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§ 6a, 20 Abs. 1, 36, 38, 102, 106 Abs. 1 EnWG; GPKE; 677, 683 S. 1, 670, 812 BGB
Die Rechtsgrundsätze zum konkludenten Abschluss eines Versorgungsvertrags können in höheren Spannungsebenen in der Regel schon deshalb nicht zur Anwendung kommen, weil eine (vertragslose) Zuordnung der Marktlokation zu einem Versorger, mit dem der Letztverbraucher noch keinen Stromversorgungsvertrag geschlossen hat, ausscheiden muss. Einem konkludenten Vertragsschluss durch Annahme einer Realofferte steht maßgeblich entgegen, dass der entnommene Strom dem Lieferanten, der eine Ersatzbelieferung für sich in Anspruch nehmen will, – vor Abschluss eines entsprechenden Vertrages – weder bilanziell zugeordnet werden darf noch zivilrechtlich zuzurechnen ist, so dass es daher regelmäßig schon objektiv an einer Realofferte fehlt.
§ 38 EnWG ist in den Fällen, in denen Letztverbraucher Strom über das Mittelspannungsnetz beziehen, weder direkt noch entsprechend anwendbar.
Durch die Einbeziehung eines bloß informatorischen Preisblatts in einen Anschlussnutzungsvertrag, in dem auf eine Ersatzbelieferung durch den Grund- und Ersatzversorger verwiesen wird, kommt weder ein Vertrag zwischen dem Letztverbraucher und dem Grund- und Ersatzversorger zustande, noch ist darin ein Angebot des Letztverbrauchers an den zuständigen Grund- und Ersatzversorger auf Abschluss eines Ersatzbelieferungsvertrages zu sehen, das vom Netzbetreiber mit der Meldung der Marktlokation an den Grund- und Ersatzversorger übermittelt wird.
Eine lediglich in Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Netzbetreibers vorbehaltene Ermächtigung, die Entnahmestelle eines Letztverbrauchers im Falle des Auftretens einer Versorgungslücke an den zuständigen Grund- und Ersatzversorger zu melden und sie dessen Bilanzkreis zuzuordnen, ist diskriminierend und verstößt gegen § 20 Abs. 1 S. 1 EnWG, da Grund- und Ersatzversorgern außerhalb des Anwendungsbereichs der Grund- und Ersatzversorgung keine besseren Rechte zukommen, als ihren Wettbewerbern.
Hat der Grund- und Ersatzversorger aufgrund einer unberechtigten Zuordnung der Marktlokation des Letztverbrauchers zu seinem Bilanzkreis die dort entnommenen Strommengen beschafft und zur Verfügung gestellt, kann er vom Letztverbraucher, der mit einem (anderen) Versorger einen Belieferungsvertrag geschlossen hat, nicht Aufwendungsersatz wegen einer (berechtigten) Geschäftsführung ohne Auftrag beanspruchen, weil er kein Geschäft des Letztverbrauchers geführt hat.
Die Berufung der Beklagten gegen das am 28.01.2022 verkündete Urteil der 1. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Essen wird zurückgewiesen.
Auf die Anschlussberufung der Klägerin wird das vorgenannte Urteil teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 85.872,72 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.03.2019 und weitere 1.863,40 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 13.04.2019 zu zahlen.
Wegen des weitergehenden Zinsanspruchs bleibt die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits und der Nebenintervention hat die Beklagte zu tragen.
Dieses Urteil und das angefochtene Urteil, soweit die Berufung der Beklagten zurückgewiesen wurde, sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung der Klägerin sowie die Vollstreckung der Streithelferin wegen ihrer Kosten durch Sicherheitsleistung jeweils in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin bzw. die Streithelferin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
Die Revision wird zugelassen.
G r ü n d e :
2I.
3Die Parteien streiten um die Rückzahlung von Entgelten, die die Klägerin an die Rechtsvorgängerin der Beklagten für die Belieferung ihrer Entnahmestelle mit Strom in der Zeit vom 01.01.2019 bis einschließlich zum 27.01.2019 gezahlt hat.
4Die Klägerin, eine Produzentin von Kunststoffprodukten, bezieht im Rahmen ihrer unternehmerischen Tätigkeit Strom im Mittelspannungsnetz; die Beklagte, die im Wege der Ausgliederung im August 2020 Teile des Vermögens („Retail Germany“) von der J mit Sitz in G01 (…) übernommen hat, und die Streithelferin der Klägerin sind Energieversorgungsunternehmen. Die Klägerin hatte mit der damaligen U GmbH (nachfolgend: U), einer Tochtergesellschaft von J, als der für ihre Entnahmestelle zuständigen Netzbetreiberin einen Anschlussnutzungsvertrag (Anl. B 3) geschlossen. Diesem sind Preisblätter der U beigefügt, die gem. § 3 Vertragsbestandteil sind, u.a. das Preisblatt 15, in dem es heißt:
5Die Klägerin unterhielt einen Stromlieferungsvertrag mit der Streithelferin, der mit Ablauf des 31.12.2018 endete. Sie hatte zum 01.01.2019 einen Stromlieferungsvertrag mit der T GmbH (T) geschlossen, die jedoch zum Ende des Jahres 2018 in Insolvenz geriet. Die Übertragungsnetzbetreiber kündigten mit Wirkung zum 22.12.2018 die bestehenden Bilanzkreisverträge mit der T. Die Klägerin schloss noch am 22.12.2018 erneut einen Vertrag mit der Streithelferin über die Belieferung mit Strom im Zeitraum 01.01. bis 31.03.2019 (Anl. K 1). Unstreitig erfolgte jedenfalls vor dem 01.01.2019 keine Anmeldung der Entnahmestelle der Klägerin zur Belieferung durch die Streithelferin bei U.
7U ordnete bereits am 22.12.2018 die Entnahmestelle der Klägerin zum 01.01.2019 dem Bilanzkreis von J zu, die für das Gebiet, in dem sich die Entnahmestelle der Klägerin befindet, die zuständige Grund- und Ersatzversorgerin war, und meldete dieser, dass eine Ersatzversorgung der Entnahmestelle der Klägerin zum 01.01.2019 erforderlich werde. Mit Schreiben vom 27.12.2018 (Anl. B 1) unterrichtete U unter der Überschrift „Überführung in die Ersatzversorgung“ auch die Klägerin über den Ausfall der T und teilte u.a. mit, dass sie „gemäß den gesetzlichen Regelungen […] den für Sie zuständigen Grundversorger mit der Übernahme der Ersatzversorgung zum 01.01.2019 beauftragt“ habe, der der Klägerin seine Leistungen in Rechnung stellen werde. Mit Schreiben vom 04.01.2019 (Anl. K 2) meldete sich J bei der Klägerin und teilte unter Bezugnahme auf Pressemitteilungen, wonach deren bisheriger Energielieferant T nicht mehr für sie als Energielieferant zu Verfügung stehe, mit, dass nach Mitteilung des örtlich zuständigen Netzbetreibers „die Stromversorgung Ihrer o.g. Lieferstelle ab dem 01.01.2019 nicht mehr durch einen Lieferanten sichergestellt“ werde. Weiter heißt es in dem Schreiben:
8„Sie müssen sich aber keine Sorgen machen. Wir, die J, als ihr örtlicher Grund- und Ersatzversorger, stellen Ihre Energieversorgung sicher, so dass es für Sie zu keinen Unannehmlichkeiten kommen wird.
9Um für Sie auch zukünftig ein zuverlässiger Partner zu sein würden wir gerne mit ihnen ein Gespräch über ihre weitere Energieversorgung führen.
10Bis dahin sorgen wir dafür, dass Ihre Stromversorgung dennoch gewährleistet ist. Wir bieten Ihnen die Belieferung mit Strom zu den als Anlage beigefügten Preisen an. Die in der beigefügten Stromgrundversorgungsverordnung (StromGVV) enthaltenen Regelungen (sowie die Ergänzenden Vertragsbedingungen) sind als Allgemeine Geschäftsbedingungen ebenfalls Bestandteil unseres Vertragsangebotes.
11Den zu vorgenannten Konditionen zu Stande gekommenen Stromliefervertrag können beide Parteien jederzeit mit einer Frist von zwei Wochen schriftlich kündigen. Falls Sie zu einem anderen Lieferanten wechseln möchten, muss dieser die Belieferung zudem bei Ihrem örtlichen Netzbetreiber ordnungsgemäß und fristgerecht anmelden. Dieser Vertrag endet automatisch, ohne dass es einer Kündigung bedarf, spätestens am 31.03.2019. […]
12Gerne unterbreiten wir Ihnen alternativ ein Angebot mit Konditionen für eine längerfristige Stromlieferung.“
13Dem Schreiben von J waren als Anlage u.a. deren „Preisregelung EoG (Stand Dezember 2018)“ sowie ein Abdruck der StromGVV beigefügt. Sowohl das Schreiben von U als auch das von J ist der Klägerin am 07.01.2019 zugegangen. Anschließend fanden Telefonate zwischen der Klägerin und J statt, deren Inhalt streitig ist. Am 11.01.2019 kündigte die Streithelferin vorsorglich einen Vertrag über die Ersatzbelieferung der Klägerin durch J zum 27.01.2019. Unter dem 28.01.2019 erteilte J eine Schlussrechnung über den streitgegenständlichen Betrag von 85.872,72 € für Stromlieferungen an die Klägerin für den Zeitraum 01.01.2019 bis 27.01.2019 (Anl. K 3). Die Klägerin beglich die Rechnung am 11.02.2019; mit Schreiben vom 14.02.2019, 02.04.2019 und 30.04.2019 forderte sie von J ohne Erfolg Rückzahlung des Betrages.
14Mit der ursprünglich gegen J erhobenen Klage hat die Klägerin Zahlung von 85.872,72 € sowie Ersatz vorgerichtlicher Anwaltskosten – jeweils nebst Zinsen i.H.v. 9 Prozentpunkten über dem Basiszinnsatz – verlangt. Sie hat geltend gemacht, die Bezahlung der Rechnung von J sei nur aufgrund eines internen Versehens erfolgt, da eine Mitarbeiterin der Buchhaltung davon ausgegangen sei, dass es sich bei dieser um die neue Stromlieferantin handele. Dies habe der Geschäftsführer bei Freigabe der Sammelüberweisung nicht bemerkt. Ein Vertrag mit J sei weder konkludent noch ausdrücklich zustande gekommen. Sie – die Klägerin – sei davon ausgegangen, nach dem Ausfall der T von der Streithelferin auch ab dem 01.01.2019 mit Strom beliefert zu werden, was diese telefonisch bestätigt habe. Im Hinblick darauf habe sie einen Vertragsschluss mit J in einem Telefonat vom 09.01.2019 ausdrücklich abgelehnt.
