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1. Der Beschluss der Vergabekammer Rheinland vom 15. Oktober 2020 (VK 54/2019-L) wird aufgehoben, soweit die Antragsgegnerin verpflichtet worden ist, den Zuschlag auf das Angebot der Antragstellerin zu erteilen.
2. Im Übrigen werden die sofortigen Beschwerden der Antragsgegnerin und der Beigeladenen gegen den Beschluss der Vergabekammer Rheinland vom 15. Oktober 2020 (VK 54/2019-L) mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Antragsgegnerin (nicht dem Antragsteller) untersagt wird, den Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen zu erteilen.
3. Von den Kosten des Beschwerdeverfahrens und den außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin tragen die Antragstellerin 20 % und die Antragsgegnerin und die Beigeladene jeweils 40 %. Die Antragstellerin trägt von den außergerichtlichen Kosten der Antragsgegnerin und der Beigeladenen jeweils 20 %. Im Übrigen trägt jeder Beteiligte seine Kosten selbst.
4. Der Wert für das Beschwerdeverfahren wird festgesetzt auf bis € 185.000,00.
G r ü n d e
2I.
3Die Antragsgegnerin schrieb mit Auftragsbekanntmachung vom 30. September 2019 (Supplement zum Amtsblatt der EU, Bekanntmachungsnr.: 2019/S 188-457494, berichtigt durch Bekanntmachungsnr.: 2019/S 208-508495) einen Auftrag für Gebäudeinnenreinigungen in verschiedenen Hochschulgebäuden in mehreren Losen im offenen Verfahren EU-weit aus. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist Los 1 betreffend die Gebäude L, M, LT und verschiedene Räume in den Gebäuden BA und ME in der Lotharstraße 55-65 sowie in der Mülheimerstraße 1-21 in Duisburg über eine Laufzeit von zwei Jahren mit der Möglichkeit der Vertragsverlängerung um weitere zwei Jahre.
4Einziges Zuschlagskriterium ist der Preis (Ziff. II.2.5 der Bekanntmachung). Die Antragsgegnerin gab in den Vergabeunterlagen die zu reinigenden Flächen, die Reinigungsleistung je Stunde, die Stunden je Ausführung sowie die jährliche Reinigungshäufigkeit vor, so dass die Bieterunternehmen in ihren Angeboten lediglich einen Stundenverrechnungssatz anzubieten hatten.
5Die Antragsgegnerin legte für alle Lose einheitliche Anforderungen für die technische und berufliche Leistungsfähigkeit fest und verlangte in Ziff. III.1.3 der Bekanntmachung unter anderem die Vorlage von drei Referenzen:
6„Auflistung und kurze Beschreibung der Eignungskriterien:
71) […]
82) Vergleichbare Referenzprojekte (die am ehesten der Größenordnung dieser Ausschreibung entsprechen) innerhalb der letzten 3 abgeschlossenen Geschäftsjahre unter Angabe des Projektumfangs (eingesetztes Personal: Projektleiter und Stellvertreter, Jahresreinigungsfläche und Rechnungswert), Ausführungszeiten und Angabe des Auftragnehmers mit Ansprechpartner nebst Telefonnummer)
93) […]“
10Bis zum Ende der Angebotsfrist gaben für Los 1 drei Bieterunternehmen, darunter die Antragstellerin und die Beigeladene, ein Angebot ab. Die Beigeladene bot den niedrigsten Preis.
11Die Antragsgegnerin stellte nach formaler Prüfung der Angebote fest, dass im Angebot der Beigeladenen „Angaben zum eingesetzten Personal und zur Jahresreinigungsfläche (nur Grundfläche angegeben)“ fehlten und forderte die entsprechenden Unterlagen am 13. November 2019 von der Beigeladenen nach. Dieser Aufforderung leistete die Beigeladene Folge.
12Mit Schreiben vom 28. November 2019 teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, dass deren Angebot nicht für den Zuschlag vorgesehen ist, weil die Beigeladene ein günstigeres Angebot abgegeben habe.
