Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
Der Antrag der Antragsgegnerin und der „hilfsweise für den Fall, dass der Senat die Eilbedürftigkeit nach § 176 Abs. 1 GWB als gegeben ansieht“, gestellte Antrag der Antragstellerin, der Antragsgegnerin gemäß § 176 Abs. 1 GWB zu gestatten, in dem Vergabeverfahren „Friedrich-Loeffler-Bau, Ersatzneubau eines Forschungs- und Laborgebäudes am Standort Jena“ (Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union, Bekanntmachungsnr.: 2019/S 159-391985) vorzeitig den Zuschlag zu erteilen, werden abgelehnt.
G r ü n d e
2I.
3Die Antragsgegnerin führt nach abgeschlossenem Teilnahmewettbewerb ein Verhandlungsverfahren nach dem dritten Abschnitt der VOB/A (im Folgenden: VOB/A-VS) zur Vergabe einer Generalunternehmerleistung für den Ersatzneubau des -Instituts in Jena durch (Bekanntmachung vom 20. August 2019, Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union, Bekanntmachungsnr.: 2019/S 159-391985). Einziges Zuschlagskriterium ist der Preis.
4In Ziff. 3.3 der Aufforderung zur Angebotsabgabe (Formblatt 211 VS) hieß es:
5„Fehlende Unterlagen, deren Vorlage mit dem Angebot gefordert war, werden nachgefordert.“
6Die dort ebenfalls aufgeführten Optionen
7„teilweise nachgefordert, und zwar folgende Unterlagen:“
8sowie
9„nicht nachgefordert“
10waren nicht angekreuzt.
11Zu den Unterlagen, deren Vorlage mit dem Angebot gefordert war, zählten ausweislich des Formblatts 211 VS unter anderem das „Vertragsformular für Instandhaltung: siehe Anlage 2“. Als Anlage 2 waren unter der Bezeichnung „Wartungsverträge“ 23 Unterordner (ein Unterordner für jedes Hauptgewerk) der elektronischen Vergabeunterlagen mit den Unterlagen der entsprechenden Nummern des Leistungsverzeichnisses beigefügt, die überwiegend jeweils aus vier Dokumenten bestanden, unter anderem dem VHB-Formblatt 242 „Instandhaltung“. In diesem Formblatt hieß es unter Ziff. 3:
12„Weiterhin sind
13in einer gesonderten Aufstellung/Arbeitskarte die von Ihnen vorgesehenen regelmäßigen Leistungen (Inspektions- und Wartungsarbeiten einschließlich Zeitabstände) für die verschiedenen Anlagenteile/Geräte einzutragen. Wird die Aufstellung/Arbeitskarte nicht mit dem Angebot vorgelegt, erfolgt keine Nachforderung. Das Angebot wird ausgeschlossen.“
14Die Antragsgegnerin verwendete Arbeitskarten mit und ohne Voreintragungen.
15Die Antragstellerin und die Beigeladene gaben als einzige Bieterunternehmen jeweils fristgerecht ein Angebot ab. Die Antragstellerin hatte ihrem Angebot sämtliche Arbeitskarten beigefügt, jedoch einige Arbeitskarten ohne Voreintragungen nicht ausgefüllt.
16Mit Vorabinformationsschreiben vom 18. Januar 2021 teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, dass ihr Angebot aus zwingenden Gründen ausgeschlossen wurde, weil die gemäß Formblatt 242 geforderten Arbeitskarten nicht vollständig ausgefüllt beigefügt gewesen seien und eine Nachforderung nach den Vergabeunterlagen ausgeschlossen sei. Es sei beabsichtigt, den Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen zu erteilen.
17Die Antragstellerin rügte den Ausschluss ihres Angebots am 21. Januar 2021 als vergaberechtswidrig, weil ihr Angebot vollständig sei. Jedenfalls könne ihr Angebot vor dem Hintergrund der widersprüchlichen Angaben in den Vergabeunterlagen bezüglich der Nachforderungsmöglichkeit nicht ausgeschlossen werden. Der Rüge half die Antragsgegnerin am 25. Januar 2021 nicht ab.
18Die Vergabekammer hat auf den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin vom 27. Januar 2021, mit dem die Antragstellerin zusätzlich die fehlende Benennung der Arbeitskarten an zentraler Stelle beanstandet hat, der Antragsgegnerin mit Beschluss vom 3. März 2021 (VK 1 – 10/21) untersagt, den Zuschlag zu erteilen und ihr aufgegeben, das Vergabeverfahren bei fortbestehender Beschaffungsabsicht unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer zurückzuversetzen. Der Nachprüfungsantrag sei zulässig und begründet.
