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1. Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerinnen gegen den Beschluss der 1. Vergabekammer des Bundes vom 1. Dezember 2020 (VK 1-90/20) wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin werden den Antragsgegnerinnen auferlegt.
3. Die Antragsgegnerinnen werden gebeten, binnen zwei Wochen zum Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren vorzutragen.
G r ü n d e :
2I.
3Die Antragsgegnerinnen schrieben mit Bekanntmachung vom 18. September 2020 im offenen Verfahren Rabattverträge gemäß § 130a Abs. 8 SGB V für Arzneimittel im generischen Markt für die Zeit vom 1. Juni 2021 bis zum 31. Mai 2023 EU-weit aus (Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union, Bekanntmachungsnummer 2020/S 182-436882). Vorgesehen war die Vergabe von Rabattverträgen für fünf Fachlose im Drei-Partner-Modell, die sich jeweils in acht Gebietslose unterteilen. Vorliegend streitgegenständlich ist das Fachlos …, D.. Dabei entsprach das Gebietslos … dem Gebiet der Antragsgegnerin zu ..., das Gebietslos … dem der Antragsgegnerinnen zu ... und .., das Gebietslos …dem der Antragsgegnerin zu ..., das Gebietslos … dem der Antragsgegnerin zu ..., das Gebietslos … dem der Antragsgegnerin zu ..., das Gebietslos …dem der Antragsgegnerinnen zu ..., ... und ..., das Gebietslos … dem der Antragsgegnerin zu …. und das Gebietslos … dem der Antragsgegnerin zu …. Federführend war die Antragsgegnerin zu ..., die nach Ziffer VI.3. der Bekanntmachung die Ausschreibung im eigenen Namen und im Namen der zehn übrigen Antragsgegnerinnen durchführte.
4Der Preis war nicht das einzige Zuschlagskriterium (Ziffer II.2.5. der Bekanntmachung). Daneben sollten auch qualitative, umweltbezogene und soziale Aspekte in Gestalt von Wirtschaftlichkeitsboni unter anderem für den Nachweis einer geschlossenen Lieferkette in der Europäischen Union, in den GPA-Unterzeichnerstaaten beziehungsweise in der Freihandelszone der Europäischen Union berücksichtigt werden (Ziffer II.2.14. der Bekanntmachung). Nach Abschnitt A.IV.3.2 der in Bezug genommenen Beschaffungsunterlagen sollte der Nachweis der kompletten Wirkstoff-, Bulk- und Blisterproduktion in der Europäischen Union, in den GPA-Unterzeichnerstaaten (Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen, Government Procurement Agreement) beziehungsweise in der Freihandelszone der Europäischen Union zu einer Erhöhung der Gesamtwirtschaftlichkeitsmaßzahl um acht Prozent führen. Das Zuschlagskriterium wird als „vollständig geschlossene EU-Lieferkette“ bezeichnet.
5Die Antragstellerin, deren durch sie im Vergabeverfahren vertretene, in J. produzierende niederländische Schwestergesellschaft B. für das Fachlos …, D., für alle acht Gebietslosen bietet, rügte dieses Lieferkettenkriterium mit Schreiben vom 28. September 2020 als vergaberechtswidrig. Es verstoße gegen das Diskriminierungsverbot, den Grundsatz der Gleichbehandlung und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Es sei unternehmens- und nicht auftragsbezogen, der Produktionsort habe keine Auswirkung auf die Qualität. Zwar könne die Versorgungssicherheit unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein taugliches Kriterium sein, es sei aber nicht ersichtlich, dass die Versorgungssicherheit bei einer Produktion in einem GPA-Unterzeichnerstaat oder einem Staat, mit dem ein Freihandelsabkommen besteht, in höherem Umfang gesichert sei. Diese Rüge haben die Antragsgegnerinnen mit Schreiben vom 8. Oktober 2020 zurückgewiesen.
6Die Antragstellerin beantragte darauf mit Anwaltsschriftsatz vom 23. Oktober 2020, der als Antragsgegner allein die Antragsgegnerin zu 1. nennt, die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens zu dessen Begründung sie vortrug, das Lieferkettenkriterium genüge dem Erfordernis eines Bezugs zu den in Erfüllung des Auftrags konkret zu liefernden Waren nicht. Es sei auch zur Gewährleistung von Versorgungssicherheit, Umwelt- und Sozialstandards ungeeignet, das GPA sehe eine Einhaltung derartiger Standards gar nicht vor. Hingegen sei J. Gründungsmitglied der Internationalen Arbeitsorganisation ILO und Unterzeichnerstaat des Baseler Übereinkommens über die Kontrolle gefährlicher Abfälle. Die Versorgungssicherheit könne nur durch eine Beschränkung der Lieferkette auf möglichst wenige Lieferstaaten gewährleistet werden.
7Die Antragstellerin hat beantragt,
81. die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Ausschreibungsunterlagen des laufenden Vergabeverfahrens „AOK 1 - Zukunft Standort/ Umwelt“ zum Abschluss von wirkstoffbezogenen Rabattverträgen gemäß § 130a Abs. 8 SGB V für den Zeitraum vom 1. Juni 2021 bis zum 31. Mai 2023 so anzupassen, dass das Zuschlagskriterium „Geschlossene Lieferkette in der EU, in den GPA-Unterzeichnerstaaten bzw. in der Freihandelszone der EU“ im Fachlos D. nicht zur Anwendung kommt;
9hilfsweise, der Antragsgegnerin zu untersagen, im laufenden Vergabeverfahren „B.1 1 – Zukunft Standort/Umwelt“ zum Abschluss von wirkstoffbezogenen Rabattverträgen gemäß § 130a Abs. 8 SGB V für den Zeitraum vom 1. Juni 2021 bis zum 31. Mai 2023 für das Fachlos D. einen Zuschlag zu erteilen und ihr aufzugeben, bei fortbestehender Beschaffungsabsicht das Vergabeverfahren insoweit in den Stand vor Versendung der Vergabeunterlagen zurückzuversetzen, diese in Übereinstimmung mit der Rechtsauffassung der Kammer zu überarbeiten und den Interessenten am Auftrag auf dieser Grundlage Gelegenheit zur erneuten Angebotsabgabe zu geben;
102. der Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten der Antragstellerin für ihre zweckentsprechende Rechtsverfolgung aufzuerlegen;
113. auszusprechen, dass die Hinzuziehung von Rechtsanwälten für die Antragstellerin notwendig war.