13Die Antragstellerin, die seit mehreren Jahren Bestandsauftragnehmerin ist, rügte mit Anwaltsschreiben vom 5. Dezember 2019 (Anlage ASt 6) die beabsichtigte Zuschlagsentscheidung als vergaberechtswidrig. Das Angebot der Beigeladenen sei nicht auskömmlich. Ein Angebot zu einem unterhalb dem von ihr selbst angebotenen Stundenverrechnungssatz sei nach den im Gebäudereinigungshandwerk anerkannten Erfahrungssätzen nicht geeignet, den geltenden Mindestlohn sowie die gesetzlichen Arbeitgeberbeiträge zu decken.
14Die Antragstellerin hat am Folgetag bei der Vergabekammer einen Nachprüfungsantrag gestellt und ihr Rügevorbringen wiederholt und vertieft.
15Sie hat beantragt,
16die Antragsgegnerin zu verpflichten, das Vergabeverfahren unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer fortzuführen.
17Der Antragsgegner hat beantragt,
18den Nachprüfungsantrag zurückzuweisen.
19Es habe kein Anlass für eine vertiefte Preisprüfung bestanden, weil der Preisabstand zwischen den Angeboten der Beigeladenen und der Antragstellerin weniger als 10 % betragen habe und der von der Bundesfinanzdirektion West empfohlene Aufschlag von 70 % auf die Verrechnungssätze im Angebot der Beigeladenen nicht unterschritten worden sei.
20Die Vergabekammer hat mit Beschluss vom 15. Oktober 2020 (VK 54/2019-L) „dem Antragsteller“ untersagt, den Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen zu erteilen und die Antragsgegnerin verpflichtet, bei fortbestehender Vergabeabsicht den Zuschlag auf das Angebot der Antragstellerin zu erteilen. Zwar habe die Beigeladene kein Unterkostenangebot vorgelegt und es bedürfe auch keiner Aufklärung, ob die Beigeladene ihren Verpflichtungen aus § 128 GWB nachkommen werde. Das Angebot sei jedoch wegen amtswegig aufgegriffener Vergaberechtsverstöße deshalb gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 2 VgV zwingend von der Wertung auszuschließen, weil die von der Beigeladenen vorgelegten Referenzen unvollständig und die Nachforderung der Unterlagen unzulässig gewesen seien.
21Gegen diese Entscheidung haben sowohl die Antragsgegnerin als auch die Beigeladene jeweils fristgerecht sofortige Beschwerde eingelegt. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin sei bereits unzulässig. Die Antragstellerin habe ihre Rüge auf eine pauschale und unsubstantiierte Vermutung gestützt und die mangelnde Eignung der Beigeladenen gar nicht gerügt.
22Die Antragsgegnerin und die Beigeladene beantragen jeweils,
23den Beschluss der Vergabekammer vom 15. Oktober 2020 (VK 54/2019-L) aufzuheben und den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin zurückzuweisen.
24Die Antragstellerin beantragt,
251. die sofortigen Beschwerden zurückzuweisen,
262. der Antragsgegnerin zu untersagen, den Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen zu erteilen und
273. ihr, der Antragstellerin, Akteneinsicht zu gewähren.
28Sie verteidigt den Beschluss der Vergabekammer, soweit die Vergabekammer die Eignung der Beigeladenen verneint hat. Die Vergabekammer hätte jedoch das Angebot der Beigeladenen auch aufgrund der bewussten Umgehung des Mindestlohns und der damit verbundenen Abweichung von den Vorgaben der Vergabeunterlagen ausschließen müssen.
29II.
30Die sofortigen Beschwerden der Antragsgegnerin und der Beigeladenen haben nur insoweit Erfolg, als die Vergabekammer die Antragsgegnerin dazu verpflichtet hat, den Zuschlag auf das Angebot der Antragstellerin zu erteilen (unten 1). Die weitergehenden Rechtsmittel sind unbegründet. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist zulässig (unten 2.a.) und begründet (unten 2.b.).
311. Die zulässigen sofortigen Beschwerden der Antragsgegnerin und der Beigeladenen sind teilweise begründet. Sie führen zur Aufhebung des angegriffenen Vergabekammerbeschlusses im Tenor zu 2. Die Antragstellerin hat keinen Anspruch auf Bezuschlagung ihres Angebots.