19Gegen diese Entscheidung hat die Beigeladene fristgerecht sofortige Beschwerde eingelegt und beantragt, den Beschluss der Vergabekammer aufzuheben und den Nachprüfungsantrag zurückzuweisen. Der Nachprüfungsantrag sei schon unzulässig, weil die Antragstellerin ihre Rügeobliegenheiten verletzt habe. Er sei zudem unbegründet, weil das Angebot der Antragstellerin zwingend von der Wertung auszuschließen gewesen sei.
20Die Antragsgegnerin, die kein Rechtsmittel eingelegt hat, schließt sich den Ausführungen der Beigeladenen an. Das Vergabeverfahren müsse zudem zeitnah abgeschlossen werden, da die Errichtungsgenehmigung im April 2022 auslaufe und spätestens bis zu diesem Zeitpunkt mit der baulichen Projektrealisierung begonnen werden müsse.
21Sie beantragt deshalb,
22ihr gemäß § 176 Abs. 1 GWB zu gestatten, vorzeitig den Zuschlag zu erteilen.
23Die Antragstellerin beantragt,
24den Antrag auf Erlaubnis der vorzeitigen Zuschlagserteilung gemäß § 176 Abs. 1 GWB abzulehnen;
25hilfsweise für den Fall, dass der Senat die Eilbedürftigkeit nach § 176 Abs. 1 GWB als gegeben ansieht, der Antragsgegnerin vorab zu gestatten, den Zuschlag auf das Angebot der Antragstellerin zu erteilen.
26Sie hält die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels der Beigeladenen für gering und verteidigt die Entscheidung der Vergabekammer.
27Die Beigeladene beantragt,
28den Hilfsantrag der Antragstellerin zurückzuweisen.
29Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Schriftsätze, die Vergabeakte und die Verfahrensakte der Vergabekammer Bezug genommen.
30II.
31Der auf Vorabgestattung des Zuschlags gerichtete Antrag der Antragsgegnerin ist zulässig, jedoch unbegründet.
321. Der Antrag auf vorzeitige Gestattung des Zuschlags ist zulässig. Die Antragsgegnerin ist antragsberechtigt, auch wenn sie selbst keine sofortige Beschwerde gegen den Beschluss der Vergabekammer eingelegt hat.
33Ein Antrag nach § 176 Abs. 1 GWB setzt voraus, dass gegen den Beschluss der Vergabekammer, mit dem dem öffentlichen Auftraggeber untersagt worden ist, den Zuschlag zu erteilen, wie hier durch die Beigeladene, form- und fristgerecht sofortige Beschwerde eingelegt worden ist. Nicht erforderlich ist, dass der Antragsteller im Verfahren nach § 176 GWB selbst das Rechtsmittel eingelegt hat (Senatsbeschluss vom 6. Mai 2011, VII-Verg 26/11 – juris, Rn. 44; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 6. Juni 2013, 11 Verg 8/13 – juris, Rn. 85).
34Der Antrag der Antragsgegnerin genügt auch den formalen Anforderungen des § 176 Abs. 2 S. 1 GWB.
352. Der Antrag ist jedoch unbegründet. Die Voraussetzungen für eine Gestattung des Zuschlags nach § 176 Abs. 1 S. 1 GWB liegen nicht vor.
36Nach § 176 Abs. 1 Satz 1 GWB kann das Gericht den weiteren Fortgang des Vergabeverfahrens und den Zuschlag gestatten, wenn unter Berücksichtigung aller möglicherweise geschädigten Interessen die nachteiligen Folgen einer Verzögerung der Vergabe bis zur Entscheidung über die Beschwerde die damit verbundenen Vorteile überwiegen. Mit Blick auf den Anspruch der Bieter auf effektiven Rechtsschutz im Vergabenachprüfungsverfahren sind die Erfolgsaussichten der Beschwerde das vorrangig zu bewertende Kriterium, dem bei der Gesamtabwägung das wesentliche Gewicht zukommt (Senatsbeschlüsse vom 13. März 2020, VII-Verg 9/20, und vom 9. Juli 2012, VII-Verg 18/12 – juris, Rn. 5). Je größer die Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg der sofortigen Beschwerde des Auftraggebers oder des für den Zuschlag vorgesehenen Bieters im Sinne einer Zurückweisung des Nachprüfungsantrags ist, umso höher ist in der Regel auch das Interesse an einem raschen Abschluss des Vergabeverfahrens zu gewichten und umgekehrt (Senatsbeschlüsse vom 13. März 2020, VII-Verg 9/20, und vom 28. Juni 2017 – VII-Verg 24/17 – juris, Rn. 10).