12Die Antragsgegnerinnen haben beantragt,
131. den Nachprüfungsantrag zurückzuweisen;
142. der Antragstellerin die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten der Antragsgegnerinnen für ihre zweckentsprechende Rechtsverfolgung aufzuerlegen;
153. festzustellen, dass die Hinzuziehung anwaltlicher Verfahrensbevollmächtigter durch die Antragsgegnerinnen notwendig war.
16Die Antragsgegnerinnen haben vorgetragen, der Antrag richte sich ausdrücklich nur gegen die Antragsgegnerin zu 1. und beschränke sich folglich auf das Gebietslos …, C.. Er sei auch unbegründet. Der weit zu verstehende Auftragsbezug erfasse den gesamten Herstellungs- und Produktionszyklus des Arzneimittels. Ihre typisierende Betrachtung knüpfe an eindeutige Rahmenbedingungen an, die den innerhalb der Europäischen Union geltenden Standards entsprächen oder zumindest vergleichbar seien. Auch dienten Lieferketten, bei denen keine signifikanten Handelsbarrieren bestünden, der Versorgungssicherheit, während etwa J. am Anfang der Pandemie ein Exportverbot verhängt habe.
17Die Vergabekammer hat den Antragsgegnerinnen mit Beschluss vom 1. Dezember 2020 die Zuschlagserteilung untersagt und das Vergabeverfahren zurückversetzt. Die fehlerhafte Benennung nur der Antragsgegnerin zu 1. sei unschädlich, dem Nachprüfungsantrag sei zu entnehmen, dass die Antragstellerin die Vergabe bezüglich des Fachloses … insgesamt angreife und sich folglich auch gegen alle Antragsgegnerinnen wende. Das Zuschlagskriterium „Geschlossene EU-Lieferkette“ sei schon nicht objektiv und daher entgegen § 127 Abs. 4 GWB zur Sicherstellung einer willkürfreien Zuschlagserteilung ungeeignet. Dafür seien sowohl die Gruppe der GPA-Unterzeichnerstaaten und der Staaten, die mit der Europäischen Union ein Freihandelsabkommen geschlossen hätten, einerseits und der Drittstaaten anderseits viel zu heterogen. Das GPA-Abkommen sei nicht, die Freihandelsabkommen jedenfalls nicht primär auf die Vereinheitlichung von Sozial- und Umweltstandards gerichtet. Ein gleichwohl vergleichbares Schutzniveau hätten die Antragsgegnerinnen nicht dargetan. Auch die von § 127 Abs. 3 GWB geforderte Auftragsbezogenheit sei nicht gegeben. Die Bestimmung sei im Lichte von Art. 67 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2014/24/EU auszulegen und erfordere einen Zusammenhang mit dem spezifischen Prozess der Herstellung. Die an einem bestimmten Standort allgemein geltenden Sozial- und Umweltstandards gehörten aber nicht zum spezifischen Prozess der Herstellung der ausgeschriebenen Ware. Allgemeine Standards seien von allen an diesem Ort produzierenden Unternehmen einzuhalten und folglich unternehmens- und - anders als etwa die Verpflichtung bei der Herstellung die ILO-Kernarbeitsnormen einzuhalten - nicht auftragsbezogen. Zudem verstoße das Lieferkettenkriterium gegen den in § 97 Abs. 2 GWB normierten allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz, die unterschiedliche Behandlung bestimmter Gruppen von Staaten erlaube keinen objektiv-sachgerechten Vergleich der Angebote.
18Gegen diese Entscheidung haben die Antragsgegnerinnen fristgerecht sofortige Beschwerde eingelegt. Sie tragen vor, der Nachprüfungsantrag sei bereits unzulässig, die Antragstellerin sei selbst nicht Bieterin, sondern habe lediglich die B. vertreten. Eine Vertretungsvollmacht berechtige aber nicht zur Geltendmachung im eigenen Namen. Hinsichtlich der Antragsgegnerinnen zu 2. bis 11. fehle es zudem an einem gegen sie gerichteten Nachprüfungsantrag, dieser sei allein gegen die Antragsgegnerin zu 1. gerichtet gewesen; hieran habe die Antragstellerin auch in ihrer Replik festgehalten. Jedenfalls aber sei der Antrag unbegründet. Das Lieferkettenkriterium sei ein objektives Kriterium. Die dort genannten Staaten böten jedenfalls bei typisierter Betrachtung eine höhere Gewähr für die Einhaltung der angestrebten hohen Umwelt- und Sozialstandards sowie der von Drittstaaten unabhängigeren Arzneimittelversorgung. Andernfalls würde die Europäische Union gegen ihre selbst gesteckten Politikziele verstoßen, wenn sie Freihandelsabkommen mit Staaten schlösse, die keine annährend vergleichbaren rechtlichen Standards gewährleisteten. Auch bestünden im Verhältnis zu diesen Ländern keine signifikanten Handelsbarrieren, was der Versorgungssicherheit diene. Nur das Lieferkettenkriterium sei auch zur Verbesserung der Standards für sie geeignet, eine Entwicklung vom jeweiligen Bieter bei der Produktion zu gewährleistender Umwelt- und Sozialstandards, die später zudem kontrolliert werden müssten, sei von ihnen gar nicht zu leisten. Der Europäische Gerichtshof habe im Übrigen Vorgaben zum Leistungsort gebilligt, um eine Erreichbarkeit zu gewährleisten. Die Einbeziehung der GPA-Unterzeichnerstaaten und der Staaten, mit denen die Europäischen Union Freihandelsabkommen geschlossen habe, sei aus rechtlichen Gründen erfolgt, weil Art. 25 der Richtlinie 2014/24/EU deren Gleichbehandlung gebiete. Dieser enthalte auch nicht lediglich ein Diskriminierungsverbot, sondern sei ein Erlaubnistatbestand für die Ungleichbehandlung von Leistungen aus Drittstaaten. Dies decke sich mit der Intention der Kommission, die Abhängigkeit von Drittländern zu verringern. Auch gestatte Art. 85 der Richtlinie 2014/25/EU ausdrücklich die Zurückweisung von Angeboten, bei denen der Anteil der Erzeugnisse mit Ursprung in Drittländern mehr als 50 Prozent des Gesamtwerts betrage. Ebenso gingen die KommissionsrichtlJ. von der Zulässigkeit des Ausschlusses von Bietern aus Drittstaaten von Vergabeverfahren und der Vergabe an Bieter aus den privilegierten Staaten zur Einhaltung von EU-Vorgaben bei der Erfüllung des Auftrags aus. Das Lieferkettenkriterium sei auch auftragsbezogen. Der Auftragsbezug sei weit zu verstehen, es reiche der Bezug zu irgendeinem Lebenszyklus-Stadium. Dies sei der Fall, weil eine Produktion in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bei typisierender Betrachtung eine höhere Gewähr für die Einhaltung der hohen EU-Standards und eine von Drittstaaten unabhängige Versorgung biete. Aus rechtlichen Gründen habe sie dann die GPA-Unterzeichnerstaaten und die Staaten, mit denen die Europäische Union Freihandelsabkommen geschlossen habe, einbezogen. Drittstaaten müssten demgegenüber gerade nicht gleichbehandelt werden.
