragstellerin in diesem Zusammenhang geltend, eine Preisgabe und Gefährdung wesentlicher Sicherheitsinteressen durch ein wettbewerbliches Verfahren nach der VSVgV sei ausgeschlossen, weil wesentliche Informationen zur geforderten Beschaffenheit und Funktion der Digitalfunkgeräte bereits mit der EU-Bekanntmachung vom 6. September 2021 (Az.: ...) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden seien. Dieses Vorbringen entspricht nicht den Tatsachen. Die Antragstellerin trägt nicht vor, welche sensiblen und vertraulich zu behandelnden Informationen dies gewesen sein sollen, zumal die Auftragsbekanntmachung keine Angaben zur Verschlüsselungstechnologie, zum vorhandenen Gerätebestand der Bundeswehr und zu aktuellem und zukünftigem militärischem Vorgehen enthält. Überdies ist das Verfahren in der Phase der Auswertung der Teilnahmeanträge aufgehoben worden. Dies bedeutet, dass den Bewerbern die Vergabeunterlagen, die ggfls. weitere vertraulich zu behandelnde Informationen enthalten haben, noch nicht zur Verfügung gestellt worden waren. Die Antragstellerin selbst macht zuletzt in ihrem Schriftsatz vom 27. Oktober 2023 geltend, ihr seien die Vergabeunterlagen bisher nicht vorgelegt worden.
115(2) Auch die Tatsache, dass die Antragsgegnerin noch im Jahr 2021 die Beschaffung digitaler Funkgeräte in einem Verfahren nach der VSVgV unter Beteiligung mehrerer Bewerber und Bieter zum Schutz ihrer Sicherheitsinteressen für ausreichend gehalten hat, lässt die Erforderlichkeit nicht entfallen. Die im Jahr 2021 in die Wege geleitete Beschaffung fand in Friedenszeiten und damit in einer völlig anderen Situation statt, die eine langfristige Beschaffung in einem Zeitraum von 15 Jahren und eine sukzessive Einrüstung in alle relevanten Waffensysteme/Plattformen bis Mitte 2035 vorsah. Es bestand keine akute Bedrohungslage für die Bundesrepublik Deutschland und die NATO-Verbündeten, so dass den Geheimhaltungsinteressen durch das Verfahren nach der VSVgV und den Regelungen in § 6 und 7 VSVgV ausreichend Rechnung getragen werden konnte. Nach dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 haben sich die Anforderungen an die Beschaffung und an die Maßnahmen zur Wahrung wesentlicher Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland jedoch geänderte. Durch kriegerische Handlungen in unmittelbarer Nachbarschaft zum NATO-Bündnisgebiet war eine ernsthafte Gefährdung der nationalen und europäischen Sicherheitsordnung im Sinne einer „Zeitenwende“ eingetreten. Aufgrund dieser Bedrohungslage waren daher zu Recht zusätzliche Forderungen an das digitale Funkgerät selbst aber auch an die Sicherheitsanforderungen zu stellen, um das Risiko ungewollter und unbefugter Kenntnisnahme von militärisch sensiblen Informationen so gering wie möglich zu halten.
116(3) Nicht zu beanstanden ist, dass die Antragsgegnerin ein Verfahren nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. c VSVgV – Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb mit nur einem Bieter – nicht in Erwägung gezogen hat. Anders als die Vergabekammer meint, war die Antragsgegnerin im Rahmen der gebotenen Erforderlichkeitsprüfung nicht gehalten zu überprüfen, ob die Voraussetzungen des genannten Ausnahmetatbestands vorliegen und eine Direktvergabe an die Beigeladene hierauf gestützt möglich ist. Ein Vergabeverfahren nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. c VSVgV im Geltungsbereich des 4. Teils des GWB ist nicht das mildere Mittel im Vergleich zu einer Vergabe außerhalb des Anwendungsbereichs des GWB. Eine Direktvergabe nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. c VSVgV ist für den freien Warenverkehr und die Dienstleistungsfreiheit und damit für den Wettbewerb nicht die weniger einschneidende Maßnahme. In beiden Fällen findet kein Wettbewerb um den Auftrag statt, da jeweils nur mit einem Bieter verhandelt wird. Soweit die Vergabekammer in diesem Zusammenhang entscheidend auf die Rechtschutzmöglichkeiten abgestellte hat (Beschluss VK, Gründe Seite 33, 2. Absatz), ist schon zu bezweifeln, ob die Rechtschutzmöglichkeiten nicht