37Die nach diesen Maßstäben vorzunehmende Interessenabwägung ergibt, dass das Interesse der Antragsgegnerin und der Allgemeinheit an einem raschen Fortgang und Abschluss des Vergabeverfahrens dem Interesse der Antragstellerin, den Abschluss des Vergabeverfahrens bis zur Hauptsacheentscheidung im Beschwerdeverfahren hinauszuschieben und solange ihre Chancen auf den Zuschlag zu wahren, nicht überwiegt. Bei der erforderlichen Gesamtabwägung hat der Senat vor allem berücksichtigt, dass die Erfolgsaussichten der sofortigen Beschwerde der Beigeladenen gering sind (unten a.) und eine besondere Eilbedürftigkeit nicht glaubhaft gemacht ist (unten b.).
38a. Die sofortige Beschwerde der Beigeladenen ist zwar zulässig, nach der im Verfahren nach § 176 Abs. 1 GWB gebotenen summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten des Rechtsmittels jedoch unbegründet. Die Vergabekammer hat dem Nachprüfungsantrag der Antragstellerin zurecht stattgegeben, weil dieser zulässig (unten aa.) und begründet ist (unten bb.).
39aa. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist zulässig. Die Antragstellerin hat insbesondere ihre Rügeobliegenheit nach § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GWB nicht verletzt. Dass die Antragsgegnerin das Angebot der Antragstellerin ohne vorherige Nachforderung fehlender Unterlagen von der Wertung ausschließen würde, war aus den Vergabeunterlagen nicht erkennbar. Der Nachprüfungsantrag ist auch nicht nach § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GWB unzulässig, soweit die Antragstellerin den Angebotsausschluss deshalb als vergaberechtswidrig beanstandet, weil der in den Vergabeunterlagen festgeschriebene Ausschluss der Nachforderung von Arbeitskarten unklar und widersprüchlich sei und die Arbeitskarten nicht wirksam gefordert worden seien. Die Rügepräklusion nach § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GWB greift nicht, weil die behaupteten Vergaberechtsverstöße aus den Vergabeunterlagen nicht erkennbar waren.
40Die Erkennbarkeit eines Verstoßes gegen Vergabevorschriften ist objektiv zu bestimmen. Eine die Rügeobliegenheit auslösende Erkennbarkeit eines Verstoßes gegen Vergabevorschriften ist – immer bezogen auf den konkreten Einzelfall – zu bejahen, wenn der Verstoß von einem durchschnittlich fachkundigen Bieter des angesprochenen Bieterkreises bei üblicher Sorgfalt und üblichen Kenntnissen erkannt werden kann (Senatsbeschlüsse vom 15. Januar 2020, VII-Verg 20/19 – juris, Rn. 64; vom 3. April 2019, VII-Verg 49/18 – juris, Rn. 183; vom 26. Juli 2018, VII-Verg 23/18, und vom 28. März 2018, VII-Verg 54/17 – juris, Rn. 17). Im Hinblick auf Vergabeunterlagen wird damit als Voraussetzung einer Rügepräklusion gefordert, dass der Inhalt der Unterlagen bei laienhafter rechtlicher Bewertung, also ohne Bemühung besonderen Rechtsrats, auf einen Vergaberechtsverstoß hindeutet und der Verstoß gleichsam ins Auge fällt. Das setzt regelmäßig voraus, dass die Rechtsvorschriften, gegen die verstoßen wird, zum allgemeinen und grundlegenden Wissen der beteiligten Bieterkreise gehören (Senatsbeschluss vom 26.Juli 2018, VII-Verg 23/18; OLG München, Beschluss vom 22. Oktober 2015, Verg 5/15 - juris, Rn. 43). Einer exakten rechtlichen Einordnung des Vergaberechtsverstoßes durch den Bieter bedarf es nicht (OLG Schleswig, Beschluss vom 22. Januar 2019, 54 Verg 3/18, BeckRS 2019, 590, Rn. 48).