19Die Antragsgegnerinnen beantragen,
201. den Beschluss der 1. Vergabekammer des Bundes vom 1. Dezember 2020 (Az. VK 1-90/20) aufzuheben;
212. den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin zurückzuweisen;
223. der Antragstellerin die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragsgegnerinnen sowohl im Verfahren vor der Vergabekammer als auch im Verfahren der sofortigen Beschwerde aufzuerlegen;
234. festzustellen, dass die Hinzuziehung anwaltlicher Verfahrensbevollmächtigter durch die Antragsgegnerinnen sowohl im Verfahren vor der Vergabekammer als auch im Verfahren der sofortigen Beschwerde notwendig war.
24Die Antragstellerin beantragt,
251. die sofortige Beschwerde zurückzuweisen;
262. den Antragsgegnerinnen gesamtschuldnerisch die Kosten des Verfahrens im Verfahren vor der Vergabekammer und die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der jeweils angefallenen notwendigen Auslagen der Antragstellerin aufzuerlegen;
273. auszusprechen, dass die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin sowohl im Verfahren vor der Vergabekammer als auch im Verfahren der sofortigen Beschwerde notwendig war.
28Die Antragstellerin verteidigt die Entscheidung der Vergabekammer. Sie sei berechtigt, das Nachprüfungsverfahren in gewillkürter Prozessstandschaft für die B. zu führen. Diese habe sie hierzu ermächtigt, das D.-Produkt werde in Deutschland von ihr vertrieben. Es sei klar erkennbar gewesen, dass sich ihr Antrag gegen alle elf Antragsgegnerinnen richte, weil sie sich gegen das Zuschlagskriterium der Lieferkette in allen acht Gebietslosen gewendet habe. Ihr Antrag sei auch begründet, das Zuschlagskriterium der geschlossenen Lieferkette verletze die B. in ihren Rechten, da es nicht geeignet sei eine willkürfreie Zuschlagserteilung unter Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes zu ermöglichen. Eine pauschale Besserstellung von Bietern anhand des Ortes ihrer Produktionsstätte diene nicht der Verbesserung der Umwelt- und Sozialstandards, da weder das General Procurement Agreement noch die Mehrzahl der Freihandelsabkommen hierauf gerichtet seien. Umgekehrt rechtfertige eine Produktion in einem Drittstaat nicht den Schluss auf die Nichteinhaltung von Umwelt- und Sozialstandards, in den Werken ihrer Unternehmensgruppe würde diese eingehalten. Auch Art. 25 der Richtlinie 2014/24/EU gestatte eine Schlechterstellung von Drittstaaten nicht, er verbiete lediglich die Diskriminierung der GPA-Unterzeichnerstaaten und der Vertragsstaaten der Freihandelsabkommen. Exportverbote im Rahmen einer globalen Pandemie drohten auch im Verhältnis zu den GPA-Unterzeichnerstaaten oder denen der Freihandelsabkommen. Das Lieferkettenkriterium sei nicht auftragsbezogen. Wenn die Antragsgegnerinnen derartige Standards im Vergabeverfahren berücksichtigen wollen, müssen sie entsprechende Kriterien festlegen.
29Die mit Senatsbeschluss vom 3. März 2021 hinzugezogenen Beigeladenen haben sich nicht geäußert.
30II.
31Die zulässige sofortige Beschwerde der Antragsgegnerinnen ist unbegründet. Die Gewährung eines Wirtschaftlichkeitsbonus für den Nachweis einer geschlossenen Lieferkette in der Europäischen Union, in den GPA-Unterzeichnerstaaten und in der Freihandelszone der Europäischen Union im Rahmen der Ausschreibung von Rabattverträgen gemäß § 130a Abs. 8 SGB V für Arzneimittel im generischen Markt verletzt drittschützende Bestimmungen über das Vergabeverfahren.
321. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist zulässig gegen alle elf Antragsgegnerinnen gerichtet.
33a) Die Antragstellerin ist zur Geltendmachung des gerügten Verstoßes befugt. Gemäß § 160 Abs. 2 GWB ist jedes Unternehmen antragsbefugt, das ein Interesse an dem öffentlichen Auftrag oder der Konzession hat und eine Verletzung in seinen Rechten nach § 97 Abs. 6 durch Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend macht, sofern ihm durch die behauptete Verletzung der Vergabevorschriften ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht.
34Diese Voraussetzung ist in Person der Schwestergesellschaft der Antragstellerin, der B., die sich am Verfahren als Bieterin beteiligt hat, in einem Drittland produziert und nicht für den Zuschlag vorgesehen ist, zweifelsohne erfüllt; anderes vertreten auch die Antragsgegnerinnen nicht.
35Das der B. zustehende Recht kann die Antragstellerin im Wege der Prozessstandschaft im eigenen Namen geltend machen. Die Voraussetzungen einer gewillkürten Prozessstandschaft, eine wirksame Ermächtigung des Prozessstandschafters zur gerichtlichen Verfolgung der Ansprüche des Rechtsinhabers sowie ein eigenes schutzwürdiges Interesse des Ermächtigten an dieser Rechtsverfolgung, das auch durch ein wirtschaftliches Interesse begründet werden kann (BGH, GRUR 1993, 151, 152), sind erfüllt. Analog diesem im Zivilprozessrecht anerkannten Institut ist auch im Vergabenachprüfungsverfahren der Antragsteller befugt, eine Verletzung fremder Bewerber- oder Bieterrechte im eigenen Namen geltend zu machen, sofern er dazu vom Berechtigten ermächtigt worden ist und ein eigenes schutzwürdiges Interesse an der Durchführung des Nachprüfungsverfahrens im eigenen Namen hat (Senatsbeschlüsse vom 27. November 2013, VII-Verg 20/13, NZBau 2014, 121, 122, und vom 18. November 2009, Verg 19/09, BeckRS 2010, 3610; OLG München, Beschluss vom 14. Januar 2015, Verg 15/14, NZBau 2015, 575 Rn. 15).