32Grundsätzlich haben Bieter keinen Anspruch auf Erteilung des Zuschlags. Der öffentliche Auftraggeber kann nicht zur Erteilung des Zuschlags gezwungen werden (BGH, NZBau 2005, 290; Senatsbeschluss vom 17. April 2019, VII-Verg 36/18 – juris, Rn. 89). Ein Kontrahierungszwang würde der wirtschaftlichen Dispositionsfreiheit des öffentlichen Auftraggebers zuwiderlaufen. Der Vergabestelle steht bei der Entscheidung über den Zuschlag ein Wertungsspielraum zu und die Nachprüfungsorgane dürfen sich nicht an die Stelle des Auftraggebers setzen. Deshalb kann nur in Ausnahmefällen, in denen unter Beachtung aller Beurteilungsspielräume die Erteilung des Zuschlags an den Antragsteller die einzige rechtmäßige Entscheidung ist, die Anweisung an die Vergabestelle in Betracht kommen, dem Antragsteller den Zuschlag zu erteilen (Senatsbeschlüsse vom 17. April 2019, VII-Verg 36/18 – juris, Rn. 89; vom 28. November 2018, VII-Verg 35/18, unter III. 3; vom 27. April 2005, VII-Verg 10/05 - juris, Rn. 11 und vom 10. Mai 2000, Verg 5/00, NZBau 2000, 540 Rn. 28; OLG Celle, Beschluss vom 10. Januar 2008, 13 Verg 11/07 - juris, Rn. 96 f.; OLG Bremen, Beschluss vom 7. Januar 2003, Verg 2/02, VergabeR 2003, 175). Im Grundsatz trägt der Bieter die Feststellungslast für das Vorliegen der Voraussetzungen des von ihm behaupteten Ausnahmefalls.
33Das Vorbringen der Antragstellerin genügt den gestellten Anforderungen nicht. Es ist nicht feststellbar, dass der Antragsgegnerin nach dem von der Vergabekammer beschlossenen Ausschluss des Angebots der Beigeladenen keine Wertungsspielräume bei der Zuschlagsentscheidung verbleiben und nicht das Angebot der Antragstellerin ebenfalls ausgeschlossen werden muss. So hat die Antragsgegnerin (unter anderem) einen Ausschluss des Angebots der Antragstellerin nach § 124 Abs. 1 Nr. 1 GWB wegen Verletzung der Verpflichtung zur Zahlung von Nachtzuschlägen nicht abschließend geprüft.
342. Die weitergehenden Rechtsmittel sind unbegründet. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist zulässig (unten a.) und begründet. Das Angebot der Beigeladenen war gemäß § 57 Abs. 1 VgV von der Wertung auszuschließen, weil die Beigeladene die Eignungskriterien nicht erfüllt (unten b.). In ihren Eigenerklärungen über die drei Referenzprojekte fehlten Angaben zu den Jahresreinigungsflächen, so dass diese in einem zentralen Punkt nicht den Vorgaben der Auftragsbekanntmachung entsprachen. Der Antragsgegnerin war es verwehrt, diese Angaben nachzufordern und bei der materiellen Eignungsprüfung zu berücksichtigen.
35a. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig.
36aa. Dies gilt zunächst für den ursprünglich allein auf die behauptete Verletzung von § 60 VgV gestützten Nachprüfungsantrag. Die Antragstellerin hat den behaupteten Vergaberechtsverstoß rechtzeitig innerhalb einer Frist von zehn Kalendertagen nach Kenntnis gerügt (§ 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB). Sie hat den behaupteten Vergaberechtsverstoß mit Erhalt der Mitteilung vom 28. November 2019, dass ihr Angebot nicht berücksichtigt werde, erkannt und diesen am 5. Dezember 2019 gerügt (Anlage 6 zum Nachprüfungsantrag). Das Rügeschreiben erfüllt noch die Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Rüge.