15Die Beklagte hat geltend gemacht, die Zuordnung der Marktlokation der Klägerin zum Bilanzkreis von J sei zu Recht erfolgt, weil nach dem Anschlussnutzungsvertrag der Klägerin mit U eine – nach Ausfall der T drohende – fehlende Zuordnung der Marktlokation zu einem Bilanzkreis kein Grund für eine Unterbrechung der Stromversorgung darstelle, der Vertrag – wie sich aus dem einbezogenen Preisblatt 15 ergebe - für diesen Fall vielmehr eine Ersatzbelieferung durch den zuständigen Grundversorger vorsehe, und zwar auch für Fälle oberhalb der Niederspannung. Spätestens ab dem Zugang des Schreibens vom 04.01.2019 habe die Klägerin Kenntnis davon gehabt, dass der Liefervertrag mit der Streithelferin nicht ungestört erfüllt werde und dass J die Belieferung mit Strom aufgenommen habe. Ab diesem Zeitpunkt habe die Klägerin die weitere Bereitstellung von Strom als Vertragsangebot von J werten und davon ausgehen müssen, dass diese die weitere Entnahme des Stroms durch die Klägerin als Annahme ihres Angebots verstehen werde. Zumindest habe J ein bereicherungsrechtlicher Anspruch zugestanden, da die Stromlieferung an die Klägerin bis zum 27.01.2019 durch sie erfolgt sei. Für die Zeit vom 01.01. bis 06.01.2019 habe J ein Aufwendungsersatzanspruch gemäß den §§ 677, 683 S. 1 BGB zugestanden, da sie im Interesse der Klägerin die unterbrechungsfreie Stromversorgung sichergestellt habe.
16Die Klägerin hat der K GmbH mit Blick auf den behaupteten Abschluss eines Liefervertrages ab dem 01.01.2019 den Streit verkündet. Diese ist dem Rechtsstreit auf Seiten der Klägerin beigetreten. Sie hat geltend gemacht, die Zuordnung der Lieferstelle zum Bilanzkreis von J sei rechtswidrig unter Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des § 20 Abs. 1 EnWG erfolgt, da weder die Voraussetzungen einer Ersatzversorgung i.S.d. § 38 EnWG noch eine vereinbarte Ersatzbelieferung durch J vorgelegen hätten. Diese habe die Kontaktdaten der Klägerin, die Marktlokations-lD und den Umstand, dass die Klägerin von der T beliefert werden sollte, danach rechtswidrig und unter Verstoß gegen das Vertraulichkeitsgebot des § 6a EnWG von ihrer Tochtergesellschaft U erlangt.
17Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien wird auf die tatsächlichen Feststellungen und Sachanträge im angefochtenen Urteil Bezug genommen.
18Mit Schriftsatz vom 26.03.2021 hat die Beklagte mitgeteilt, dass sie Rechtsnachfolgerin von J sei, und gebeten, „dies zukünftig beim Rubrum zu berücksichtigen“. Der Ausgliederungs- und Übernahmevertrag hat eine Übertragung der dem übertragenen Geschäftsbereich zuzuordnenden Prozessverhältnisse auf die Beklagte vorgesehen (vgl. Anl. B 8). Nachfolgend wurde die Beklagte im Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 29.10.2021 sowie im Schriftsatz der Klägerin vom 01.12.2021 als Partei aufgeführt.
19Das Landgericht hat Beweis erhoben und die Beklagte unter Abweisung der weitergehenden Klage zur Rückzahlung von 66.918,66 € sowie zum Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten i.H.v. 1.752,90 € – jeweils nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz – verurteilt. Zur Begründung hat es ausgeführt, das Landgericht Essen sei zur Entscheidung des Rechtsstreits zuständig, da eine bürgerlich-rechtliche Streitigkeit i.S. des § 102 EnWG nicht vorliege. Ob ein Vertragsverhältnis zwischen der Beklagten und der Klägerin bestehe oder ein anderweitiger Anspruch aus einem gesetzlichen Schuldverhältnis, richte sich allein nach den Vorschriften des BGB. Die Klage sei nur teilweise begründet, denn der Klägerin stehe ein Rückzahlungsanspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB nur i.H.v. 66.918,66 € zu. In dieser Höhe sei die Zahlung an die Beklagte (gemeint jeweils: J) ohne Rechtsgrund erfolgt. Die Kammer gehe davon aus, dass zwischen den Parteien ein Stromlieferungsvertrag nicht zustande gekommen sei. Das Vertragsangebot im Schreiben der Beklagten vom 04.01.2019 habe die Klägerin weder ausdrücklich noch konkludent angenommen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei vielmehr ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass ein Vertragsschluss mit der Beklagten wegen des mit der Streithelferin abgeschlossenen Stromlieferungsvertrages nicht in Betracht komme. Ein Stromlieferungsvertrag sei auch nicht am 01.01.2019 nach den Grundsätzen der Realofferte zustande gekommen, weil die Klägerin zuvor einen Stromlieferungsvertrag mit der Streithelferin abgeschlossen habe, was die Beklagte nicht, jedenfalls nicht in hinreichend qualifizierter Weise bestritten habe. Die Klägerin sei nicht unterrichtet worden, dass die Anmeldung der Streithelferin als neuer Stromlieferant fehlgeschlagen war und somit ein vertragsloser Zustand drohte. Andererseits habe die Beklagte nicht davon ausgehen können, dass sie von der Klägerin als Lieferantin des Stromes angesehen würde. Sie habe sich auch selbst nicht unmittelbar als Vertragspartner der Klägerin gesehen, sondern im Schreiben vom 04.01.2019 erst ein Vertragsangebot unterbreitet.
20Teilweise ergebe sich aber ein rechtlicher Grund für die Zahlungen der Klägerin aus den §§ 677, 683 S. 1, 670 BGB, denn die Beklagte habe sich gegenüber U einverstanden erklärt, als „Grundversorger“ bei der Lieferung gegenüber der Klägerin tätig zu werden und sei somit als Stromlieferant für die Klägerin eingetreten. Sie habe damit auch ein Geschäft der Klägerin geführt. Die Stromlieferung habe dabei auch in deren objektivem Interesse und – bis zur Ablehnung eines Vertragsschlusses am 09.01.2019 – auch in deren mutmaßlichem Willen gelegen, damit sie ihren Betrieb habe fortführen können. Die Beklagte habe daher einen Aufwendungsersatzanspruch, der die übliche Vergütung umfasse, die sich hier wegen der Besonderheiten der Ersatzversorgung aus der dem Angebot vom 04.01.2019 beigefügten Preisregelung EoG (Stand Dezember 2018) ergebe. Ein zeitlich weitergehender Anspruch der Beklagten ergebe sich nicht aus § 812 Abs. 1 S. 1 BGB, denn die Stromlieferung habe sich aus Sicht der Klägerin entweder als Leistung der Streithelferin oder als solche der U dargestellt, die sich im Schreiben vom 27.12.2018 als verpflichtet gezeigt habe, die Stromversorgung für die Entnahmestelle weiterhin unterbrechungsfrei sicherzustellen. Dass die Zahlung der Klägerin in Kenntnis der Nichtschuld erfolgt sei, habe die Beklagte nicht bewiesen. Unter Zugrundelegung der begründeten Hauptforderung berechne sich der Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Kosten auf 1.752,90 €.
21Hiergegen richtet sich die bei dem Oberlandesgericht Hamm eingelegte Berufung der Beklagten, mit der sie die vollständige Klageabweisung begehrt. Sie macht geltend, das Landgericht habe verkannt, dass für den Zeitraum ab dem 07.01. bis zum 27.01.2019 ein vertraglicher Zahlungsanspruch seitens J bestanden habe. Verfahrensfehlerhaft habe es unstreitige bzw. zugestandene Tatsachenbehauptungen als streitiges Vorbringen behandelt, wie die Tatsache, dass die Streithelferin es versäumt habe, die Entnahmestelle der Klägerin bei der U rechtzeitig für die Belieferung durch sie anzumelden, dass die Entnahmestelle der Klägerin dem Bilanzkreis von J als der Ersatzversorgerin ab dem 01.01.2019 zugeordnet worden sei und dass nach § 7 der Allgemeinen Anschlussbedingungen, die Gegenstand des Anschlussvertrages zwischen der Klägerin und der U seien, eine fehlende Zuordnung der Marktlokation kein Grund für eine Unterbrechung der Stromversorgung darstelle, was wiederum darauf beruhe, dass der Anschlussnutzungsvertrag für diesen Fall eine Ersatzbelieferung durch den zuständigen Grundversorger vorsehe, und zwar auch für Fälle oberhalb der Niederspannung. Verfahrensfehlerhaft sei außerdem die Feststellung des Landgerichts, die Zeugen hätten übereinstimmend bekundet, dass eine Annahme des Angebots vom 04.01.2019 nicht erfolgt sei. Die Zeugen W und L hätten sich in ihrer Aussage auf ein Angebot vom 09.01.2019 - und nicht auf das Schreiben von J vom 04.01.2019 – bezogen.