36Die B. hat die Antragstellerin wirksam zur Geltendmachung ihrer Ansprüche im eigenen Namen ermächtigt. Die Antragsgegnerinnen verkürzen die von ihnen selbst als Anlage BF 12 vorgelegte, der Antragstellerin von der B. für das Vergabe-, das vergaberechtliche Rüge- und das Vergabenachprüfungsverfahren erteilte Vollmacht vom 13. November 2018 unzulässig, wenn sie darauf verweisen, dass das dort verwandte Verb „zu vertreten“ nur zur Geltendmachung im fremden Namen berechtige. Die Erklärung der B. erschöpft sich gerade nicht in der Ermächtigung zur bloßen Vertretung, die verwandte Formulierung lautet vielmehr „zu vertreten und zu repräsentieren“. Das Verb „repräsentieren“ hat nach allgemeinem Sprachgebrauch, von dem in Ermangelung von Anhaltspunkten für ein abweichendes Verständnis auch vorliegend auszugehen ist, die Bedeutung von „an jemandes Stelle treten“ (Duden online). Ein solches An-die-Stelle-des-Berechtigten-treten stellt die gewillkürte Prozessstandschaft dar.
37Im Übrigen wäre selbst bei einem auf die bloße Vertretung beschränkten Aussagegehalt der Erklärung vom 13. November 2018 eine Ermächtigung zur gewillkürten Prozessstandschaft vorliegend zu bejahen. Die Ermächtigung kann formlos und auch durch konkludentes Handeln erteilt werden (BGH, GRUR 2008, 1108 Rn. 52). Da nach der Lebenserfahrung davon auszugehen ist, dass die B. um das Agieren der Antragstellerin, ihrer Schwestergesellschaft, im Nachprüfungsverfahren weiß, läge jedenfalls in der Duldung dieses Handelns eine konkludente Erweiterung der erteilten Vertretungsvollmacht zur Ermächtigung zur gewillkürten Prozessstandschaft.
38Die Antragstellerin hat auch ein eigenes schutzwürdiges Interesse an der Durchführung des Nachprüfungsverfahrens im eigenen Namen. Das von der B. hergestellte, vergabegegenständliche D.-Produkt wird in Deutschland von der Antragstellerin vertrieben.
39b) Das Formerfordernis des § 161 Abs. 2 GWB, dass die Begründung des Nachprüfungsantrags den Antragsgegner bezeichnen muss, ist in Bezug auf alle elf Antragsgegnerinnen gewahrt. Dass die Antragsschrift im Nachprüfungsverfahren vom 23. Oktober 2020 allein die Antragsgegnerin zu 1. nennt, ist unschädlich.
40Eine falsche Bezeichnung des Antragstellers schadet dann nicht, wenn klar erkennbar ist, wer als der eigentliche Adressat des Antrags gemeint ist. In diesen Fällen kann die Vergabekammer trotz anders lautenden Nachprüfungsantrags den eigentlichen Auftraggeber als Beteiligten benennen und das Rubrum entsprechend berichtigen. Dies gilt bei einer fehlerhaften Bezeichnung des Antragsgegners vor allem dann, wenn sich der Nachprüfungsantrag gegen den Vertreter statt gegen den vertretenen Antragsgegner richtet, aber nach den Umständen die Stellung als Vertreter erkennbar war und der Vertreter prozessführungsbefugt ist (Senatsbeschluss vom 16. Oktober 2019, VII-Verg 13/19, NZBau 2020, 670 Rn. 30, Rn. 31). Wird - wie vorliegend - mit dem Vertreter zugleich ein und zwar der erste von mehreren Streitgenossen genannt, kann zudem auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Bezeichnung des Rechtsmittelgegners zurückgegriffen werden, wonach sich in solchen Fallgestaltungen das Rechtsmittel im Zweifel gegen die gesamte angefochtene Entscheidung und somit gegen alle gegnerischen Streitgenossen richtet, es sei denn, die Rechtsmittelschrift lässt eine Beschränkung der Anfechtung erkennen (BGH, NJW-RR 2019, 640 Rn. 9).
41Vorliegend spricht nichts für eine Beschränkung des Nachprüfungsantrags auf die Antragsgegnerin zu 1. und damit auf das dieser in Ziffer II.2.4. der Ausschreibung zugewiesene Gebietslos ... Die B., als deren Prozessstandschafterin die Antragstellerin handelt, hat für alle acht Gebietslose geboten, das als vergaberechtswidrig gerügte Lieferkettenkriterium betrifft die gesamte Ausschreibung. Ein Grund für eine Beschränkung auf die Antragsgegnerin zu 1. ist vor diesem Hintergrund weder ersichtlich noch der Antragsbegründung zu entnehmen. Dies gilt auch, soweit die Antragstellerin in ihrer Replik vom 11. November 2020 nochmals allein die Antragsgegnerin zu 1. als Antragsgegnerin bezeichnet, da sie insoweit weiter ausführt, diese handele nicht nur im eigenen Namen, sondern auch im Namen der weiteren zehn Allgemeinen Ortskrankenkassen. Insofern liegt eine Bezeichnung des Vertreters vor, die - wie eingangs ausgeführt - in eine Bezeichnung der Vertretenen umzudeuten ist.
422. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist auch begründet. Die Gewährung eines Wirtschaftlichkeitsbonus für den Nachweis einer geschlossenen Lieferkette in der Europäischen Union, in den GPA-Unterzeichnerstaaten und in der Freihandelszone der Europäischen Union im Rahmen der Ausschreibung von Rabattverträgen gemäß § 130a Abs. 8 SGB V für Arzneimittel im generischen Markt verstößt jedenfalls gegen den in § 97 Abs. 2 GWB normierten Grundsatz der Gleichbehandlung der Bieter und gegen das in § 127 Abs. 4 Satz 1 GWG geregelte Erfordernis objektiver Zuschlagskriterien und verletzt damit drittschützende Bestimmungen über das Vergabeverfahren nach § 97 Abs. 6 GWB.
43a) Das Lieferkettenkriterium verstößt gegen den in § 97 Abs. 2 GWB normierten Grundsatz, dass die Teilnehmer an einem Vergabeverfahren gleich zu behandeln sind, es sei denn, eine Ungleichbehandlung ist aufgrund dieses Gesetzes ausdrücklich geboten oder gestattet. Der Zuschlag ist gemäß § 127 Abs. 1 GWB auf das wirtschaftlichste Angebot zu erteilen.