37An Rügen ist ein großzügiger Maßstab anzulegen (Senatsbeschluss vom 15. Januar 2020, VII-Verg 20/19 – juris, Rn. 56; OLG Dresden, Beschluss vom 6. Februar 2002, WVerg 4/02 - juris, Rn. 19; OLG München, Beschluss vom 7. August 2007, Verg 8/07 - juris, Rn. 11 f.; Senatsbeschluss 13. April 2011, VII-Verg 58/10 - juris, Rn. 53). Da ein Bieter naturgemäß nur begrenzten Einblick in den Ablauf des Vergabeverfahrens hat, darf er im Vergabenachprüfungsverfahren behaupten, was er auf der Grundlage seines – oft nur beschränkten – Informationsstands redlicherweise für wahrscheinlich oder möglich halten darf, etwa wenn es um Vergabeverstöße geht, die sich ausschließlich in der Sphäre der Vergabestelle abspielen oder das Angebot eines Mitbewerbers betreffen (Senatsbeschluss vom 13. April 2011, VII-Verg 58/10 - juris, Rn. 53; OLG Frankfurt, Beschluss vom 9. Juli 2010, 11 Verg 5/10 - juris Rn. 51). Der Antragsteller muss dann lediglich tatsächliche Anknüpfungstatsachen oder Indizien vortragen, die einen hinreichenden Verdacht auf einen bestimmten Vergaberechtsverstoß begründen (Senatsbeschluss vom 16. August 2019, VII-Verg 56/18; OLG München, Beschluss vom 11. Juni 2007, Verg 6/07 - juris, Rn. 31). Reine Vermutungen zu eventuellen Vergabeverstößen reichen indes nicht aus (Senatsbeschluss vom 15. Januar 2020, VII-Verg 20/19 – juris, Rn. 56; OLG München, Beschluss vom 2. August 2007, Verg 7/07, juris Rn. 15 f.).
38Gemessen daran ist das Schreiben der Antragstellerin vom 4. Dezember 2019 inhaltlich noch zureichend. Die Antragstellerin zieht aus der Tatsache, dass die Beigeladene einen niedrigeren Preis als sie selbst angeboten hat, den Schluss auf ein Unterkostenangebot sowie eine Verletzung der gesetzlichen Verpflichtung zur Zahlung des Mindestlohns. Diese Schlussfolgerungen beruhen nicht ausschließlich auf reinen Vermutungen. Die Antragstellerin hat vielmehr zur Untermauerung ihrer Behauptung vorgetragen, dass nur sie als Bestandsbieterin, bei der ein Teil der kalkulatorischen Kosten nicht anfalle, einen weit unter dem Marktüblichen und unterhalb der in der Gebäudereinigung zur Auskömmlichkeit anerkannten Erfahrungssätze liegenden Stundenverrechnungssatz habe anbieten können. Da sie zusätzlich noch einen Skonto gewährt habe, könne das besser platzierte Angebot der Beigeladenen nicht auskömmlich sein und die gesetzlichen Sozialstandards nicht einhalten. Substantielleres Vorbringen war der Antragstellerin, die keinen Einblick in die Angebotskalkulation der Beigeladenen hat, nicht abzuverlangen.
39bb. Soweit die Antragstellerin erstmals im Beschwerdeverfahren gerügt hat, dass die Antragsgegnerin vergaberechtsfehlerhaft von einem auf § 57 Abs. 1 Nr. 2 VgV gestützten Angebotsausschluss wegen fehlender Unterlagen und wegen fehlender Eignung abgesehen hat, ist ihr Antrag ebenfalls nicht wegen Verletzung ihrer Rügeobliegenheit nach § 160 Abs. 3 S. 1 GWB unzulässig. Eine Rügepräklusion nach § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1, 2 oder 3 GWB greift nicht, weil die Antragstellerin den Vergaberechtsverstoß nicht kannte und dieser auch nicht aus der Bekanntmachung oder den Vergabeunterlagen erkennbar war. Erkannt hat sie den Vergaberechtsverstoß erst, nachdem die Vergabekammer diesen von Amts wegen aufgegriffen hat. Zu diesem Zeitpunkt war eine Rüge entbehrlich, weil die Antragstellerin bereits einen zulässigen Nachprüfungsantrag gestellt und diesen lediglich um einen erst nach Antragstellung bekanntgewordenen Vergaberechtsverstoß erweitert hat (vgl. Senatsbeschluss vom 21. Januar 2002, VII-Verg 45/01; OLG Koblenz, Beschluss vom 26. Oktober 2005, Verg 4/05).
402. Der Nachprüfungsantrag ist begründet.
41Die Antragsgegnerin hat vergaberechtsfehlerhaft von einem Ausschluss des Angebots der Beigeladenen abgesehen.