berücksichtigter Interessenten im Rahmen der Erforderlichkeit überhaupt zu prüfen sind. Erforderlichkeit bedeutet, so der Erwägungsgrund 17 der Richtlinie 2009/81/EG, dass eine Nichtanwendung der Richtlinie (1) sowohl den verfolgten Zielen angemessen ist (2) als auch die Option darstellen muss, die den freien Warenverkehr und die Dienstleistungsfreiheit am wenigsten behindert. Auch im Erwägungsgrund 27 der Richtlinie 2009/81/EG finden sich keinerlei Anhaltspunkte, die dafür sprechen könnten, dass den Rechtsschutzmöglichkeiten der Bieter ein relevantes Gewicht beigemessen wird. So heißt es dort, dass im Bereich der Verteidigung und Sicherheit einige Aufträge so sensibel sind, dass eine Anwendung dieser Richtlinie trotz ihrer Spezialität unangebracht wäre, so insbesondere für besonders sensible Beschaffungen, die ein äußerst hohes Maß an Vertraulichkeit fordern. Dass im Falle einer nach der Richtlinie zulässigen Direktvergabe, dieser aus Rechtsschutzerwägungen den Vorzug zu geben wäre, folgt daraus nicht ansatzweise. Dessen ungeachtet wäre ein Verfahren nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. c VSVgV aber auch nicht das mildere Mittel in Bezug auf die Rechtsschutzmöglichkeiten der Bieter, die den Auftrag nicht erhalten haben. Wie das vorliegende Verfahren zeigt, findet eine gerichtliche Nachprüfung auch dann statt, wenn sich der öffentliche Auftraggeber auf die Bereichsausnahme des § 107 Abs. 2 Nr. 2 GWB beruft.
117(4) Soweit der Verfahrensbevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat geltend gemacht hat, die Annahme der Bereichsausnahme nach § 107 Abs. 2 Nr. 2 GWB beruhe auf sachfremden industriepolitischen Erwägungen der Antragsgegnerin, da es ihr allein darum gegangen sei, mit der Beigeladenen einen nationalen Champion zu schaffen, ist dieser Vorwurf nach den oben genannten Ausführungen haltlos und entbehrt jeder Grundlage. Dies gilt auch, soweit die Antragstellerin ihre Annahme durch die lange Laufzeit des geschlossenen Vertrags und die Anzahl der zu liefernden Funkgeräte bestätigt sieht.
118III.
1191. Da sie sofortige Beschwerde der Antragstellerin unzulässig ist, hat sie keinen Anspruch auf weitergehende Akteneinsicht. Das Akteneinsichtsrecht besteht nur in dem Umfang, wie es zur Durchsetzung der subjektiven Rechte des Antragstellers erforderlich ist (Senat, Beschl. v. 19.02.2020 – VII-Verg 26/17, juris Rn 79). Im Falle der Unzulässigkeit der sofortigen Beschwerde reicht es mithin nur soweit, wie es zur Beurteilung der Zulässigkeit der Beschwerde erforderlich ist. Einer Akteneinsicht bedurfte es hierfür vorliegend nicht.
1202. Aber selbst wenn die sofortige Beschwerde zulässig gewesen wäre, hätte die Antragstellerin nach § 175 Abs. 2 i.V.m. § 165 Abs. 1, § 72 Abs. 2 S. 4 bis 6 GWB einen über die ihr bereits gewährte Akteneinsicht hinausgehenden Akteneinsichtsanspruch nicht gehabt.
121Der Antragstellerin ist durch die Vergabekammer und ergänzend durch den Senat Akteneinsicht gewährt worden. Hierbei handelt es sich mit Ausnahme der als GEHEIM eingestuften Anlage 1 zum Dokument „Entscheidung über die Vergabeart“ um die Teile der Vergabeakte, die die Entscheidung über die Vergabeart betrafen (teilgeschwärzte Weisung des Bundesministeriums der Verteidigung vom 18.03.2022 betreffend „Führungsfähigkeit Division 2027; Ausstattung D-LBO basic“, teilgeschwärzte „Bedarfsträgerforderungen D-LBO“ vom 03.06.2022, teilgeschwärzter „Laufenden Vermerk über das Vergabeverfahren zur Beschaffung von Führungsfunkgeräten im Programm D-LBO“ mit Datum vom 14.12.2022, in den lediglich um die Namen der Bearbeiter, deren Unterschriftenkürzel und den geschätzten Auftragswert teilgeschwärzten Vermerk „Entscheidung über die Vergabeart“ vom 10.08.2022 sowie in Seiten 1 und 6 der Leistungsbeschreibung zur Lieferung von Führungsfunkgeräten für das taktische Umfeld (Anlage 2 zum 5. Änderungsvertrag und Neufassung) und in die teilgeschwärzten Seiten 1-2 und 5-6 des Vertragsentwurfs des zwischen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen geschlossenen „5. Änderungsvertrag(s) und Neufassung).