22Indem J ab dem 01.01.2019 an der Entnahmestelle der Klägerin Strom zur Verfügung gestellt habe, habe sie ein Vertragsangebot in Form einer Realofferte gegenüber der Klägerin abgegeben, was diese dadurch konkludent angenommen habe, dass sie für ihre Entnahmestelle Strom aus dem Leitungsnetz entnommen habe. Höchstrichterlich sei anerkannt, dass der Abnehmer – auch wenn er noch in vertraglichen Beziehungen zu einem anderen Energieversorger stehe – die fortdauernde Bereitstellung von Energie als eigenes Vertragsangebot des Gebiets- bzw. Ersatzversorgers werten müsse, sobald der Gebiets- bzw. Ersatzversorger dem Abnehmer – wie hier mit Zugang des Schreibens vom 04.01. am 07.01.2019 – mitgeteilt habe, dass er die Stromlieferung aufgenommen habe. Die Klägerin könne sich insoweit nicht darauf berufen, dass es an einem entsprechenden objektiven Erklärungswert ihres Verhaltens gefehlt habe. Rechtsfehlerhaft sei die Würdigung des Landgerichts, die Klägerin sei nicht über die fehlgeschlagene Anmeldung der Streitverkündeten unterrichtet worden und habe daher nicht wissen können, dass ein vertragsloser Zustand gedroht habe. Die Information im Schreiben vom 04.01.2019, dass ihre Stromversorgung ab dem 01.01.2019 nicht mehr durch einen Lieferanten sichergestellt sei, habe mindestens berechtigte Zweifel bei der Klägerin wecken müssen, dass die Anmeldung der Streithelferin ordnungs- bzw. fristgemäß erfolgt sei. Dass J die Belieferung der Klägerin lediglich aufgrund eines Vertragsverhältnisses habe vornehmen wollen, liege auf der Hand. Entgegen der unzutreffenden Annahme des Landgerichts enthalte das Schreiben vom 04.01.2019 nicht das eigentliche Angebot, sondern informiere die Klägerin nur über (die bereits erfolgte) Realofferte. Im Ergebnis könne dies allerdings dahinstehen, denn die vom Landgericht angenommene Ablehnung des vermeintlichen schriftlichen Angebots vom 04.01.2019 sei tatsächlich in der Beweisaufnahme so nicht festgestellt worden. Zudem ändere die - durch die Zeugen bekundete - telefonische Zurückweisung des von J übersandten (weiteren) Vertragsangebots vom 09.01.2019 (Anl. B 5) durch die Klägerin auch rechtlich nichts, denn dieses Angebot sei hier nicht streitgegenständlich. Die telefonischen Äußerungen seien aber vor allem deshalb unerheblich, da die Telefonate nachweislich nicht vor dem 09. oder 10.01.2019 stattgefunden hätten, so dass ein ggf. geäußerter entgegenstehender Wille nicht einen Vertragsschluss am 07.01.2019 habe hindern bzw. wieder auflösen können. Unabhängig davon sei die Zurückweisung einer Belieferung durch J auch deshalb unbeachtlich, weil sich die Klägerin auch nach dem 09. oder 10.01.2019 in Widerspruch zu ihrem tatsächlichen Verhalten, dem weiteren Strombezug, gesetzt habe. Dass sie trotz entgegenstehender Hinweise fälschlicherweise weiterhin die Streithelferin für ihre Lieferantin gehalten habe, sei ihr eigenes Risiko, das einen Vertragsschluss der Parteien nicht gehindert habe.
23Selbst wenn ein vertraglicher Vergütungsanspruch nicht bestünde, habe J ein Zahlungsanspruch bis zum Ende der Belieferung am 27.01.2019 zugestanden. Mit der vereinbarungsgemäß erfolgten Zuordnung der Marktlokation der Klägerin zum Bilanzkreis von J sei der Strom von dieser für die Marktlokation der Klägerin bereitgestellt, d.h. geliefert worden. Auch wenn die Klägerin angenommen hätte, bei der Stromlieferung habe sich um eine Leistung der Streithelferin oder der U gehandelt, wäre dies ein unbeachtlicher Irrtum der Klägerin, der nicht zum Ausschluss der Leistungskondiktion führte. Zutreffend habe das Landgericht für die Zeit ab dem 01.01.2019 einen Zahlungsanspruch aus §§ 677, 683 S. 1, 670 BGB bejaht. Nachdem das Lieferverhältnis der Klägerin mit der T beendet gewesen sei und die Streithelferin die Entnahmestelle der Klägerin nicht rechtzeitig bei U zur Durchleitung angemeldet gehabt habe, habe - außer dem von J zur Verfügung gestellten Strom – kein Strom eines anderen Lieferanten zur Verfügung gestanden. Die Übernahme der Geschäftsführung durch J habe dem Interesse und dem mutmaßlichen Willen der Klägerin entsprochen (§ 683 S. 1 BGB), weil diese auf die ununterbrochene Stromlieferung angewiesen gewesen sei. Aus der Ablehnung vertraglicher Beziehungen am 09. bzw. 10.01.2019 könne nicht geschlossen werden, dass die Klägerin auch im Falle des Unterbleibens der Stromlieferung durch die Streithelferin nicht mit einer Ersatzbelieferung durch J einverstanden gewesen sei.
24Die Beklagte beantragt,
25das am 28. Januar 2022 verkündete Urteil des Landgerichts Essen (41 O 20/19) abzuändern und die Klage abzuweisen.
26Die Klägerin und die Streithelferin beantragen,
27die Berufung zurückzuweisen und
28im Wege der Anschlussberufung das angefochtene Urteil abzuändern und die Beklagte zu verurteilen,
291. an die Klägerin 85.872,72 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.03.2019 sowie
302. an die Klägerin 1.863,40 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 13.04.2019
31zu zahlen.
32Sie verteidigen das angefochtene Urteil, soweit der Klage stattgegeben wurde. Die Klägerin macht geltend, eine eigenmächtige Bilanzkreiszuordnung durch die U zu Gunsten der konzernrechtlich verbundenen J sei unzulässig und damit unwirksam gewesen. Sie, die Klägerin, habe nicht davon ausgehen müssen, dass eine Ersatzbelieferung durch J erfolgen würde, da die Voraussetzungen hierfür zum einen nicht vorgelegen hätten und sie zum anderen aus ihrer Sicht auf die Erfüllung des mit der Streithelferin geschlossenen Stromliefervertrages habe vertrauen dürfen. Wegen des bereits mit der Streithelferin abgeschlossenen Vertrages sei der Abschluss eines weiteren Vertrages für sie überhaupt nicht in Betracht gekommen. Entgegen der Auffassung des Landgerichts habe auch keine Geschäftsführung ohne Auftrag von J für sie, die Klägerin, vorgelegen, J habe die Geschäftsführung vielmehr unberechtigt übernommen. Dass die Entnahmestelle eines Letztverbrauchers, der Strom in Mittelspannung beziehe, im Falle eines vertragslosen Zustands nicht dem Grundversorger, sondern dem letzten Energielieferanten zuzuordnen sei, habe der Gesetzgeber mit Einführung des zum 24.12.2022 in Kraft getretenen § 118c EnWG nunmehr jedenfalls für einen befristeten Zeitraum ausdrücklich geregelt. Auch ein bereicherungsrechtlicher Anspruch der Beklagten scheide aus, da die Zuordnung ihrer Marktlokation zum Bilanzkreis der Beklagten unzulässig gewesen sei und die Lieferung des Stroms somit nicht als Leistung der Beklagten gewertet werden könne.
33Die Streithelferin macht geltend, nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 10.05.2022, EnZR 54/21 (Verbrauchsstelle Goldbuschfeld), sei entscheidungserheblich, ob die von der Klägerin im Zeitraum vom 01. - 27. Januar 2019 aus dem Netz der allgemeinen Versorgung entnommenen Strommengen ihr oder J wirtschaftlich zuzuordnen seien. Der Gesetzgeber habe die Interimsversorgung von Letztverbrauchern in Mittelspannung durch den neu eingeführten § 118c EnWG nunmehr ausdrücklich im Sinne einer Zuordnung an den letzten Energielieferanten geregelt. Bei einer irrtümlichen oder rechtswidrigen Zuordnung einer Marktlokation zum Bilanzkreis eines Lieferanten habe ein bilanzieller und gegebenenfalls bereicherungsrechtlicher Ausgleich zwischen den von dem Zuordnungsfehler betroffenen Elektrizitätsversorgungsunternehmen zu erfolgen. Nach diesen Grundsätzen sei der von der Klägerin im Zeitraum vom 01. - 27.01.2019 entnommene Strom ausschließlich ihrem – der Streithelferin – Vermögen zugeordnet gewesen und stelle sich als Lieferung durch sie dar.
34Die Beklagte bittet um Zurückweisung der Anschlussberufung und macht geltend, aus der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 10.05.2022 folge für den vorliegenden Fall, dass die Stromentnahmen der Klägerin J zuzuordnen gewesen seien. Dass die Stromentnahme aus dem Mittelspannungsnetz erfolgt sei und J vor dem 01.01.2019 nicht in einem gesetzlichen Ersatzversorgungsverhältnis mit der Klägerin gestanden habe, bedinge keine abweichende Bewertung, denn die rechtliche Ausgangssituation und die tatsächliche Fallkonstellation seien vergleichbar mit dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall. Aufgrund der Stellung von J als zuständiger Grund- und Ersatzversorger bestehe grundsätzlich eine Auffangfunktion, auch wenn sich diese gemäß §§ 36, 38 EnWG zunächst nur auf die in der Niederspannungsebene angeschlossenen Letztverbraucher beziehe. Für dritte Stromlieferanten bestehe demgegenüber keinerlei Grund oder Anlass, all diejenigen Letztverbraucher mit Strom zu versorgen, für die kein anderer Stromlieferant zur Verfügung stehe oder sich gemeldet habe. Insofern liege es nahe, die Auffangfunktion des zuständigen Grund- und Ersatzversorgers auch auf Letztverbraucher zu erstrecken, die in Spannungsebenen oberhalb der Niederspannung an das Stromnetz angeschlossen seien, jedenfalls dann, wenn es in den Verträgen zwischen dem Anschlussnetzbetreiber und den Letztverbrauchern – wie hier – so vorgesehen sei.
35Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
36Das Oberlandesgericht Hamm hat den Rechtsstreit nach Anhörung der Parteien mit Beschluss vom 25.10.2022 an das Oberlandesgericht Düsseldorf – Kartellsenat – verwiesen, da eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit im Sinne des § 102 Abs. 1 EnWG vorliege.
37II.
38Die Berufung der Beklagten und die unselbständige Anschlussberufung der Klägerin sind zulässig. Die Berufung ist jedoch nicht begründet, die Anschlussberufung hingegen führt zur Abänderung des angefochtenen Urteil und Stattgabe der Klage im Umfang der Anfechtung.
39A.
40Die beim Oberlandesgericht Hamm eingelegte Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Essen ist zulässig. Zwar ist für die Entscheidung über die Berufung der Kartellsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf zuständig, weil eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit i.S.d. § 102 EnWG vorliegt (§ 106 Abs. 1 EnWG i.V.m. § 2 KartellGBildVO NRW). Die Beklagte hat jedoch mit der Einlegung der Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Essen und ihrer nachfolgenden Begründung bei dem Oberlandesgericht Hamm die Fristen zur Einlegung und Begründung des Rechtsmittels gewahrt.
41Die unselbständige Anschlussberufung der Klägerin ist ebenfalls zulässig.