44Der Grundsatz der Gleichbehandlung der Bieter, der die Entwicklung eines gesunden und effektiven Wettbewerbs zwischen den sich um einen öffentlichen Auftrag bewerbenden Unternehmen fördern soll, gebietet, dass alle Bieter bei der Abfassung ihrer Angebote die gleichen Chancen haben, was voraussetzt, dass die Angebote aller Wettbewerber den gleichen Bedingungen unterworfen sein müssen (EuGH, Urteil vom 24. Mai 2016, C-396/14, NZBau 2016, 506 Rn. 38 - MT Højgaard).
45aa) Vor diesem Hintergrund begegnet eine Differenzierung nach Herkunftsstaaten, bei denen Bieter, die in bestimmten Herkunftsstaaten produzieren, einen Wirtschaftlichkeitsbonus erhalten, der anderen Bietern allein wegen ihrer Fertigung in einem nicht privilegierten Staat vorenthalten wird, grundlegenden Bedenken, weil diese Bieter nicht den gleichen Bedingungen unterworfen sind. Eine Ungleichbehandlung allein wegen des Herkunftsstaates gestatten - von nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen - weder das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen noch die für dessen Auslegung relevanten europäischen RichtlJ..
46(1) Der von den Antragsgegnerinnen insoweit angeführte Art. 25 der Richtlinie 2014/ 24/EU über die öffentliche Auftragsvergabe (Vergaberichtlinie) beinhaltet lediglich ein Diskriminierungsverbot in Bezug auf Bieter aus den GPA-Unterzeichnerstaaten und aus der Freihandelszone der Europäischen Union, ein Recht zur Ungleichbehandlung von Bietern aus Drittstaaten gewährt er nicht. Vor dem Hintergrund des in § 97 Abs. 2 GWB normierten Grundsatzes, der Ausdruck des europarechtlichen allgemeinen Gleichheitssatzes ist (Ziekow in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl. 2020, § 97 Rn. 11), dass jede Ungleichbehandlung eines Teilnehmers am Vergabeverfahren verboten ist, soweit diese nicht ausdrücklich gesetzlich gestattet ist, also der Normierung eines generellen Verbots mit einem allein dem Gesetzgeber vorbehaltenen Erlaubnisvorbehalt, spricht hierfür schon die allein auf den Schutz der Bieter aus den privilegierten Staaten gerichtete Formulierung der Norm. Dass Art. 25 der Vergaberichtlinie die Diskriminierung von Bietern aus Drittstaaten gerade nicht gestattet, folgt zudem eindeutig aus dem Vergleich mit Art. 85 Abs. 2 Unterabs. 1 der die Vergabe von Aufträgen im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste regelnden Sektorenrichtlinie 2014/ 25/EU.
47Danach kann im Hinblick auf die Vergabe eines Lieferauftrags ein Angebot zurückgewiesen werden, bei dem der Anteil der Erzeugnisse mit Ursprung in Drittländern mehr als 50 Prozent des Gesamtwertes der in dem Angebot erhaltenen Erzeugnisse beträgt. Dabei definiert Abs. 1 diese Drittländer als diejenigen, mit denen die Union keine Übereinkunft in einem multilateralen oder bilateralen Rahmen geschlossen hat, durch die ein tatsächlicher Zugang der Unternehmen der Union zu den Märkten dieser Länder unter vergleichbaren Bedingungen gewährleistet wird. Die Länder, die den Unternehmen der Union Zugang zu ihren Märkten unter vergleichbaren Bedingungen gewähren, sind die, deren Unternehmen im Gegenzug auch die Europäische Union Zugang zu ihren Märkten garantiert, also die, deren Diskriminierung Art. 25 der Vergaberichtlinie verbietet. Art. 85 Abs. 2 Unterabs. 1 der Sektorenrichtlinie bezieht sich folglich allein auf Angebote mit Erzeugnissen aus den Drittländern, die durch Art. 25 der Vergaberichtlinie nicht geschützt sind.
48Vor diesem Hintergrund ist für ein dahingehendes Verständnis, Art. 25 der Vergaberichtlinie gestatte über seinen Wortlaut hinaus eine Ungleichbehandlung von Bietern aus Drittstaaten, kein Raum. Wäre eine Zurückweisung von Angeboten von Bietern mit Erzeugnissen aus Drittstaaten bereits durch Art. 25 der Richtlinie 2014/24/EU allgemein gestattet, bedürfte es einer Regelung für die Zurückweisung von Angeboten mit Erzeugnissen aus diesen Staaten für den Bereich der Vergabe von Aufträgen im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste nicht. Art. 85 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/25/EU würde bei einem solchen Verständnis eine Beschränkung eines umfassenden Zurückweisungsrechts aus Art. 25 der Vergaberichtlinie auf solche Angebote beinhalten, bei denen der Anteil der Erzeugnisse mit Ursprung in Drittländern mehr als 50 Prozent des Gesamtwertes der in dem Angebot erhaltenen Erzeugnisse beträgt. Damit wären öffentlichen Auftraggeber ausgerechnet im besonders vergabesensiblen Bereich der Grundversorgung der Bevölkerung mit Wasser-, Energie- und Postdiensten in stärkerem Maße verpflichtet, Angebote mit Erzeugnissen aus Drittstaaten zu berücksichtigen, als im Bereich allgemeiner Vergaben. Ein solches, allen Auslegungsgrundsätzen widersprechendes Normverständnis scheidet aus.
49Vielmehr gestattet Art. 85 Abs. 2 Unterabs. 1 der Sektorenrichtlinie 2014/25/EU über seinen unmittelbaren Regelungsgehalt hinaus den Rückschluss, dass die Zurückweisung eines Angebots von Erzeugnissen oder eines Bieters aus einem Drittstaat generell unzulässig ist, wenn und soweit nicht eine Norm diese ausdrücklich gestattet. Eine Rechtslage, die der in § 97 Abs. 2 GWB normierten entspricht. Könnten Angebote mit einem signifikanten Erzeugnisanteil aus Drittstaaten ohnehin zurückgewiesen werden, bedürfte es Art. 85 Abs. 2 Unterabs. 1 der Sektorenrichtlinie nicht.