41(1) Ausgehend von diesen Maßstäben war der behauptete Verstoß gegen den Transparenzgrundsatz, also die Widersprüchlichkeit der Vergabeunterlagen in tatsächlicher Hinsicht nicht erkennbar. Einem durchschnittlichen Bieter des hier angesprochenen Bieterkreises musste angesichts des Umfangs der Vergabeunterlagen nicht ins Auge fallen, dass die Antragsgegnerin entgegen der in Ziff. 3.3 der Aufforderung zur Angebotsabgabe vorgesehenen Möglichkeit, geforderte Unterlagen nachzufordern, an anderer Stelle der Vergabeunterlagen, und zwar jeweils in einem Unterordner, die Nachforderung der Arbeitskarten ausgeschlossen hat. Die beanstandeten Formulierungen befinden sich an verschiedenen Stellen in den umfangreichen Vergabeunterlagen. Bieter sind schon angesichts des Zeitdrucks bei Angebotserstellung nicht gehalten, die Vergabeunterlagen auf solche Verstöße hin routinemäßig zu überprüfen.
42(2) Dass die Arbeitskarten – nach dem Vortrag der Antragstellerin – nicht an zentraler Stelle im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 5 VOB/A-VS gefordert worden sind, war in rechtlicher Hinsicht nicht erkennbar, weil es sich bei § 8 Abs. 2 Nr. 5 VOB/A-VS um eine erst wenige Wochen vor Ausschreibung neu in die VOB/A eingefügte Vorschrift handelt, die im Zeitpunkt der Angebotserstellung nicht zum allgemeinen und grundlegenden Wissen der beteiligten Bieterkreise gehörte.
43bb. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist begründet. Die Antragsgegnerin durfte das Angebot der Antragstellerin nicht gestützt auf § 16 Nr. 3 VOB/A-VS wegen fehlender Unterlagen ausschließen.
44Auszuschließen sind gemäß § 16 Nr. VOB/A-VS Angebote, die die geforderten Unterlagen im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 5 VOB/A-VS nicht enthalten, wenn der öffentliche Auftraggeber gemäß § 16a Abs. 3 VOB/A-VS festgelegt hat, dass er keine Unterlagen nachfordert. Ob die geforderten Arbeitskarten im Angebot der Antragstellerin fehlten, kann offen bleiben (unten (1)). Einem Angebotsausschluss steht jedenfalls entgegen, dass die Antragsgegnerin die Antragstellerin nicht zur Nachreichung der Unterlagen aufgefordert und sie nicht wirksam von ihrem Recht nach § 16a Abs. 3 VOB/A-VS Gebrauch gemacht hat (unten (2)).
45(1) Keiner Entscheidung bedarf, ob die von der Antragstellerin nicht ausgefüllten Arbeitskarten bereits deshalb im Angebot der Antragstellerin nicht fehlen, weil die Vorlage der Arbeitskarten insgesamt nicht wirksam gefordert worden ist.
46Fehlende Unterlagen sind solche, die mit dem Angebot bis zur Angebotsabgabe einzureichen waren und physisch nicht vorgelegt worden sind (Senatsbeschluss vom 12. September 2012, VII-Verg 108/11). Allerdings fehlen Unterlagen nur dann, wenn sie zuvor wirksam verlangt worden sind (statt aller Steck in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Auflage 2020, VOB/A-EU § 16a Rn. 7). Dies ergibt sich aus dem Verweis von § 16 Nr. 3 VOB/A-VS in § 8 Abs. 2 Nr. 5 VOB/A-VS, wonach nur solche Angebote ausgeschlossen werden, die die vom Auftraggeber an zentraler Stelle abschließend geforderten Unterlagen nicht enthalten. Bietern und öffentlichen Auftraggebern soll durch einen einfachen Abgleich ermöglicht werden, die Vollständigkeit des Angebots ohne nennenswerten Zeitaufwand festzustellen. Die Regelung bezweckt darüber hinaus den Schutz der Bieter, die davon entlastet werden, sich die geforderten Unterlagen in den Vergabeunterlagen zusammensuchen zu müssen (Lausen in Heiermann/Zeiss/Summa, jurisPK-Vergaberecht, 5. Auflage (Stand: 18.12.2019), § 8 VOB/A Rn. 36.7 ff.). Damit soll für die Bieter ein Ausgleich für das mit der Neufassung von §§ 16, 16a VOB/A-VS gestiegene Risiko eines Angebotsausschlusses geschaffen werden. Der öffentliche Auftraggeber, der nunmehr die Möglichkeit erhält, wie bei Liefer- und Dienstleistungsaufträgen (vgl. § 56 Abs. 2 S. 2 VgV) die Nachforderung sämtlicher Unterlagen für das gesamte Vergabeverfahren von vornherein auszuschließen, muss im Gegenzug in den Vergabeunterlagen an zentraler Stelle abschließend alle geforderten Unterlagen aufführen (Janssen, NZBau 2019, 147, 151).