421. Der Senat ist zur Entscheidung über die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Essen zuständig. Die Zuständigkeit nach § 106 Abs. 1 EnWG knüpft an das Vorliegen einer Energierechtssache i.S.d. § 102 Abs. 1 EnWG an, für die allein eine materiellrechtliche Anknüpfung maßgeblich ist. Hingegen kommt es in einem solchen Fall für die Zuständigkeit des Kartellsenats grundsätzlich nicht darauf an, ob auch in der Vorinstanz ein Kartellgericht entschieden hat (BeckOK EnWG/van Rossum, 5. Ed. 1.12.2022, § 106 Rn. 9; Theobald/Kühling/Theobald/Werk, EnR, 116. EL Mai 2022, § 106 EnWG Rn. 7). Dabei werden nicht nur Zivilprozesse mit einer energiewirtschaftsrechtlichen Hauptfrage, sondern auch solche erfasst, deren Entscheidung ganz oder teilweise von der Beantwortung einer energiewirtschaftsrechtlichen Vorfrage abhängt (BeckOK EnWG/van Rossum, a.a.O.; BerlKommEnR/Keßler, 4. Aufl. 2019, § 106 EnWG Rn. 7). Erforderlich ist danach, dass es sich entweder um eine Streitigkeit über Ansprüche handelt, deren Grundlage sich unmittelbar aus einer Norm des Energiewirtschaftsgesetzes oder aus einer aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnung ergibt (vgl. BGH, Beschl. v. 17.07.2018 – EnZB 53/17, BeckRS 2017, 150663 Rn. 9 ff. – Berufungszuständigkeit) oder dass die Beantwortung einer energiewirtschaftsrechtlichen Vorfrage entscheidungserheblich ist. Letzteres ist nur dann der Fall, wenn die Klärung der Vorfrage zwingend erforderlich ist und über das Klagebegehren nicht unabhängig hiervon abschließend entschieden werden kann. Vorgreiflichkeit besteht hingegen nicht, wenn in die Entscheidung lediglich allgemeine Wertungsmaßstäbe einfließen, die in anderem Zusammenhang auch im Energiewirtschaftsrecht Berücksichtigung finden können, ohne dass eine konkrete energiewirtschaftsrechtliche Vorfrage aufgeworfen wird (BeckOK EnWG/Pastohr, a.a.O., § 102 EnWG Rn. 9; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.12.2010 – VI-W (Kart) 8/10, BeckRS 2010, 142331 Rn. 12). Eine Vorfrage i.S.d. § 102 Abs. 1 S. 2 EnWG kann sich auch aus einer Einwendung des Beklagten ergeben (BeckOK EnWG/Pastohr, a.a.O. Rn. 11).
43Nach Maßgabe dessen liegt hier eine energiewirtschaftsrechtliche Streitigkeit im weiteren Sinne vor, da die Entscheidung des Rechtsstreits von der Entscheidung einer Vorfrage i.S.d. § 102 Abs. 1 S. 2 EnWG abhängt. Die Frage, ob durch die Stromentnahme der Klägerin konkludent ein Ersatzbelieferungsvertrag mit der Beklagten zustande gekommen ist, ist zwar in erster Linie nach zivilrechtlichen Grundsätzen zu beantworten, da das EnWG für die höheren Netzspannungsebenen insoweit keine Regelungen enthält. Dabei folgt nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 10.05.2022 die Zuordnung des Stroms zum Bilanzkreis eines Stromlieferanten den zivilrechtlichen Gegebenheiten und hat eine etwaige fehlerhafte bilanzielle Zuordnung auf die wirtschaftliche und zivilrechtliche Zuordnung des Stroms keinen Einfluss (BGH, Beschl. v. 10.05.2022 – EnZR 54/21, RdE 2022, 404 Rn. 20, 27 - Verbrauchsstelle Goldbuschfeld). Insbesondere mit Blick auf den vom Landgericht bejahten Anspruch aus GoA für den Zeitraum vom 01.01. bis 09.01.2019 macht die Beklagte jedoch geltend, eine andere zivilrechtliche Zuordnung des entnommenen Stroms folge daraus, dass die Marktlokation der Klägerin zum Bilanzkreis von J ab dem 01.01.2019 aufgrund einer im Anschlussnutzungsvertrag mit der U erteilten Einwilligung der Klägerin und daher nicht fehlerhaft zugeordnet worden sei. Insoweit hängt die Entscheidung auch von der Beantwortung der Vorfrage ab, ob eine derartige Ermächtigung mit den Bestimmungen und Grundsätzen des Energiewirtschaftsgesetzes, insbesondere der Entflechtung der Strom- und Gasnetze (Unbundling, §§ 6 ff. EnWG), vereinbar ist.
442. Mit der Einlegung und Begründung der Berufung beim Oberlandesgericht Hamm hat die Beklagte die Fristen zur Einlegung und Begründung des Rechtsmittels gewahrt, auch wenn eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit i.S.d. § 102 Abs. 1 EnWG vorliegt. Das Landgericht Essen hat als reguläre Zivilkammer in erster Instanz entschieden, weil es das Vorliegen einer Streitigkeit nach § 102 EnWG verneint hat. Für Berufungen gegen Entscheidungen des Landgerichts Essen in Zivilsachen ist gemäß § 119 Abs. 1 Nr. 2 GVG i.V.m. § 21 Abs. 1 S. 2 JustG NRW und der Anlage dazu das Oberlandesgericht Hamm allgemein zuständig. Wie der Bundesgerichtshof bereits entschieden hat, kann wegen der u.U. schwierigen Abgrenzungsprobleme, wie sie sich auch hier zeigen, eine Berufung in einer bürgerlichen Rechtsstreitigkeit im Sinne von § 102 EnWG, über die der Kartellsenat des Oberlandesgerichts zu entscheiden hat, fristwahrend auch bei dem nach § 119 GVG allgemein zuständigen Oberlandesgericht eingelegt werden (BGH, Beschl. v. 17.07.2018, a.a.O. Rn. 20 ff.). Darauf, ob vernünftige Zweifel an der Zuständigkeit des Kartell-Oberlandesgerichts bestehen oder nicht, kommt es nicht an (BGH, Urt. v. 30.05.1978 – KZR 12/77, NJW 1978, 2096, 2098, juris Rn. 20 – Pankreaplex I).
453. Die mit der Berufungserwiderung vom 11.07.2022 eingelegte Anschlussberufung der Klägerin ist statthaft und auch ansonsten zulässig. Da der Klägerin keine Frist zur Berufungserwiderung gesetzt worden ist, wurde keine Frist für die Anschlussberufung (§ 524 Abs. 2 S. 2 ZPO) in Lauf gesetzt (vgl. BeckOK ZPO/Wulf, 47. Ed. 1.12.2022, § 524 Rn. 18). Auf die – hier bereits am 16.05.2022 erfolgte – Zustellung der Berufungsbegründung kommt es, anders als nach früherer Rechtslage, nicht an.
46B.
47Die Berufung der Beklagten, die erstinstanzlich aufgrund eines gewillkürten Parteiwechsels anstelle von J in den Prozess eingetreten ist, hat aus den in der mündlichen Verhandlung vom 09.02.2023 mit den Parteien erörterten Gründen in der Sache keinen, die Anschlussberufung der Klägerin hat dagegen vollumfänglich Erfolg. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Rückzahlung des gesamten Rechnungsbetrages aus § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB zu, weil die Zahlung auf die Rechnung vom 28.01.2019 (Anl. K 3) ohne Rechtsgrund erfolgt ist. Die Beklagte kann die Vergütung des im Zeitraum vom 01.01. bis 27.01.2019 entnommenen Stroms von der Klägerin weder aus Vertrag, noch aus Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA), noch aus Bereicherungsrecht verlangen.
48Ein Mangel des rechtlichen Grundes i.S.v. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB ist anzunehmen, wenn der Empfänger zum Zeitpunkt der Leistung kein Recht auf die Leistung hatte, d.h. wenn das zugrunde liegende Kausalverhältnis nicht geschaffen wurde, unwirksam war oder jedenfalls die Leistung nicht oder nicht so erforderte (BeckOK BGB/Wendehorst, 64. Ed. 1.11.2022, § 812 Rn. 60). Hinsichtlich des Merkmals „ohne rechtlichen Grund“ ist der Nachweis ausreichend, dass die vom Schuldner auch hilfsweise vorgebrachten Rechtsgründe für den Erwerb nicht bestehen (BeckOK BGB/Wendehorst, a.a.O. Rn. 282).
491. Das Landgericht ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass zwischen der Klägerin und J kein Vertrag über die vorübergehende Belieferung der Entnahmestelle Robert-Bosch-Str. 5 in Damme mit Strom zustande gekommen ist.
50Die Beklagte räumt selbst ein, dass ein ausdrücklicher schriftlicher oder mündlicher Vertragsschluss nicht erfolgt ist, und beruft sich stattdessen auf einen konkludent zustande gekommenen Stromlieferungsvertrag. Sie meint, J habe mit der Zurverfügungstellung des Stroms an der Entnahmestelle der Klägerin ab dem 01.01.2019 eine Realofferte auf Abschluss eines Ersatzbelieferungsvertrages abgegeben, die diese nach Zugang des Schreibens von J vom 04.01.2019 am 07.01.2019 durch die weitere Stromentnahme aus dem Leitungsnetz konkludent angenommen habe. Das war indessen nicht der Fall, weil die Zuordnung der Marktlokation der Klägerin durch die Netzbetreiberin zum Bilanzkreis von J unberechtigt erfolgt ist und der entnommene Strom daher nicht als von J geliefert galt.