50(2) Der Umstand, dass die Europäische Union in Bezug auf die nicht durch Art. 25 der Vergaberichtlinie 2014/24/EU privilegierten Drittstaaten - Art. 25 der Vergaberichtlinie setzt im Grunde nur um, wozu die Europäische Union aufgrund der mit diesen privilegierten Staaten bestehenden völkerrechtlichen Verträgen ohnehin verpflichtet ist - weitgehend frei weitere Ausschlusstatbestände schaffen könnte, gibt den einzelnen öffentlichen Auftraggebern nicht das Recht, Bieter aus diesen Drittstaaten auch dann auszuschließen, wenn der europäische Gesetzgeber einen solchen Ausschlusstatbestand nicht oder noch nicht geschaffen hat.
51Nichts anderes ist den von den Antragsgegnerinnen in Bezug genommenen Textpassage auf Seite 46 der LeitlJ. der Europäischen Kommission vom 13. August 2019 zu entnehmen; diese beziehen sich allein auf das Recht der Union, den Ausschluss von Bietern aus diesen Drittstaaten zu normieren.
52Bisher kennt das Europäische Vergaberecht keine generellen geographischen Einschränkungen für die Beteiligung an Vergabeverfahren. Der Zugang zu Vergabeverfahren für Unternehmen aus Drittstaaten oder Unternehmen mit Erzeugnissen aus Drittstaaten wird als gegeben angesehen. Dies folgt gerade aus den angeführten Überlegungen der Kommission, ob der Zugang zum öffentlichen Beschaffungsmarkt der Europäischen Union für Unternehmen aus Drittländern zu begrenzen ist. Bis zur Verabschiedung dieser Verordnung bleibt es aber dabei, dass jedes interessierte Unternehmen sich unabhängig etwaiger geographischer Einschränkungen an einem EU-Vergabeverfahren beteiligen kann (Senatsbeschluss vom 31. Mai 2017, VII-Verg 36/16, NZBau 2017, 623 Rn. 25).
53Soweit und solange eine gesetzliche Normierung einer Zugangsbeschränkung nicht erfolgt ist, dürfen öffentliche Auftraggeber Bieter aus diesen Drittstaaten nicht allein deswegen ausschließen. Für die zu Nachteilen im Vergabeverfahren führende Verweigerung eines Wirtschaftlichkeitsbonus für Bieter aus diesen Staaten gilt in Ermangelung einer diesbezüglichen Regelung nichts anderes.
54bb) Die mit der Gewährung eines Wirtschaftlichkeitsbonus für den Nachweis einer geschlossenen Lieferkette in der Europäischen Union, in den GPA-Unterzeichnerstaaten und in der Freihandelszone der Europäischen Union einhergehende Ungleichbehandlung von in Drittstaaten produzierenden Bietern kann auch nicht als Mittel zur Erreichung europäischer Umwelt- und Sozialstandards gerechtfertigt werden.
55Zwar steht der Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß § 97 Abs. 2 i.V.m. § 127 Abs. 1 GWB der Berücksichtigung umweltbezogener oder sozialer Aspekte nicht entgegen, die Festlegung im Rahmen des ausgeschriebenen Auftrags einzuhaltender Umwelt- und Sozialstandards ist als solche vergaberechtskonform. Nach § 97 Abs. 3 GWB werden bei der Vergabe neben Aspekten der Qualität und der Innovation auch soziale und umweltbezogene Aspekte nach Maßgabe des Vergaberechts berücksichtigt. Gemäß § 127 Abs. 1 Satz 4 GWB, § 58 Nr. 2 VgV können bei der Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebots auch qualitative, umweltbezogene oder soziale Aspekte berücksichtigt werden.
56Bei der Definition dieser Zuschlagskriterien ist der Auftraggeber im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben grundsätzlich frei. Es ist Ausdruck des Bestimmungsrechts des Auftraggebers, die Kriterien für die Zuschlagserteilung zu bestimmen. Er kann festlegen, worauf es ihm bei dem zu vergebenden Auftrag ankommt und was er als wirtschaftlich ansieht. Dem Bestimmungsrecht des öffentlichen Auftraggebers unterliegen sowohl die Kriterien, anhand derer die Angebote bewertet werden, als auch die Methode, wie ein Wertungsergebnis ermittelt wird. Hierbei steht dem Auftraggeber ein großer Ermessensspielraum zu (EuGH, Urteil vom 26. März 2015, C-601/13, Rn. 28 - Ambisig; Senatsbeschlüsse vom 14. Dezember 2016, VII-Verg 15/16, 3. März 2010, VII-Verg 48/09, 5. Mai 2008, VII-Verg 5/08 und 7. Mai 2005, VII-Verg 16/05). Die Kontrolle durch die Vergabenachprüfungsinstanzen hat sich dabei ähnlich wie bei der Ermessenkontrolle darauf zu beschränken, ob ein Zusammenhang mit dem Auftragsgegenstand gegeben ist und kein offensichtlicher Beurteilungsfehler oder ein Ermessensfehlgebrauch vorliegen. Das Bestimmungsrecht des Auftraggebers unterliegt nur den Schranken, die sich - unmittelbar oder mittelbar - aus den vergaberechtlichen Prinzipien sowie aus dem Zweck, dem die Festlegung von Wertungskriterien dient, ergeben (Senatsbeschlüsse vom 3. März 2010, VII-Verg 48/09 und 8. Februar 2017, VII-Verg 31/16 m.w.Nw.).
57Die Antragsgegnerinnen hätten folglich im Rahmen ihres Bestimmungsrechts bei der Auftragsausführung einzuhaltende Umwelt- und Sozialstandards definieren dürfen, was aber nur für Teilbereiche wie etwa die vorliegend nicht beschwerdegegenständlichen Produktionsabwässer erfolgt ist. Nur mittelbar erschließt sich, dass auch im Übrigen mit den in der Europäischen Union geltenden vergleichbare Umwelt- und Sozialstandards angestrebt und mit dem streitgegenständlichen Wirtschaftlichkeitsbonus honoriert werden sollen. Insgesamt könnte bereits fraglich sein, ob die Antragsgegnerinnen die genannten Kriterien überhaupt hinreichend bestimmt formuliert haben.
58Dies kann jedoch letztendlich dahinstehen, da das Lieferkettenkriterium wegen der Heterogenität der privilegierten Staatengruppen zur Gewährleistung dieser Standards ohnehin ungeeignet ist, insoweit kann auf die nachstehenden Ausführungen zum Verstoß gegen das Gebot objektiver Zuschlagskriterien unter 2.b) verwiesen werden.