122Die Voraussetzungen für eine darüber hinausgehende Akteneinsicht hätten nicht vorgelegen.
123a. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. u.a. Beschl. v. 09.01.2020 – VII-Verg 10/18, juris, Rn 23 = VergabeR 2020, 541 ff.) hat der Anspruch auf Akteneinsicht im Vergabenachprüfungsverfahren eine rein dienende, zum zulässigen Verfahrensgegenstand akzessorische Funktion (ebenso OLG Naumburg, Beschl. v. 01.06.2011 – 2 Verg 3/11, juris Rn 4). Die Beschleunigungsbedürftigkeit von Vergabenachprüfungsverfahren steht einem gänzlich voraussetzungslosen Akteneinsichtsanspruch aus § 165 Abs. 1 GWB entgegen (Senat, Beschl. v. 25.09.2017 – VII-Verg 19/17, juris Rn 9). Ein Anspruch auf Akteneinsicht setzt vielmehr über den Wortlaut von § 165 Abs. 1 GWB hinaus einen das Akteneinsichtsgesuch begründenden beachtlichen und entscheidungserheblichen Sachvortrag voraus. Das Akteneinsichtsrecht besteht nur in dem Umfang, wie es zur Durchsetzung der subjektiven Rechte des Antragstellers erforderlich ist (Senat, Beschl. v. 19.02.2020 – VII-Verg 26/17, juris Rn 79). Im Fall eines unzulässigen Nachprüfungsantrags reicht es daher nur so weit, wie die Vergabeakten zur Beantwortung der Zulässigkeitsfrage eingesehen werden müssen (vgl. BayObLG, Beschl. v. 19.12.2000 – Verg 7/00, BeckRS 2001, 1659; Dicks, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl., § 165 GWB Rn. 4; Byok, in: Byok/Jaeger, Vergaberecht, 4. Aufl., § 165 GWB Rn. 6). Entsprechend reicht das Akteneinsichtsrecht im vorliegenden Vergabeverfahren, bei dem es um die Anwendbarkeit des vierten Teils des GWB (§§ 97 ff. GWB) beziehungsweise um das Vorliegend der Voraussetzungen einer Direktvergabe geht, nur so weit, wie dies zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung über die getroffene Vergabeart erforderlich ist.
124b. Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze hätte die Antragstellerin keinen weitergehenden Anspruch auf Einsicht in die Vergabeakte und den zwischen der Beigeladenen und der Antragsgegnerin geschlossenen Vertrag gehabt. Sie hat weder durch begründeten beachtlichen und entscheidungserheblichen Sachvortrag dargelegt, inwieweit die begehrten Informationen zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Direktvergabe an die Beigeladenen erforderlich sind und damit zur Durchsetzung ihrer subjektiven Rechte benötigt werden, noch ist dies erkennbar. Das gilt auch für die mit Schriftsatz vom 16.02.2023 (vgl. Rn 1780 ff.) vom 14.03.2023 oder vom 20.10.2023 begehrten weiteren Informationen aus der Vergabeakte. Die begehrten Informationen wären entweder für die Begründung des geltend gemachten Vergaberechtsverstoßes ohne Relevanz gewesen oder es hätte aus Gründen des Geheimschutzes keine Einsicht gewährt werden können.
125c. Der Einsicht in die Anlage I zur Entscheidung über die Vergabeart (Anlage „Projekt Beschaffung Führungsfunkübertragungssystem“) hätten wichtige Gründe des Geheimschutzes nach §§ 175 Abs. 2, 165 Abs. 2 GWB entgegengestanden. Bei der gebotenen Interessenabwägung hätte das Interesse der Antragsgegnerin an der Geheimhaltung der Informationen in der Anlage I zur „Entscheidung über die Vergabeart“ (Anlage „Projekt Beschaffung Führungsfunkübertragungssystem“) den Interessen der Antragstellerin an einer Offenlegung überwogen. Die Beschaffung des streitgegenständlichen verschlüsselungsfähigen und abhörsicheren Führungsfunksystems berührt – wie bereits ausgeführt – unmittelbar wesentliche Sicherheitsinteressen der Antragstellerin. Dabei enthält die Anlage 1 zur „Entscheidung über die Vergabeart“ (Anlage „Projekt Beschaffung Führungsfunkübertragungssystem“) hochsensible Informationen zu der zu verwendenden Schlüsseltechnologie und der Funktionsweise des Führungsfunksystems.