511.1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist in dem Leistungsangebot eines Versorgungsunternehmens grundsätzlich ein Vertragsangebot zum Abschluss eines Versorgungsvertrages in Form einer sogenannten Realofferte zu sehen. Diese Realofferte wird von demjenigen konkludent angenommen, der aus dem Leitungsnetz Elektrizität, Gas, Wasser oder Fernwärme entnimmt. Aus der maßgebenden Sicht eines objektiven Empfängers stellt sich typischerweise die Vorhaltung der Energie und die Möglichkeit der Energieentnahme an den ordnungsgemäßen Entnahmevorrichtungen nach Treu und Glauben und unter Berücksichtigung der Verkehrssitte als Leistungsangebot und damit als Vertragsangebot dar. Die Inanspruchnahme der angebotenen Leistung beinhaltet – auch bei entgegenstehenden ausdrücklichen Äußerungen – die schlüssig erklärte Annahme dieses Angebots (BGH, Urt. v. 27.11.2019 − VIII ZR 165/18, EnWZ 2020, 119 Rn. 10 m.w.N.). Bei einem Letztverbraucher (§ 3 Nr. 25 EnWG), der kein Haushaltskunde (§ 3 Nr. 22 EnWG) ist und bei dem daher keine Grundversorgungspflicht nach § 36 Abs. 1 EnWG (aF) besteht, gilt dies allerdings nicht, weil die Preise aus der Grundversorgung, auf die dieser gerade keinen Anspruch hat, insoweit nicht entsprechend herangezogen werden können und einer (unterstellten) Realofferte des Ersatzversorgers mithin bereits Angaben zum Preis des lieferbaren Stroms und damit ein wesentlicher Bestandteil des zu schließenden Vertrages fehlen (BGH, Beschl. v. 10.05.2022, a.a.O. Rn. 15).
521.2. Anders stellt sich die Rechtslage außerhalb der Niederspannung dar, dort bedarf es grundsätzlich in jedem Fall eines Vertragsschlusses über die Ersatzbelieferung mit einem Energielieferanten. Die Rechtsgrundsätze zum konkludenten Vertragsschluss können hier in der Regel schon deshalb nicht zur Anwendung kommen, weil eine (vertragslose) Zuordnung der Marktlokation zu einem Versorger, mit dem der Letztverbraucher noch keinen Stromversorgungsvertrag geschlossen hat, ausscheiden muss, so dass auch eine Realofferte dieses Versorgers nicht erfolgen kann. Unabhängig davon, dass auch insoweit jede Realofferte aus den vorgenannten Gründen schon nicht hinreichend bestimmt wäre, steht einem konkludenten Vertragsschluss durch Annahme einer Realofferte maßgeblich entgegen, dass der entnommene Strom dem Lieferanten, der eine Ersatzbelieferung für sich in Anspruch nehmen will, – vor Abschluss eines entsprechenden Vertrages – weder bilanziell zugeordnet werden darf noch zivilrechtlich zuzurechnen ist. Es fehlt daher in der Regel schon objektiv an einer Realofferte. Von daher kommt es im Regelfall nicht darauf an, dass es für den Letztverbraucher aber dementsprechend auch nicht erkennbar wäre, dass in der bloßen Möglichkeit zur Stromentnahme eine Realofferte desjenigen Lieferanten liegen soll, der die Lieferung für sich begehrt (Tüngler, EnWZ 2022, 404, 408; BeckOGK/Tüngler, 1.8.2022, § 433 BGB Rn. 143, 145; s.a. Rauch, ER 2022, 135, 138).
53Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs folgt die Zuordnung der an einer bestimmten Lieferstelle aus dem Stromnetz entnommenen Strommengen zum Bilanzkreis eines bestimmten Elektrizitätsversorgungsunternehmens den zivilrechtlichen Gegebenheiten (BGH, Beschl. v. 10.05.2022, a.a.O. Rn. 20; Beschl. v. 27.10.2020 – EnVR 104/19, BeckRS 2020, 45396 Rn. 21 – Unberechtigt genutzte Lieferstellen), und nicht umgekehrt. Die Entnahme von Strom an der Marktlokationen der Klägerin ab dem 01.01.2019 erfolgte weder aufgrund eines gesetzlichen noch aufgrund eines vertraglichen Schuldverhältnisses mit J. Die gleichwohl von U am 22.12.2018 vorgenommene Zuordnung dieser Marktlokationen zum Bilanzkreis von J war daher fehlerhaft und verstieß gegen § 20 Abs. 1 EnWG, da J hierdurch ohne sachlichen Grund vor anderen Stromlieferanten – wie der Streithelferin – bevorzugt behandelt wurde.
541.2.1. Die am 22.12.2018 durch U vorgenommene Zuordnung der Marktlokation der Klägerin zum Bilanzkreis von J war weder aufgrund eines gesetzlichen Schuldverhältnisses der Ersatzversorgung gem. § 38 Abs. 1 S. 1 EnWG gerechtfertigt, noch aufgrund einer vertraglichen Vereinbarung zwischen der Klägerin und J.
55Eine Zuordnung zum Bilanzkreis von J aufgrund eines Ersatzversorgungsverhältnisses gemäß § 38 Abs. 1 S. 1 EnWG, worauf U in ihrem Schreiben vom 27.12.2018 an die Klägerin (Anl. B 1) abgestellt hat, schied hier aus, denn § 38 EnWG ist in den Fällen, in denen Letztverbraucher Strom über das Mittelspannungsnetz beziehen, weder direkt noch entsprechend anwendbar. Der Anwendungsbereich der Vorschrift ist nach dem Willen des Gesetzgebers auf Letztverbraucher, die über das Energieversorgungsnetz der allgemeinen Versorgung in Niederspannung oder Niederdruck Energie beziehen, beschränkt. Der Bezug von Energie über Netze in höheren Spannungsebenen fällt im Falle des Wegfalls des Lieferanten nicht unter den Schutz einer Ersatzversorgung, auch wenn – wie im Fall des § 38 EnWG – dieser Bezug keinem bestimmten Lieferanten oder Liefervertrag zugeordnet werden kann (vgl. Hempel, in: Hempel/Franke, Recht der Energie- und Wasserversorgung, Bd. 1, 148. Lfg. Oktober 2021, § 38 EnWG Rn. 30; BeckOK EnWG/Schnurre, a.a.O., § 38 Rn. 7; Ehring, ER 2019, 223, 224 f.). Eine analoge Anwendung der Vorschrift scheidet angesichts der klaren normativen Beschränkung der Ersatzversorgung auf das Niederspannungsnetz, die auf der besonderen Schutzbedürftigkeit der an diese Netzebene angeschlossenen Kunden beruht und aus deren gesteigertem Interesse an Schutz vor Versorgungsunterbrechungen resultiert, aus (Haun, EnWZ 2023, 29; Tüngler, a.a.O., S. 406 f.; Ehring, a.a.O.; BerlKommEnR/Busche, a.a.O., § 38 EnWG Rn. 2; Kment/Rasbach, EnWG, 2. Aufl. 2019, § 38 Rn. 2; s.a. Begr. zu § 118c EnWG, BT-Drucks. 20/4915 S. 177).
56Bei der Versorgung in höheren Spannungsebenen darf der keinem bestimmten Lieferanten oder Liefervertrag zuzuordnende Strombezug eines Letztverbrauchers grundsätzlich nicht dem Bilanzkreis des örtlich zuständigen Grund- und Ersatzversorgers zugeordnet werden, weil es an einer zivilrechtlichen Anknüpfung für dessen bilanzielle Zuständigkeit für die Lieferstelle und den dort entnommenen Strom fehlt. Etwas anderes kann auch nicht aus der Notwendigkeit, jede Marktlokation einem Bilanzkreis zuzuordnen, folgen. Die in den §§ 36, 38 EnWG angelegte Auffangfunktion kommt dem Grund- und Ersatzversorger in der Niederspannungsebene (nur) deshalb zu, weil bei Eintritt eines vertragslosen Zustands an einer Verbrauchsstelle gemäß § 38 Abs. 1 EnWG von Gesetzes wegen zwingend zunächst ein Ersatzversorgungsverhältnis begründet wird, bevor die Stromentnahme unberechtigt erfolgt. Aufgrund des zuletzt mit dem Nutzer der Verbrauchsstelle bestehenden (gesetzlichen) Lieferverhältnisses bleibt er bis zum Eintritt eines anderen Stromlieferanten bilanziell zuständig (BGH, Beschl. v. 10.05.2022, a.a.O. Rn. 23). Außerhalb des Anwendungsbereichs des § 38 Abs. 1 EnWG gilt dies nicht, weil zuletzt kein gesetzliches und – jedenfalls in der Regel – auch kein vertragliches Lieferverhältnis zum Grund- und Ersatzversorger bestand (vgl. auch Köhler, ER 2023, 16, 18).
57Dem kann die Beklagte nicht mit Erfolg entgegen halten, dass Letztverbraucher in höheren Spannungsebenen, bei denen es sich meist – wie auch hier – um energieintensive Unternehmen handelt, ebenfalls ein – u.U. erhebliches – Interesse an einer unterbrechungsfreien Stromversorgung haben, zumal bei einem Produktionsausfall massive wirtschaftliche Schäden drohen können. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass von größeren Letztverbrauchern, die in Mittelspannung oder Mitteldruck angeschlossen sind, grundsätzlich erwartet werden kann, dass sie sich rechtzeitig um einen neuen Energieliefervertrag bemühen, um die Unterbrechung ihrer Versorgung zu verhindern (vgl. BT-Drs. 20/4915 S. 177 zu dem am 24.12.2022 in Kraft getretenen § 118c EnWG; Haun, a.a.O.). Bei der Versorgung auf einer höheren Spannungsebene setzt eine Weiterbelieferung bei Ausfall des vertraglichen Lieferanten eine entsprechende vertragliche Vereinbarung voraus, und zwar entweder im Wege der vorherigen Vorsorge in Form des Abschlusses eines (aufschiebend bedingten) Ersatzbelieferungsvertrages oder nach Eintritt einer Zuordnungslücke – diesen Weg ist die Klägerin hier gegangen – durch den unverzüglichen Abschluss eines neuen Stromliefervertrages außerhalb der Grundversorgung (Tüngler, a.a.O., S. 407; Rauch, a.a.O.; Köhler, a.a.O.). Eine derartige Vorsorge gegen Unterbrechungen des Netzanschlusses und der Anschlussnutzung mutet das Gesetz dem Letztverbraucher, der in einer höheren Spannungsebene versorgt wird, ohne weiteres zu, da er als weniger schutzbedürftig als ein an das Niederspannungsnetz angeschlossener Letztverbraucher angesehen wird (Haun, a.a.O.; Tüngler, a.a.O.). Einen solchen Ersatzbelieferungsvertrag hatte J mit der Klägerin im Zeitpunkt der Zuordnung der Marktlokation zu ihrem Bilanzkreis nicht abgeschlossen.
581.2.2. Danach war die Zuordnung der Marktlokation der Klägerin zum Bilanzkreis von J am 22.12.2018 zu Unrecht erfolgt. Ohne Erfolg macht die Beklagte geltend, das Recht zur Zuordnung folge aus dem Preisblatt 15 (Bl. 109 GA), das in den zwischen der Klägerin und U geschlossenen Anschlussnutzungsvertrag (Anl. B 3) einbezogen ist.