42Das Angebot der Beigeladenen ist gemäß § 57 Abs. 1 VgV zwingend von der Wertung auszuschließen, weil die Beigeladene die Eignungskriterien nicht erfüllt. Sie hat ihre technische und berufliche Leistungsfähigkeit nicht nachgewiesen, weil den wirksam geforderten (unten a.) und ihrem Angebot beigefügten Eigenerklärungen über drei Referenzprojekte mangels Angaben zu den Jahresreinigungsflächen der Referenzprojekte kein Beweiswert zukam (unten b.) und diese Angaben auch nicht nachgefordert werden durften (unten c.). Soweit die Vergabekammer im Tenor zu 1) ihrer Entscheidung anstatt der Antragsgegnerin dem „Antragsteller“ die Zuschlagserteilung untersagt hat, war der Beschluss wegen offenbarer Unrichtigkeit durch den Senat zu berichtigen (vgl. zur Zulässigkeit der Berichtigung im Rechtsmittelverfahren BGH, NJW 1996, 2100; OLG Jena, Beschluss vom 26. September 2013, 9 Verg 4/13 – juris, Rn. 44).
43a. Die Antragsgegnerin hat in Ziff. III.1.3) 2) der Bekanntmachung Angaben zu mindestens drei Referenzprojekten unter Angabe der Jahresreinigungsflächen wirksam nach § 122 Abs. 4 S. 2 GWB und § 46 Abs. 3 Nr. 1 VgV gefordert.
44Nach § 46 Abs. 3 Nr. 1 VgV darf der öffentliche Auftraggeber als Beleg der technischen und beruflichen Leistungsfähigkeit des Bieters die Vorlage geeigneter Referenzen über früher ausgeführte Liefer- und Dienstleistungen in Form einer Liste der in den letzten höchstens drei Jahren erbrachten wesentlichen Liefer- und Dienstleistungen mit Angabe des Werts, des Liefer- bzw. Erbringungszeitpunkts sowie des öffentlichen oder privaten Empfängers verlangen. Die geforderte Angabe der Jahresreinigungsfläche betrifft die Art und Wert der Leistung im Sinne von § 46 Abs. 3 Nr. 1 VgV.
45b. Mit der von ihr vorgelegten „Referenzliste“ hat die Beigeladene mangels Angaben der Jahresreinigungsflächen in den Referenzprojekten den von der Antragsgegnerin geforderten Beleg der an die technische und berufliche Leistungsfähigkeit der Bieter gestellten Anforderungen nicht erbracht.
46Da die von der Antragstellerin vorgelegte Referenzliste mangels Angaben zu den Jahresreinigungsflächen nicht den an die Referenzen gestellten Anforderungen entsprach, konnte sie den Nachweis für die an die Eignung gestellten Mindestanforderungen nicht erbringen. Um ein taugliches Beweismittel und damit geeigneter „Beleg“ zu sein, müssen Eigenerklärungen richtig und vollständig sein (Senatsbeschlüsse vom 7. November 2018, VII-Verg 39/18 – juris, Rn. 51, und vom 6. Juli 2005, VII-Verg 22/05 – juris, Rn. 53). Daran fehlte es hier. Mangels Nennung der Jahresreinigungsflächen zu den Projektreferenzen entsprach die Referenzliste der Antragstellerin in einem zentralen Punkt nicht den Vorgaben der Auftragsbekanntmachung. Ihr fehlte ein mit Eigenerklärungen der Referenzauftraggeber vergleichbarer Beweiswert. Der Antragsgegnerin war es infolge der fehlenden Angaben nicht möglich, die Vergleichbarkeit der Referenzprojekte zu überprüfen.
47c. Die Antragsgegnerin durfte die Eigenerklärungen zu den Referenzen einschließlich der fehlenden Angaben zu den Jahresreinigungsflächen nicht nachfordern. Die Nachforderung ermöglichte der Beigeladenen eine mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung der Bieter und der Transparenz des Vergabeverfahrens (§ 97 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 GWB) nicht vereinbare inhaltliche Nachbesserung ihrer Referenzen.
48Gemäß § 56 Abs. 2 S. 1 VgV kann der öffentliche Auftraggeber die Bieterunternehmen unter Einhaltung der Grundsätze der Transparenz und Gleichbehandlung auffordern, fehlende, unvollständige oder fehlerhafte unternehmensbezogene Unterlagen nachzureichen, zu vervollständigen oder zu korrigieren. Keiner der genannten Fälle liegt vor. Die Eigenerklärungen über die Referenzen fehlten im Angebot der Beigeladenen nicht (unten (1)), noch waren sie unvollständig (unten (2)) oder fehlerhaft im Sinne von § 56 Abs. 2 S. 1 VgV (unten 3)).