59cc) Die Gewährung eines Wirtschaftlichkeitsbonus für den Nachweis einer geschlossenen Lieferkette in der Europäischen Union, in den GPA-Unterzeichnerstaaten und in der Freihandelszone der Europäischen Union kann auch nicht als Mittel zur Erhöhung der Versorgungssicherheit gerechtfertigt werden, weil die damit einhergehende Schlechterstellung von in Drittstaaten produzierenden Bietern unangemessen ist.
60(1) Zwar ist auch die Versorgungssicherheit ein sozialer Aspekt, dessen Berücksichtigung folglich nach § 97 Abs. 2 i.V.m. § 127 Abs. 1 GWB mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz in Einklang steht. Die Versorgungssicherheit ist bei der Ausschreibung von Leistungen, die das Leben und die Gesundheit von Personen schützen sollen, ein legitimes Ziel, weshalb sie zu den Kriterien gehören kann, die bei der Ermittlung des wirtschaftlich günstigsten Angebots zu berücksichtigen sind. Soweit dies zur Erreichung des angestrebten Ziels angemessen ist, kann die Ausschreibung daher Anforderungen an den Produktionsort definieren, etwa indem sie eine diversifizierte eigene Produktion nahe am Verbrauchsort vorsieht (EuGH, Urteil vom 27. Oktober 2005, C-234/03, NZBau 2006, 189 Rn. 61 - Contse SA u.a./ Insalud). Diese Vorgabe muss allerdings als zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet erscheinen (EuGH a. a. O. Rn. 62), eine nur bedingte Eignung genügt nicht (Ziekow in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl. 2020, § 127 Rn. 23). Auch darf das angestrebte Ziel nicht durch Mittel erreichbar sein, die den freien Dienstleistungsverkehr weniger beschränken, wie etwa durch Vorgabe zur Lagehaltung in der Nähe des Versorgungsorts oder die Privilegierung einer solchen (EuGH a. a. O. Rn. 67).
61(2) Diesen Anforderungen genügt das undifferenziert die Gesamtheit der Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft, die GPA-Unterzeichnerstaaten und die Staaten der Freihandelszone der Europäischen Union privilegierende Lieferkettenkriterium nicht. Die von den Antragsgegnerinnen für sich reklamierte typisierende Betrachtung würde vorsetzen, dass bei der Produktion in den vorgenannten Staaten die Sicherheit der Versorgung mit den ausgeschriebenen Arzneimitteln typischerweise, also bei der weit überwiegenden Zahl der Staaten in höherem Maße gewährleistet wäre, als bei einer Herstellung in für die Arzneimittelproduktion typischen Drittstaaten wie J. oder D.1. Derartiges haben aber weder die Antragsgegnerinnen dargetan, noch ist dies sonst zu erkennen.
62Ein verkehrstechnischer Vorteil ist nicht gegeben. Die zu diesen Staatengruppen gehörenden Länder wie Taiwan, Peru oder Südafrika sind von den Versorgungsorten weiter entfernt und jedenfalls teilweise verkehrstechnisch mit diesen schlechter vernetzt, als bedeutende Arzneimittelerzeugerdrittstaaten wie D.1 und J.. Darauf berufen sich auch die Antragsgegnerinnen nicht.
63Es ist aber auch nicht ersichtlich, dass durch die mit den GPA-Unterzeichnerstaaten und den Staaten der Freihandelszone der Europäischen Union bestehenden Abkommen die Gefahr von exportbeschränkenden Maßnahmen sinkt. Der Regelungsgehalt des Übereinkommens über das öffentliche Beschaffungswesen (Government Procurement Agreement) zielt auf die wechselseitige Gewährung eines privilegierten Zugangs zu den jeweiligen Beschaffungsmärkten der Unterzeichnerstaaten, Regelungen zu Exportverboten oder eine sonst wie geartete Verpflichtung zur Unterlassung von Ausfuhrbeschränkungen gegenüber eigenen Unternehmen bestehen nicht. Die Freihandelsabkommen können zwar auch Bestimmungen zur Verhinderung von Exportverboten enthalten, gerade Medizinprodukte sind jedoch in der Regel ausgenommen. Auch die Antragsgegnerinnen haben kein einziges Abkommen aufzuzeigen vermocht, das exportbeschränkende Maßnahmen im Arzneimittelbereich ausschließt.
64Dass die Gefahr einer Verhängung von Exportverboten auch im Verhältnis zu den GPA-Unterzeichnerstaaten und den Staaten der Freihandelszone der Europäischen Union eine reelle ist, hat die Coronapandemie gezeigt. So haben etwa die GPA-Unterzeichnerstaaten Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Vereinigte Staaten von Amerika eine vorrangige Erfüllung der mit ihnen bestehenden Liefervereinbarungen gegenüber den auf ihren Territorien ansässigen Impfstoffproduzenten durchgesetzt. Einen signifikanten Unterschied in der Krisenfestigkeit des Arzneimittelhandels zwischen den GPA-Unterzeichnerstaaten und den Staaten der Freihandelszone der Europäischen Union einerseits und bedeutenden Arzneimittelerzeugerdrittstaaten wie D.1 und J. anderseits haben auch die Antragsgegnerinnen daher nicht darzulegen vermocht.
65(3) Das Lieferkettenkriterium kann sogar zu einer Gefährdung der Versorgungssicherheit führen. Es besteht die Gefahr, dass Beschränkungen ein und desselben GPA-Unterzeichnerstaats oder Staats der Freihandelszone der Europäischen Union, beispielsweise der bedeutende Wirkstoffproduzent Taiwan, zum Ausfall aller drei bezuschlagten Partner führt, weil sie jeweils diesen Staat in ihrer Lieferkette haben. So wird etwa der Wirkstoff für das im Parallelverfahren VII-Verg 54/20 streitgegenständliche Fachlos …, Roxithromycin, nur von fünf Herstellern produziert, von denen je zwei in J. und D.1 und lediglich einer in dem privilegierten GPA-Staat Taiwan ansässig ist. Gerade vor dem Hintergrund des angespannten Verhältnisses zwischen Taiwan und D.1 besteht hier eine durchaus reelle Gefahr von Versorgungsschwierigkeiten.
66(4) Auch wenn es in Ermangelung schon der Geeignetheit letztendlich nicht darauf ankommt, steht einer Verhältnismäßigkeit des Lieferkettenkriteriums zudem entgegen, dass mildere Mittel als die pauschale Deprivilegierung aller in Drittstaaten produzierender Bieter existieren. So könnten die Antragsgegnerinnen den Bietern eine versorgungsortnahe Lagerhaltung vorgeben oder eine solche durch einen Wirtschaftlichkeitsbonus privilegieren.