591.2.2.1. Dieses Preisblatt stellt schon in tatsächlicher Hinsicht bloß eine – bezüglich der höheren Netzspannungsebenen rechtlich unzutreffende – Information dar, weil für eine analoge Anwendung des § 38 EnWG kein Raum ist. Aus der maßgeblichen Sicht des Letztverbrauchers kommt diesem Preisblatt allenfalls eine Mitteilungsfunktion zu, und nicht ein irgendwie gearteter Regelungsgehalt. Durch eine Einbeziehung eines lediglich informatorischen Preisblatts in den Anschlussnutzungsvertrag kommt weder ein Vertrag zwischen dem Letztverbraucher und dem Grund- und Ersatzversorger zustande, noch ist darin ein Angebot des Letztverbrauchers an den zuständigen Grund- und Ersatzversorger auf Abschluss eines Ersatzbelieferungsvertrages zu sehen, das vom Netzbetreiber mit der Meldung der Marktlokation an den Grund- und Ersatzversorger übermittelt wird, wie es das Landgericht Dortmund (Urt. v. 05.05.2022 – 16 O 53/19 [EnW], BeckRS 2022, 10165) in dem Verfahren zwischen der Streithelferin und u.a. der Beklagten (Senat, Urt. v. 02.03.2023 - VI-5 U 1/22 [Kart]) erwogen hat. Vereinbarungen zu Lasten Dritter sind grundsätzlich nicht zulässig. Auch ein Vertragsangebot der Letztverbraucher scheidet aus, denn im Zeitpunkt des Abschlusses des Anschlussnutzungsvertrages ist das potenzielle Ersatzbelieferungsverhältnis aus deren Sicht so wenig konkretisiert, dass es an den wesentlichen Vertragsbestandteilen des abzuschließenden Vertrages fehlt.
601.2.2.2. Entgegen der Auffassung der Beklagten vermag auch eine alleinige Vereinbarung im Anschlussnutzungsvertrag des Letztverbrauchers – und erst recht eine bloße Bezugnahme auf Preisblätter des Netzbetreibers, die auf den Grundversorger verweisen – im Falle einer Zuordnungslücke die Zuordnung einer Marktlokation zum Bilanzkreis des Grund- und Ersatzversorgers nicht zu rechtfertigen. Nichts anderes folgt aus der Festlegung einheitlicher Geschäftsprozesse und Datenformate zur Abwicklung der Belieferung von Kunden mit Elektrizität durch die Bundesnetzagentur (BNetzA) gem. Beschluss v. 11.07.2006 (BK6-06-009) (Geschäftsprozesse zur Kundenbelieferung mit Elektrizität [GPKE] in der ab dem 01.10.2017 anwendbaren Fassung; Anlage 1 zum Beschluss BK6-16-200 v. 20.12.2016 – GPKE 2017), die eine entsprechende Geltung des Prozesses „Beginn der Ersatz-/Grundversorgung“ (nur) für den Fall einer vertraglich vereinbarten Ersatzbelieferung vorsieht (GPKE 2017 S. 38). Dies kann nur ein Vertrag mit einem Stromlieferanten sein, bei dem es sich allerdings auch um den Grund- und Ersatzversorger handeln kann. Wie die BNetzA in ihrem Beschluss vom 21.12.2020 (BK6-20-160) – insoweit auch in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Beschl. v. 10.05.2022, a.a.O. Rn. 20, 27; v. 27.10.2020, a.a.O. Rn. 21 f.) – klargestellt hat, orientiert sich die Einstufung, ob eine Marktlokation rechtlich der Grund- oder der Ersatzversorgung zuzuordnen ist, allein an der zivilrechtlichen Situation zwischen dem Letztverbraucher und dem Grund- und Ersatzversorger und liegt nicht im Zuständigkeitsbereich oder Ermessen des Netzbetreibers (Beschl. v. 21.12.2020, S. 13). Allein schon deshalb könnte eine – hier zudem nicht ersichtliche – Vereinbarung zwischen Netzbetreiber und Letztverbraucher im Anschlussnutzungsvertrag keine ausreichende Grundlage für eine Zuordnung der Marktlokation zum Bilanzkreis des Grund- und Ersatzversorgers sein.
61Schließlich und für den Senat ganz maßgeblich entscheidend wäre aber eine lediglich in Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Netzbetreibers vorbehaltene Ermächtigung, die Entnahmestelle eines Letztverbrauchers im Falle des Auftretens einer Versorgungslücke an den zuständigen Grund- und Ersatzversorger zu melden und sie dessen Bilanzkreis zuzuordnen, diskriminierend und verstieße gegen § 20 Abs. 1 S. 1 EnWG, da Grund- und Ersatzversorgern außerhalb des Anwendungsbereichs der Grund- und Ersatzversorgung gem. §§ 36 Abs. 1, 38 Abs. 1 EnWG keine besseren Rechte zukommen, als ihren Wettbewerbern.
621.2.2.2.1. Gemäß § 20 Abs. 1 S. 1 EnWG haben Betreiber von Energieversorgungsnetzen jedermann nach sachlich gerechtfertigten Kriterien diskriminierungsfrei Netzzugang zu gewähren. „Diskriminierungsfrei“ bedeutet in Anlehnung an den Grundgedanken des Art. 2 GG, dass gleiche Sachverhalte gleich und wesentlich Ungleiches ungleich behandelt werden muss (BeckOK EnWG/Sösemann/Assmann, a.a.O. Rn. 8 f.; Kment/Kment, a.a.O., § 20 Rn. 10). Das Diskriminierungsverbot des § 20 Abs. 1 S. 1 EnWG verlangt zunächst eine Gleichbehandlung von externen Lieferanten mit solchen, die mit dem Netzbetreiber gesellschaftsrechtlich verbunden sind (vertikales Diskriminierungsverbot). Daneben ist dem Maßstab der Diskriminierungsfreiheit ein Verbot der unterschiedlichen Behandlung mehrerer gleichartiger „externer“ Energielieferanten zu entnehmen (horizontales Diskriminierungsverbot) (BerlKommEnR/Säcker, a.a.O., § 20 EnWG Rn. 38, 40). Die Diskriminierungsfreiheit ist im Zusammenhang mit dem Zugang zu den Energieversorgungsnetzen von elementarer Bedeutung, da bei vertikal integrierten Energieunternehmen der Netzbetreiber einen Anreiz hat, den zur gleichen juristischen Person oder zumindest zur gleichen Unternehmensgruppe gehörenden Lieferanten gegenüber dritten Lieferanten zu bevorzugen. Wenn dies in ungerechtfertigter Weise erfolgt, liegt eine Diskriminierung i.S.d. § 20 Abs. 1 EnWG vor (BeckOK EnWG/Sösemann/Assmann, a.a.O. Rn. 10).
63Eine Präzisierung der Grundsätze eines nach sachlich gerechtfertigten Kriterien diskriminierungsfrei gewährten Netzzugangs enthalten spezielle Normen und Festlegungen der Regulierungsbehörde wie etwa die GPKE, die die für alle Marktteilnehmer gleich geltende Marktkommunikation regeln (BeckOK EnWG/Sösemann/Assmann, a.a.O. Rn. 5). Die GPKE regeln u.a. für den Fall, dass ein Energiebezug weder einer Lieferung noch einem bestimmten Energieliefervertrag zugeordnet werden kann, die Zuordnung von Marktlokationen im Rahmen des Prozesses „Beginn der Ersatz-/Grundversorgung“. Bei Letztverbrauchern, für die keine Ersatzversorgung vorgesehen ist, gilt der Prozess „Beginn der Ersatz-/Grundversorgung“ für den Fall einer vertraglich vereinbarten Ersatzbelieferung entsprechend, sofern der Letztverbraucher dem Netzbetreiber vorab einen Ersatzbelieferer benannt hat (GPKE 2017, S. 38). Bei Marktlokationen außerhalb der Niederspannung kommt danach eine Meldung an den Ersatzbelieferer – soweit vertraglich vereinbart – oder die Unterbrechung des Netzanschlusses in Betracht (GPKE 2017, S. 42). Zu einer derartigen Unterbrechung ist der Netzbetreiber, da er die fortgesetzte Energieentnahme wegen der entflechtungsrechtlichen Bestimmungen durch eine (vorherige) bilanzielle Zuordnung einer Verbrauchsstelle zum eigenen Bilanzkreis auch nicht dulden darf, nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet (Tüngler, a.a.O. S. 409). Das Recht dazu ergibt sich zumindest entsprechend § 17 Abs. 2 S. 1 EnWG, weil dem Netzbetreiber eine Entnahme von Strom, ohne dass die Marktlokation einem Bilanzkreis zugeordnet ist, wirtschaftlich nicht zumutbar ist.
64Der Senat verkennt nicht, dass der Netzbetreiber ein Interesse daran haben kann, im Anschlussnutzungsvertrag Regelungen für diejenigen Fälle zu treffen, in denen der Kunde nicht oder nicht mehr durch den Lieferanten seiner Wahl beliefert werden kann. Primäres Ziel sollte es sein, die Entnahmen kurzfristig einem neuen Lieferanten bilanziell zuzuordnen (vgl. zu den möglichen Regelungen Schneider/Theobald/de Wyl/Thole/Bartsch, Recht der Energiewirtschaft, 5. Aufl. 2021, § 17 Rn. 152 ff.; Theobald/Kühling/Hartmann/Wagner, a.a.O., § 17 EnWG Rn. 133 ff.). Dabei mag aus Sicht des Netzbetreibers auch eine entsprechende Anwendung der Regelung der Ersatzversorgung naheliegend erscheinen, weil der zuständige Grund- und Ersatzversorger am ehesten auf die kurzfristige Belieferung zusätzlicher Kunden eingerichtet ist. Dem stehen jedoch die Entflechtungsbestimmungen und das Diskriminierungsverbot entgegen. Die beanstandete Vertragsgestaltung würde faktisch auf eine unzulässige Analogie zu den Regelungen der Grund- und Ersatzversorgung hinauslaufen. Dem Grundversorger als Ersatzversorger würden dadurch Kunden nicht nur ohne deren Kenntnis, sondern vor allem ohne entsprechende Chancen dritter Vertriebe zufallen (Schneider/Theobald/de Wyl/Thole/Bartsch; Theobald/Kühling/Hartmann/Wagner, jew. a.a.O.).