49(1) Die Antragsgegnerin durfte die Beigeladene nicht auffordern, die Eigenerklärungen zu den Referenzen nachzureichen, denn die Eigenerklärungen fehlten im Angebot nicht.
50Eine Unterlage fehlt, wenn sie gar nicht oder nicht entsprechend den formalen Anforderungen des Auftraggebers vorgelegt wurde (Senatsbeschlüsse vom 18. September 2019, VII-Verg 10/19 – juris, Rn. 39; vom 28. März 2018, VII-Verg 42/17 – juris, Rn. 44, und vom 12. September 2012, VII-Verg 108/11; von Wietersheim in Gabriel/Mertens/Prieß/Stein, BeckOK Vergaberecht, 19. Edition, Stand 31.01.2021, § 57 VgV Rn. 14b; Steck in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Auflage 2020, § 56 VgV Rn. 21). Wie der Senat mehrfach entschieden hat, ist eine inhaltlich unzureichende Unterlage nicht mit einer fehlenden gleichzusetzen (Senatsbeschlüsse vom 18. September 2019, VII-Verg 10/19 – juris, Rn. 39, und vom 28. März 2018, VII-Verg 42/17 – juris, Rn. 44). Sind die geforderten Unterlagen vorhanden, aber inhaltlich unzureichend, ist dies kein Anwendungsfall des § 56 Abs. 2 VgV (Senatsbeschluss vom 21. Oktober 2015, VII-Verg 35/15 – juris, Rn. 33). Nur die rein formal fehlerhafte Urkunde steht einer fehlenden gleich (Senatsbeschlüsse vom 17. Dezember 2012, VII-Verg 47/12 – juris, Rn. 16, und vom 17. März 2011, VII-Verg 56/10 – juris, Rn. 47; ebenso OLG München, Beschluss vom 28. Juli 2018, Verg 2/18 – juris, Rn. 82).
51Gemessen daran fehlen die Eigenerklärungen im Angebot der Beigeladenen nicht. Sie waren, wenngleich inhaltlich unvollständig, körperlich vorhanden. Die von der Antragstellerin vorgelegte „Referenzliste“ weist auch keinen formalen Mangel auf, der einem Fehlen der Unterlage gleichsteht. Die Antragsgegnerin hat an die vorzulegenden Referenzen schon keine formalen Anforderungen gestellt. Dass die Angaben zu den Jahresreinigungsflächen fehlen, steht einer fehlenden Unterlage ebenfalls nicht gleich. Zwar kann es sich bei Einzelangaben grundsätzlich um Angaben und mithin um Unterlagen handeln (vgl. § 48 Abs. 1 VgV). Der Nachforderung unterliegt jedoch nur die vom öffentlichen Auftraggeber geforderte Unterlage, nicht ihre einzelnen Bestandteile. Andernfalls würde die Grenze zwischen zulässiger Nachreichung bzw. Vervollständigung des Angebots und unzulässiger Nachbesserung verwischt.
52(2) Da die von der Antragstellerin ihrem Angebot beigefügten Eigenerklärungen zu den Referenzen nicht unvollständig waren, durfte die Antragsgegnerin die Antragstellerin auch nicht zur Vervollständigung ihrer Unterlagen auffordern. Eine Unterlage ist unvollständig, wenn sie teilweise physisch nicht vorgelegt worden ist; inhaltliche Unvollständigkeiten sind hiervon nicht erfasst (KG, Beschluss vom 4. Dezember 2015, Verg 8/15 – juris, Rn. 43; OLG Koblenz, Beschluss vom 19. Januar 2015, Verg 6/14 – juris, Rn. 65 f.; Steck in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Auflage 2020, § 56 VgV Rn. 21; zu weitgehend Dittmann in Kulartz/Kus/Marx/Portz/Prieß, Kommentar zu VgV, 2017, § 56 Rn. 31). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Die Antragstellerin hat ihre „Referenzliste“ vollständig ihrem Angebot beigefügt, ohne dass Bestandteile dieser Liste körperlich fehlten.