67b) Eine Unterscheidung nach GPA-Unterzeichnerstaaten und Staaten der Freihandelszone der Europäischen Union einerseits und bedeutenden Arzneimittelerzeugerdrittstaaten wie D.1 und J. anderseits genügt auch dem Gebot objektiver Zuschlagskriterien nicht.
68Nach § 127 Abs. 4 Satz 1 GWB müssen die Zuschlagskriterien so festgelegt und bestimmt sein, dass die Möglichkeit eines wirksamen Wettbewerbs gewährleistet wird, der Zuschlag nicht willkürlich erteilt werden kann und eine wirksame Überprüfung möglich ist, ob und inwieweit die Angebote die Zuschlagskriterien erfüllen. Dies setzt eine Vergabe aufgrund objektiver Zuschlagskriterien voraus, was gewährleistet, dass der Vergleich und die Bewertung der Angebote in objektiver Weise erfolgt und somit unter Bedingungen eines wirksamen Wettbewerbs (EuGH, Urteil vom 10. Mai 2012, C-368/10, NZBau 2012, 445 Rn. 87 - Havelaar); ein objektiver Vergleich des relativen Werts der Angebote muss sichergestellt sein (Erwägungsgrund 90 zur Vergaberichtlinie 2014/24/EU).
69Eine Differenzierung nach Produktionsstaaten stellt, wie bereits vorstehend unter 2.a.aa) ausgeführt, für sich genommen kein zulässiges Zuschlagskriterium dar. Eine Bevorzugung von Bietern, die ausschließlich in den Staaten der Europäischen Union, den GPA-Unterzeichnerstaaten und/oder in den Staaten der Freihandelszone der Europäischen Union produzieren, taugt aber auch nicht zur Gewährleistung objektiver Umwelt- und Sozialstandards. Hierfür ist diese Staatengruppe viel zu heterogen.
70So hat etwa der GPA-Unterzeichnerstaat USA die Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über die Vereinigungsfreiheit und das Recht zu Kollektivhandlungen nicht ratifiziert (Harings/Jürgens, Die Auswirkungen des Lieferkettensorgfaltspflichtgesetzes auf die Transportwirtschaft, RdTW 2021, 297 Rn. 5). Auch dass Staaten wie Armenien, Algerien, Ägypten, Jordanien, Libanon, Marokko, Chile, Kolumbien, Guatemala oder Tunesien vergleichbare Umwelt- und Sozialstandards gewährleisten, wie die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, ist nicht ersichtlich. Die Antragstellerin im Parallelverfahren VII-Verg 55/20 hat auf die Ausarbeitung der Unterabteilung Europa, Fachabteilung Europa, des Deutschen Bundestags von 2016 verwiesen, wonach etwa die Abkommen mit Algerien, Ägypten, Jordanien, Libanon, Marokko und Tunesien, aber etwa auch mit der Türkei keinerlei Vorgaben zu Umwelt- oder Arbeitsschutzstandards enthalten.
71Ein allgemeiner Verweis auf die Politikziele der Union vermag konkreten Sachvortrag zu diesbezüglichen Regelungen in den Abkommen nicht zu ersetzen. Vor diesem Hintergrund den GPA-Unterzeichnerstaaten und den Staaten der Freihandelszone der Europäischen Union im Rahmen einer „typisierenden Betrachtung“ gleichwohl die Einhaltung mit den in der Europäischen Union vergleichbare Umwelt- und Sozialstandards zu attestieren, würde dem Erfordernis eines objektiven Zuschlagskriteriums zur Vermeidung willkürlicher Zuschlagsentscheidung nicht gerecht.
72Im Hinblick auf die Untauglichkeit einer Bevorzugung von Bietern, die ausschließlich in den Staaten der Europäischen Union, den GPA-Unterzeichnerstaaten und/oder in den Staaten der Freihandelszone der Europäischen Union produzieren, zur Gewährleistung des Zuschlagskriteriums Versorgungssicherheit, kann auf die vorstehenden Ausführungen zu a.cc) verwiesen werden. Jenseits des Fehlens rechtlicher Vorgaben zur Unterlassung exportbeschränkender Maßnahmen erschließt sich auch rein tatsächlich nicht, weshalb etwa bei einem in Hongkong ansässigen Produzenten die Versorgung in höherem Maße gesichert sein soll, als bei einem in D.1 ansässigen, oder weshalb der vor dem Zerfall staatlicher Strukturen stehende Libanon die Belieferung mit Medikamenten eher gewährleistet, als J..
73c) Ob die die Gewährung eines Wirtschaftlichkeitsbonus für den Nachweis einer geschlossenen Lieferkette in der Europäischen Union, in den GPA-Unterzeichnerstaaten und in der Freihandelszone der Europäischen Union auch gegen das Erfordernis der Auftragsbezogenheit des Zuschlagskriteriums verstößt, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen.
74III.
75Die Entscheidung bezüglich der im Beschwerdeverfahren entstandenen Kosten beruht auf § 175 Abs. 2 GWB i.V.m. § 71 GWB. Nach § 71 Satz 2 Alt. 1 GWB haben die Antragsgegnerinnen die Kosten ihres unbegründeten Rechtsmittels zu tragen. Die Notwendigkeit der Hinzuziehung von Verfahrensbevollmächtigten wegen der Schwierigkeiten des Sachverhalts gemäß § 182 Abs. 4 Satz 4 GWB i.V.m. § 80 Abs. 2 VwVfG hat bereits die Vergabekammer bejaht, für das Beschwerdeverfahren folgt diese unmittelbar aus § 172 Abs. 3 Satz 1 GWB. Eine Entscheidung über die notwendigen Auslagen der Beigeladenen ist nicht veranlasst, diese sind nur dann kostenrechtlich wie der Antragsteller oder Antragsgegner eines Nachprüfungsverfahrens zu behandeln, wenn sie die durch die Beiladung begründete Stellung im Beschwerdeverfahren auch nutzt, indem sie sich an diesem Verfahren beteiligen (BGH, Beschluss vom 26. September 2006, X ZB 14/06, NZBau 2006, 800 Rn. 63).
76Die noch zu treffende Entscheidung über die Festsetzung des Gegenstandswerts für das Beschwerdeverfahren bleibt einem gesonderten Beschluss nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten vorbehalten.