651.2.2.2.2. Bei den Angaben zur Marktlokation eines Letztverbrauchers, verbunden mit der Information, dass die Stromversorgung nicht durch einen Lieferanten sichergestellt werde, handelt es sich zudem um wirtschaftlich sensible Daten, deren Weitergabe (nur) an den Grund- und Ersatzversorger auch mit den Regelungen zur sogen. informatorischen Entflechtung (Unbundling) nicht vereinbar ist. Ziel dieser Regelungen ist die Gewährleistung des diskriminierungsfreien Netzbetriebs durch vertraulichen Umgang mit wirtschaftlich sensiblen Informationen gem. § 6a Abs. 1 EnWG und die Sicherstellung des diskriminierungsfreien Umgangs mit wirtschaftlich vorteilhaften Informationen gem. § 6a Abs. 2 EnWG als grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung eines unverfälschten Wettbewerbs innerhalb der wettbewerbsfähigen Bereiche (vgl. Gemeinsame Richtlinie der Regulierungsbehörden des Bundes und der Länder zur Umsetzung der informatorischen Entflechtung nach § 9 EnWG v. 13.06.2007, S. 3, 5; Gemeinsame Auslegungsgrundsätze der Regulierungsbehörden des Bundes und der Länder zu den Entflechtungsbestimmungen in §§ 6-10 EnWG v. 01.03.2006, S. 23). Die formelle Entflechtung liefe leer, wenn der Netzbetreiber Informationen, die er aus seiner Tätigkeit erlangt, in diskriminierender Weise weitergeben könnte (Lange in: Jaeger/Kokott/Pohlmann/Schroeder/Seeliger, Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, 103. Liefg. 9/2022, Sonderbereiche: Energiewirtschaft, Rn. 32).
66Wirtschaftlich sensibel im Sinne des § 6a Abs. 1 EnWG sind nach der Gesetzesbegründung zur Vorgängervorschrift § 9 EnWG 2005 (BT-Drucks. 15/3917 S. 54 f.) Informationen, die für einen Wettbewerbsteilnehmer einen wettbewerbsrelevanten Informationsvorsprung auf vor- und nachgelagerten Märkten bedeuten und ihm einen unberechtigten Marktvorteil verschaffen können. Aus dem Netzbereich dürfen deshalb Daten Dritter nicht nach außen dringen, die zu Wettbewerbszwecken unter den Versorgern genutzt werden könnten. Erfasst werden alle Informationen, die Diskriminierungspotenzial enthalten. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn durch Weitergabe solcher Informationen die dem vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmen zugehörigen Wettbewerbsbereiche – wie hier – in die Lage versetzt werden, einen Kunden gezielt anzusprechen und ihm ein qualifiziertes, d.h. auf seine Bedürfnisse zugeschnittenes und sich von den Offerten Dritter abhebendes Angebot zu unterbreiten (vgl. BerlKommEnR/Säcker/Schönborn, a.a.O., § 6a EnWG Rn. 28 f.; BeckOK EnWG/Jenn, a.a.O., § 6a Rn. 16; Theobald/Kühling/Heinlein/Büsch, a.a.O., § 6a EnWG Rn. 16 f.).
67Eine Offenlegung von Daten des Netzkunden ist dem Netzbetreiber nach dem Willen des Gesetzgebers nur dann gestattet, wenn die Information offenkundig ohne wirtschaftliche Bedeutung auf den vor- und nachgelagerten Wettbewerbsmärkten ist, wenn der Netzkunde in die diskriminierungsfreie Offenbarung der ihn betreffenden Informationen eingewilligt hat oder wenn eine gesetzliche Verpflichtung besteht (BT-Drucks. 15/3917 S. 55 zur Vorgängerregelung des § 9 EnWG). (Nur) im Falle der Ersatzversorgung gem. § 38 EnWG ist die Weitergabe der dafür benötigten Daten gesetzlich legitimiert. Hier erfolgt die An- und Abmeldung des Letztverbrauchers durch die Betreiber von Energieversorgungsnetzen nach Maßgabe der von der BNetzA veröffentlichten Marktprozesse (GPKE) (vgl. BeckOK EnWG/Schnurre, a.a.O., § 38 Rn. 11). Die Befugnis zur Weitergabe der für die Abwicklung der Ersatzversorgung notwendigen Informationen ergibt sich hier aus den Vorschriften zur Ersatzversorgung, so dass ein Widerspruch zu den Entflechtungsvorschriften nicht besteht. Das ersatzversorgende Vertriebsunternehmen hat dabei sicherzustellen, dass Informationen, die im Zusammenhang mit der Ersatzversorgung erlangt werden, nicht für wettbewerbliche Zwecke genutzt werden (vgl. BNetzA, Beschl. v. 11.07.2006 – BK6-06-009, S. 36). Bei der Versorgung von Letztverbrauchern in der Mittelspannungsebene, bei der für eine analoge Anwendung der Vorschriften über die Ersatzversorgung kein Raum ist, setzt die Weitergabe der Informationen hingegen einen (vorherigen) Vertragsschluss mit dem ersatzbeliefernden Versorgungsunternehmen voraus. Das Ziel der informatorischen Entflechtung würde verfehlt, wenn der Netzbetreiber sich – noch dazu in seinen AGBs – vom Netzkunden ermächtigen ließe, wirtschaftlich sensible Informationen an einen bestimmten Energielieferanten weiterzugeben, zu dem weder ein gesetzliches noch ein vertragliches Lieferverhältnis besteht, zumal wenn es sich dabei – wie im Fall von J – um ein assoziiertes Unternehmen handelt. Hierdurch würde das Vertriebsunternehmen unter Ausschaltung von Wettbewerbern in die Lage versetzt, dem Letztverbraucher ein Vertragsangebot zu unterbreiten. In Anbetracht der Bequemlichkeit von Kunden und der guten Verhandlungssituation für einen Anschlussvertrag durch die bereits aufgenommene Belieferung zu dem hohen Ersatzversorgungspreis ergäbe sich hierdurch jedenfalls ein großer Wettbewerbsvorteil (Schneider/Theobald/de Wyl/Thole/Bartsch, a.a.O. Fn. 200). Dies wäre auch durch eine Einwilligung des Letztverbrauchers in die Weitergabe seiner Daten nicht zu rechtfertigen. Die individuelle Einwilligung eines Netzkunden könnte einen Verstoß gegen das Vertraulichkeitsgebot nur dann ausschließen, wenn (alleiniger) Zweck der informationellen Entflechtung der Schutz individueller Kundendaten wäre. Zweck der informationellen Entflechtung ist es aber gerade nicht, den Schutz einzelner Kundendaten sicherzustellen, sondern Informationsvorsprünge des vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens auszuschließen und so zu einem diskriminierungsfreien Netzzugang und unverfälschtem Wettbewerb beizutragen (BerlKommEnR/Säcker/Schönborn, a.a.O. Rn. 32). Jede Offenlegung solcher Informationen muss daher in nicht diskriminierender Weise erfolgen, insbesondere dürfen sie den Wettbewerbern der anderen Geschäftsbereiche des vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens nicht vorenthalten werden (Wiedemann/Ulrich Scholz, Kartellrecht, 4. Aufl. 2020, § 34 Energiewirtschaft Rn. 46).
681.2.3. Vor diesem Hintergrund ist ein Ersatzbelieferungsvertrag zwischen J und der Klägerin nicht zustande gekommen, insbesondere nicht durch die fortgesetzte Stromentnahme nach Zugang der Schreiben von U vom 27.12.2018 (Anl. B 1) und J vom 04.01.2019 (Anl. K 2). Aus dem Umstand, dass die Marktlokation der Klägerin J unberechtigt zugeordnet worden ist, kann im Ergebnis nichts zu ihren Gunsten folgen.
69Eine Realofferte von J durch das bloße Zur-Verfügung-Stellen des entnommenen Stroms schied hier schon deshalb aus, weil die Zuordnung der Marktlokation zum Bilanzkreis von J ohne vorherigen Vertragsschluss unberechtigt war und der Strom daher zivilrechtlich nicht als von ihr geliefert gilt (BGH, a.a.O. Rn. 27).
70Ein konkludenter Vertragsschluss durch die weitere Stromentnahme nach Zugang der vorgenannten Schreiben scheitert unabhängig hiervon daran, dass das Schreiben J’s, von dem die Beklagte selbst sagt, dabei handele es sich nicht um „das eigentliche Angebot“, auch aus der maßgeblichen Sicht der Klägerin nicht zweifelsfrei erkennen ließ, dass allein durch die fortgesetzte Entnahme von Strom an ihrer Marktlokation ohne Weiteres mit J ein – befristeter – Vertrag über die Ersatzbelieferung mit Strom zustande kommen sollte. In dem Schreiben vom 04.01.2019 hat J der Klägerin zwar „die Belieferung mit Strom zu den als Anlage beigefügten Preisen“, d.h. den Preisen gemäß der „Preisregelung EoG (Stand Dezember 2018)“ und unter Hinweis auf die Geltung der Regelungen der StromGVV und ihrer Ergänzenden Vertragsbedingungen ausdrücklich angeboten. Damit beinhaltet das Schreiben die wesentlichen Punkte eines Energieliefervertrages (Belieferung der Marktlokation des jeweiligen Letztverbrauchers mit Strom, Preise, Vertragsbedingungen) und trägt alle Merkmale eines – in dem Schreiben selbst auch so bezeichneten („… Bestandteil unseres Vertragsangebotes“) – Vertragsangebots. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt ein konkludenter Vertragsschluss jedoch dann nicht in Betracht, wenn der Abnehmer einen Stromlieferungsvertrag mit einem anderen Energieversorger geschlossen hat und nicht weiß, dass dieser ihn nicht (mehr) beliefert. Maßgeblich hierfür ist, dass für den Abnehmer in diesen Fällen nach den ihm bekannten oder jedenfalls erkennbaren Umständen nicht ersichtlich ist, dass in der über den Stromzähler erfolgten Stromlieferung eine an ihn gerichtete Realofferte des Versorgungsunternehmens auf Abschluss eines Stromlieferungsvertrags zu sehen ist (BGH, Urt. v. 22.01.2014 – VIII ZR 391/12, NJW 2014, 1951, 1952 Rn. 14 m.w.N.). Für die konkludente Annahme eines ausdrücklichen schriftlichen Vertragsangebots kann jedenfalls im hier vorliegenden Fall nichts anderes gelten.