126Das somit zur Wahrung der äußeren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschlands – im Zusammenhang mit der Erhöhung und Sicherstellung der Einsatzbereitschaft der Bundesrepublik im Rahmen der Wahrnehmung ihrer konkreten NATO-Verpflichtung an der Ostflanke – erforderliche Geheimhaltungsinteresse hätte damit auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Antragstellerin sicherheitsgeprüft ist und über einen Sicherheitsbescheid verfügt, den Interessen der Antragstellerin an einer weiteren Akteneinsicht überwogen. Die Interessen der Antragstellerin waren dadurch hinreichend gewahrt, dass der Vergabevermerk vom 10.08.2022 die „Entscheidung über die Vergabeart“ die der Entscheidung über die Direktvergabe zugrundeliegenden und in der Anlage 1 enthaltenen Erwägungen zusammenfassend wiedergibt. Zudem hat die Antragsgegnerin die entscheidenden, der Vergabeentscheidung zugrundeliegenden und in der Anlage 1 enthaltenen Erwägungen, soweit sie nicht geheimhaltungsbedürftig sind, im Rahmen ihrer Schriftsätze näher dargelegt, wobei sie diese – wovon sich der Senat überzeugt hat – zutreffend wiedergegeben hat.
127d. Ein Akteneinsichtsrecht in Bezug auf die Vergabeunterlagen aus dem ursprünglichen mit Bekanntmachung vom 06.09.2021 veröffentlichten – zwischenzeitlich aufgehobenen – Vergabeverfahren hätte allein schon deshalb nicht bestanden, weil die Rechtmäßigkeit der Aufhebungsentscheidung und damit das aufgehobene Vergabeverfahren nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens gewesen sind.
128e. Die Antragstellerin hätte mit Erfolg auch keine Einsicht in die geschwärzten Teile der Schriftsätze der Antragsgegnerin und der Beigeladenen im Verfahren vor der Vergabekammer und im Beschwerdeverfahren beanspruchen können. Die Schwärzungen betrafen jeweils Informationen aus der Anlage I zur „Entscheidung über die Vergabeart“, wovon sich der Senat durch Einsichtnahme in das Dokument überzeugt hat. Sind die dort enthaltenen Informationen, so wie unter c. ausgeführt, jedoch geheim zu halten, gilt dies auch, soweit diese Informationen in Schriftsätzen der Antragsgegnerin wiedergegeben werden.
129f. Soweit die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 20.10.2023 Akteneinsicht in weitergehende in der Presseberichterstattung genannte Dokumente begehrt hat, ist ihr die Einsicht zum Teil von der Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 09.10.2023 gewährt worden, zum Teil waren die Dokumente öffentlich zugänglich und zum Teil sind sie von der Antragstellerin selbst vorgelegt worden.
130IV.
131Die Kostenentscheidung beruht auf § 175 Abs. 2 i.V.m. § 71 S. 2 GWB. Demnach trägt die Antragstellerin die Kosten ihres unzulässigen Rechtsmittels.
132Hierzu zählen auch die notwendigen Rechtsverfolgungskosten der Antragsgegnerin und der Beigeladenen, die sich aktiv an dem Nachprüfungsverfahren und dem Beschwerdeverfahren durch Einlassung zur Sache und mit Sach- oder Verfahrensanträgen beteiligt hat (vgl. OLG Celle, Beschl. v. 27.08.2008 – 13 Verg 2/08; Frister, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl., § 175 GWB Rn 26).
133Der Beschwerdewert wird auf [Passus entfernt] festgesetzt. Die Entscheidung über die Festsetzung des Werts für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 50 Abs. 2 GKG. Demnach beträgt der Gegenstandswert fünf Prozent des Bruttoauftragswerts des Angebots der Antragstellerin (Senat, Beschl. v. 10.02.2021, VII-Verg 22/20, BeckRS 2021, 8801 Rn. 56). Die Antragsgegnerin hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass auch der tatsächliche Wert des Angebots der Größenordnung der Auftragswertschätzung in Ziff. 2 „Entscheidung über die Vergabeart“ entspricht, so dass fünf Prozent des Auftragswerts den Höchstbetrag von [Passus entfernt] des nach § 39 Abs. 2 GKG gerichtlich festzusetzenden Streitwerts übersteigen und damit der Höchstwert festzusetzen ist.