53(3) Der Antragsgegnerin war es auch verwehrt, die in den Eigenerklärungen fehlenden Einzelangaben zu den Jahresreinigungsflächen nachzufordern, weil sie der Beigeladenen damit eine von § 56 Abs. 2 S. 1 VgV nicht mehr gedeckte inhaltliche Nachbesserung ihrer Eigenerklärungen ermöglichte. Zwar erlaubt § 56 Abs. 2 S. 1 VgV nach seinem Wortlaut die Korrektur fehlerhafter Unterlagen, worunter auch die Nachreichung von Einzelangaben in geforderten Eigenerklärungen zählen könnte. Ein solches weites Verständnis ist jedoch mit der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung der Vorschrift unvereinbar.
54Die in § 56 Abs. 2 VgV getroffene Regelung dient der Umsetzung von Art. 56 Abs. 3 der Richtlinie 2014/24/EU und überführt Teile des bisherigen § 19 EG Abs. 2 S. 1 VOL/A (BR-Drs. 87/16, S. 209). Art. 56 Abs. 3 der Richtlinie 2014/24/EU eröffnet die Möglichkeit, unvollständige oder fehlerhafte Informationen oder Unterlagen zu übermitteln, zu ergänzen, zu erläutern oder zu vervollständigen, sofern diese Aufforderungen unter voller Einhaltung der Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung erfolgen. Hiernach sieht der Wortlaut von Art. 56 Abs. 3 der Richtlinie eine Korrektur fehlerhafter Unterlagen bzw. die Aufforderung des öffentlichen Auftraggebers, fehlerhafte Unterlagen zu korrigieren, nicht vor (Senatsbeschluss vom 28. März 2018, VII-Verg 42/17 – juris, Rn. 48). Es ist dort lediglich von ergänzen, erläutern und vervollständigen (in der englischsprachigen Version: to submit, supplement, clarify or complete; in der französischen Sprachversion: présenter, completer, clarifier ou preciser) die Rede. Eine Unterlage ist zu übermitteln, zu ergänzen oder zu vervollständigen, wenn sie nicht oder nicht vollständig vorgelegt wird oder in formaler Hinsicht nicht den Anforderungen genügt (fehlende Unterschrift oder Beglaubigung). Eine Unterlage ist zu erläutern, wenn sie unklar oder widersprüchlich ist. Eine Unterlage, die in formaler Hinsicht vollständig übermittelt und verständlich ist, aber ihrem Inhalt nach nicht den Anforderungen genügt, kann zwar als fehlerhaft bezeichnet werden. Jedoch handelt es sich begrifflich nicht mehr um eine Ergänzung, Erläuterung oder Vervollständigung der Unterlagen, wenn der in der Unterlage dokumentierte Erklärungsinhalt nachträglich geändert wird (Senatsbeschluss vom 28. März 2018, VII-Verg 42/17 – juris, Rn. 48; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. August 2019, 15 Verg 10/19; OLG München, Beschluss vom 28. Juli 2018, Verg 2/18 – juris, Rn. 82; Scharf in Dieckmann/Scharf/Wagner-Cardenal, VgV/UVgO, 2. Auflage 2019, § 56 VgV Rn. 75; Steck in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Auflage 2020, § 56 VgV Rn. 23; Dittmann in Kulartz/Kus/Marx/Portz/Prieß, Kommentar zu VgV, 2017, § 56 Rn. 32, und VergabeR 2017, 285, 287; kritisch Tegeler/Einmahl, VergabeR 2020, 549 ff.; großzügiger wohl auch Haak/Hogeweg, Beck’scher Vergaberechtskommentar, 3. Auflage 2019, § 56 VgV Rn. 41 und Voppel in ders/Osenbrück/Bubert, VgV, 4. Auflage 2018, § 56 Rn. 27).