71Für die Klägerin, die gerade mit Blick auf die Insolvenz der T bereits am 22.12.2018 einen Vertrag über die weitere Belieferung durch die Streithelferin geschlossen hatte, war aufgrund der ihr bekannten Informationen schon nicht zweifelsfrei erkennbar, dass sie – mangels Zuordnung ihrer Marktlokation zu deren Bilanzkreis – ab dem 01.01.2019 nicht mehr von der Streithelferin mit Strom beliefert wurde. Zum einen konnte es sich bei der Mitteilung von U um eine überholte Information handeln, bei der der Vertragsschluss mit der Streithelferin noch nicht berücksichtigt war. Das Schreiben von U an die Klägerin, in dem mitgeteilt wurde, dass U den für sie zuständigen Grundversorger „gemäß den gesetzlichen Regelungen … mit der Übernahme der Ersatzversorgung zum 01.01.2019 beauftragt“ habe, stammt vom 27.12.2018, also noch mehrere Tage vor der vermeintlichen Versorgungslücke. In der Zusammenschau konnte die Klägerin den Schreiben von U und J nicht entnehmen, dass vor dem 01.01.2019 eine Anmeldung ihrer Marktlokation im Bilanzkreis der Streithelferin nicht erfolgt war. Zum anderen konnte die Klägerin zu Recht davon ausgehen, dass eine Grund- und Ersatzversorgung in der Mittelspannungsebene gerade nicht stattfindet, so dass die Mitteilung von U auch sachlich unzutreffend war. Die Mitteilung der Beklagten, sie stelle die Energieversorgung der Klägerin sicher bzw. sie sorge dafür, dass deren Stromversorgung dennoch gewährleistet sei, schloss eine Belieferung durch die Streithelferin jedenfalls nicht aus. Bloße Zweifel genügen für eine Kenntnis der Klägerin nicht. Dem kann die Beklagte nicht mit Erfolg entgegenhalten, weder der U noch J sei eine Unterrichtung der Klägerin über die fehlgeschlagene Anmeldung der Marktlokation zum Bilanzkreis der Streithelferin möglich gewesen, da sie keine Kenntnis von dem Anmeldeversuch gehabt hätten. Entscheidend ist vielmehr die Sicht der Klägerin, aus der heraus es sich bei dem Schreiben vom 04.01.2019 auch um ein konkurrierendes Angebot zum Vertrag mit der Streithelferin handeln konnte.
72Unabhängig davon konnte J aber auch die weitere Stromentnahme der Klägerin an ihrer Marktlokation nicht als konkludente Annahme eines etwa beabsichtigten Angebots auf Abschluss eines Vertrages zu den EoG-Preisen ansehen. Denn sie hatte in dem Schreiben vom 04.01.2019 nicht nur darauf hingewiesen, dass die Klägerin auch zu einem anderen Lieferanten „wechseln“ könne, sondern zugleich selbst Interesse an einem Gespräch über die weitere Energieversorgung der Klägerin bekundet, „um für Sie auch zukünftig ein zuverlässiger Partner zu sein“, verbunden mit der Erklärung: „Gerne unterbreiten wir Ihnen alternativ ein Angebot mit Konditionen für eine längerfristige Stromlieferung.“ Aus der Sicht der Klägerin bestand damit – entsprechend den rechtlichen Gegebenheiten bei Versorgungslücken außerhalb der Niederspannung – die Wahlmöglichkeit, den angebotenen – befristeten – Vertrag oder einen Vertrag mit einem anderen Lieferanten abzuschließen oder ein alternatives, längerfristiges Vertragsangebot von J einzuholen. Bei dieser Sachlage konnte der bloßen weiteren Stromentnahme auch aus der Sicht von J nicht der Erklärungswert einer Annahme des Vertragsangebots zu den – deutlich höheren – EoG-Preisen zukommen.
731.3. Eine ausdrückliche Annahme eines Vertragsangebots zu den im Schreiben vom 04.01.2019 genannten Bedingungen hat das Landgericht zu Recht nicht festgestellt. Das macht die Beklagte auch nicht geltend. Darauf, ob sich die Ablehnung eines Vertragsschlusses mit der Beklagten in den Telefonaten vom 09. oder 10.01.2019 mit den Zeugen L und W nur auf das Angebot vom 09.01.2019 oder auch auf ein Angebot vom 04.01.2019 bezog, kommt es danach ebensowenig an, wie darauf, ob in der Ablehnung zugleich die Anfechtung eines konkludent geschlossenen Ersatzbelieferungsvertrages zu sehen wäre.
742. Ein rechtlicher Grund für die Zahlung der Klägerin ergibt sich entgegen der Auffassung des Landgerichts auch nicht – ganz oder teilweise – aus den §§ 677, 683 S. 1, 670 BGB. Die Beklagte kann dafür, dass sie aufgrund der Zuordnung der Marktlokation der Klägerin zu ihrem Bilanzkreis die dort entnommenen Strommengen beschafft und zur Verfügung gestellt hat, nicht Aufwendungsersatz wegen einer (berechtigten) Geschäftsführung ohne Auftrag für die Klägerin beanspruchen, und zwar weder für den von der Berufung umfassten Zeitraum ab dem 10.01.2019 bis zum 27.01.2019, noch für den Zeitraum vom 01.01.2019 bis 09.01.2019, der Gegenstand der Anschlussberufung ist. Die Beklagte hat damit nämlich schon kein Geschäft der Klägerin geführt.
75Die Klägerin hatte, nachdem sie von der Insolvenz der T erfahren hatte, bereits am 22.12.2018 einen Vertrag mit der Streithelferin über die vorübergehende Weiterbelieferung mit Energie abgeschlossen (Anl. K 1). Die vertragliche Verpflichtung zur Stromlieferung an eine bestimmte Lieferstelle führt dazu, dass die dort entnommene Energie als von der Streithelferin geliefert gilt und deren Bilanzkreis (bzw. Unterbilanzkreis) zuzuschreiben war (vgl. BGH, Beschl. v. 10.05.2022, a.a.O. Rn. 20). Zwar ist die Zuordnung der Entnahmen der Klägerin ab dem 01.01.2019 zum Bilanzkreis der Streithelferin an der fehlgeschlagenen Anmeldung beim Netzbetreiber gescheitert. Die stattdessen von U vorgenommene Zuordnung der Marktlokation der Klägerin zum Bilanzkreis der Beklagten ab dem 01.01.2019 änderte jedoch nichts an den zivilrechtlichen Gegebenheiten, da diese Zuordnung – wie ausgeführt – zu Unrecht erfolgt ist. Diesbezüglich hat, sofern ein bilanzieller Ausgleich – wie hier – nach Ablauf der Fristen für eine Korrektur der Bilanzkreisabrechnung nicht mehr in Betracht kommt, ein bereicherungsrechtlicher Ausgleich zwischen den von dem Zuordnungsfehler betroffenen Elektrizitätsversorgungsunternehmen zu erfolgen (BGH, Beschl. v. 10.05.2022, a.a.O. Rn. 27).
76Da der von der Klägerin entnommene Strom wirtschaftlich nicht der Beklagten zuzuordnen war, fehlt es schon objektiv am Führen eines fremden Geschäfts. Auf die weiteren aufgeworfenen Fragen, insbesondere darauf, ob die (unterbrechungsfreie) weitere Stromversorgung im Interesse und mutmaßlichen Willen der Klägerin lag, kommt es daher schon nicht an.
773. Aus demselben Grund scheidet auch ein bereicherungsrechtlicher Anspruch von J bzw. der Beklagten (§ 812 Abs. 1 S. 1 BGB) gegen die Klägerin aus. Denn diese hat nichts durch Leistung von J oder in sonstiger Weise auf deren Kosten erlangt.
784. Soweit die Beklagte erstinstanzlich hilfsweise geltend gemacht hat, eine Rückforderung des gezahlten Betrages durch die Klägerin sei gemäß § 814 BGB ausgeschlossen, hat das Landgericht den Einwand zu Recht als nicht durchgreifend angesehen. Danach kann das zum Zwecke der Erfüllung einer Verbindlichkeit Geleistete nicht zurückgefordert werden, wenn der Leistende gewusst hat, dass er zur Leistung nicht verpflichtet war. Die Kenntnis des Leistenden ist vom Empfänger zu beweisen (vgl. BeckOK BGB/Wendehorst, a.a.O., § 814 Rn. 15; MüKoBGB/Schwab, 8. Aufl. 2020, BGB § 814 Rn. 23). Das Landgericht hat hierzu zutreffend festgestellt, dass nach der unwiderlegten Darstellung der Klägerin die zuständige Mitarbeiterin der Buchhaltung die Zahlung versehentlich veranlasst hat, weil sie davon ausgegangen ist, dass es sich bei der Beklagten um den neuen vertraglichen Stromlieferanten handelte. Der Rechnungsbetrag befand sich auf einer Zahlungsliste mit rund 100 Rechnungspositionen, und der Geschäftsführer hat den Fehler danach bei der Freigabe der Sammelüberweisung nicht bemerkt. Dies wird mit der Berufung nicht angegriffen.
795. Die Nebenforderungen folgen aus §§ 280, 286, 288 BGB. Mit der Anschlussberufung hat die Klägerin zu Recht nur noch Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz geltend gemacht (§ 288 Abs. 1 S. 2 BGB) und das Urteil nicht angegriffen, soweit das Landgericht die Klage wegen des weitergehenden Zinsanspruchs abgewiesen hat. Da die Hauptforderung in vollem Umfang berechtigt ist, ist auch der Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Kosten aus dem vollen Streitwert begründet.
80III.
81Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 2 Nr. 1, 97 Abs. 1, 101 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
82Die Beschwer der Beklagten liegt über 20.000 €.
83Der Senat lässt die Revision gemäß § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO zu, da die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Netzbetreiber bei Auftreten einer Zuordnungslücke in höheren Spannungsebenen die Marktlokation eines Letztverbrauchers dem Bilanzkreis des Grund- und Ersatzversorgers zuordnen darf, ohne dass zwischen diesem und dem Letztverbraucher ein Ersatzbelieferungsvertrag abgeschlossen ist, höchstrichterlich noch nicht geklärt ist, diese Frage sich über den Einzelfall hinaus in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen kann und deshalb für die Allgemeinheit von besonderer Bedeutung ist.
84Streitwert: 85.872,72 €.