55Auch aus Gründen der Gleichbehandlung der Bieter, die alle gleichermaßen unter dem zeitlichen Druck der fristgerechten Angebotserstellung stehen, der Rechtsklarheit und der Handhabbarkeit der Vorschrift in der täglichen Praxis der Vergabestellen sind daher lediglich die Behebung „offensichtlicher sachlicher Fehler“ und „offensichtlich gebotene Klarstellungen“ in einzelnen Punkten zulässig, vorausgesetzt die Änderung läuft nicht darauf hinaus, dass in Wirklichkeit ein neues Angebot eingereicht wird (EuGH, Urteile vom 7. April 2016, C-324/14, Rn. 62 ff., und vom 29. März 2012, C-599/10, Rn. 40; Senatsbeschluss vom 28. März 2018, VII-Verg 42/17), beziehungsweise der Inhalt einer unternehmensbezogenen Unterlage verändert wird.
56Ausgehend von den genannten Maßstäben war eine Nachforderung der Angaben zu den Jahresreinigungsflächen der Referenzprojekte unstatthaft. Die von der Beigeladenen vorgelegte Referenzliste durfte nicht durch die nachträgliche Bekanntgabe der Jahresreinigungsflächen korrigiert werden. Die mit dem Angebot eingereichte Referenzliste war inhaltlich klar und enthielt keine offensichtlichen sachlichen Fehler oder Unklarheiten. Es fehlten lediglich zu allen drei Referenzprojekten die geforderten Angaben der Jahresreinigungsflächen. In einem solchen Fall würde die Ergänzung der Referenzliste um die geforderten Angaben nicht zu einer zulässigen Beseitigung von Unklarheiten führen, sondern auf eine unzulässige Korrektur und Nachbesserung der Unterlage hinauslaufen.
57III.
58Der Antrag der Antragstellerin auf Akteneinsicht war abzulehnen.
59Ein Anspruch auf Akteneinsicht nach § 175 Abs. 2 i.V.m. § 165 Abs. 1 GWB besteht nach ständiger Rechtsprechung des Senats nur in dem Umfang, wie es zur Durchsetzung der subjektiven Rechte des betreffenden Verfahrensbeteiligten erforderlich ist (vgl. zuletzt Senatsbeschluss vom 29. März 2021, VII-Verg 9/21; Behrens in Müller-Wrede, GWB Vergaberecht Kommentar, 2016, § 165 Rn. 19). Der Anspruch auf Akteneinsicht im Nachprüfungsverfahren hat eine rein dienende, zum zulässigen Verfahrensgegenstand akzessorische Funktion (ebenso OLG Naumburg, Beschluss vom 1. Juni 2011 – 2 Verg 3/11 – juris, Rn. 4). Die Beschleunigungsbedürftigkeit von Vergabenachprüfungsverfahren steht einem gänzlich voraussetzungslosen Akteneinsichtsanspruch aus § 165 Abs. 1 GWB entgegen (Senatsbeschluss vom 25. September 2017 – VII-Verg 19/17 – juris, Rn. 9).
60Da der Nachprüfungsantrag wegen der fehlenden Eignung der Beigeladenen erfolgreich ist, bedarf es zur Durchsetzung der subjektiven Rechte der Antragstellerin weitergehender Einsicht in die Vergabeakten nicht.
61IV.
62Die Kostenentscheidung beruht auf § 175 Abs. 2 i.V.m. § 71 GWB.
63Es entspricht – entsprechend den Kostenverteilungsbestimmungen in der ZPO – der Billigkeit, die Kosten nach dem Unterliegen und Obsiegen gemäß der tenorierten Kostenquote zu teilen und die Antragstellerin an den Kosten des Beschwerdeverfahrens und den Auslagen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen zu beteiligen. Sie ist unterlegen, weil sie mit ihrem Antrag, die Rechtsmittel der Antragsgegnerin und der Beigeladenen auch insoweit zurückzuweisen, als sich diese gegen den Tenor zu 2) der Vergabekammerentscheidung richteten, nicht durchgedrungen ist.
64Die Abänderung der Entscheidung über die Verteilung der im Nachprüfungsverfahren entstandenen Kosten war nicht veranlasst, weil die Kostenquote aus den Gründen der angegriffenen Entscheidung ungeachtet des Teilerfolgs des Rechtsmittels der Antragsgegnerin billigem Ermessen entspricht.
65Die Entscheidung über die Wertfestsetzung beruht auf § 50 Abs. 2 GKG, wobei Ausgangspunkt der Berechnung der Bruttoangebotspreis der Beigeladenen bezogen auf den regulären Vertragszeitraum von zwei Jahren war und der Wert des optionalen Vertragszeitraums hälftig berücksichtigt wurde.