47Nach Auffassung des Senats scheinen die Vergabeunterlagen der Antragsgegnerin diesen Anforderungen noch zu genügen. Die Arbeitskarten wurden in der Aufforderung zur Angebotsabgabe (Formblatt 211 VS), in der die mit dem Angebot einzureichenden Unterlagen unter Punkt C) an zentraler Stelle aufgezählt waren, zwar nicht ausdrücklich genannt. Sie sind aber Bestandteil des genannten „Vertragsformulars für Instandhaltung“, verbunden mit einem Verweis auf Anlage 2. Aus der in Bezug genommenen Anlage 2 war ohne aufwendige Suche ersichtlich, dass ausgefüllte Arbeitskarten mit dem Angebot einzureichen waren. Damit dürfte auch ohne zusätzlichen expliziten Hinweis auf die Arbeitskarten im Formular 211 VS der mit der Neuregelung von § 8 VOB/A-VS bezweckten Vereinfachung bei der Zusammenstellung des Angebots noch Genüge getan worden sein.
48(2) Selbst wenn die Vorlage der Arbeitskarten nicht wirksam gefordert worden sein sollte, wäre der Angebotsausschluss vergaberechtswidrig. Die Antragsgegnerin war nach § 16a Abs. 1 VOB/A-VS zur Nachforderung der fehlenden Unterlagen verpflichtet. Sie hat weder in der Auftragsbekanntmachung, noch in den Vergabeunterlagen wirksam festgelegt, dass sie fehlende Arbeitskarten nicht nachfordern wird. Aus Ziff. 3 S. 2 im Formblatt 242 lässt sich ein Ausschluss der Nachforderung nicht mit der gebotenen Eindeutigkeit herleiten.
49Der öffentliche Auftraggeber kann gemäß § 16a Abs. 3 VOB/A-VS in der Auftragsbekanntmachung oder in den Vergabeunterlagen festlegen, dass er keine Unterlagen nachfordern wird. Der Ausschluss einer Nachforderung muss eindeutig sein. Dies folgt aus dem Transparenzgrundsatz (§ 2 Abs. 1 VOB/A-VS) und dem daraus abzuleitenden Gebot, das jeder fachkundige Bieter die Vergabeunterlagen in gleicher Weise verstehen muss. Eindeutig ist der Ausschluss nur dann, wenn zweifelsfrei erkennbar ist, ob und in welchem Umfang die Nachforderung ausgeschlossen ist. Dies ist nicht der Fall bei intransparenten Anforderungen oder bei Mehrdeutigkeit der Vergabeunterlagen. Aus diesem Grund muss der Auftraggeber exakt mitteilen, für welche Unterlagen er die Nachforderung ausschließt und welche er nachfordern wird. Verbleiben Zweifel, geht dies zu Lasten des öffentlichen Auftraggebers (BGH, Urteil vom 3. April 2012, X ZR 130/10; KG, Beschluss vom 4. Juni 2019, Verg 8/18, NZBau 2019, 822).
50Der eindeutige Inhalt kann Ergebnis der gebotenen Auslegung sein. Dabei ist ein objektiver Maßstab anzulegen und auf den Empfängerhorizont eines fachkundigen Bieters, der mit der Leistung vertraut ist, abzustellen (BGH, Beschluss vom 7. Februar 2014, X ZB 15/13 – juris, Rn. 31; Senatsbeschluss vom 1. April 2020, VII-Verg 33/19). In vergaberechtswidriger Weise nicht mehr eindeutig sind Vergabeunterlagen, wenn fachkundigen Unternehmen auch nach Auslegungsbemühungen mehrere Auslegungsmöglichkeiten verbleiben oder das zutreffende Verständnis der Vergabeunterlagen eine besondere Gesamtschau erfordert, die von den Bietern oder Bewerbern im Vergabewettbewerb erfahrungsgemäß nicht geleistet wird (BGH, Urteil vom 10. Juni 2008, X ZR 78/07 – juris, Rn. 12; Senatsbeschluss vom 13. Dezember 2017, VII-Verg 19/17) oder nicht geleistet werden kann.
51Nach diesen Maßstäben kann der Ausschluss der Nachforderung von Arbeitskarten durch die mit der Ausschreibung befassten Bieterunternehmen nicht zweifelsfrei ermittelt werden. Selbst einem fachkundigen, mit Ausschreibungen der hier vorliegenden Art vertrauten Bauunternehmen war die Ermittlung des Erklärungsinhalts der Vergabeunterlagen nicht eindeutig möglich. Zwar ist die Formulierung im Formblatt 242, „Wird die Aufstellung/Arbeitskarte nicht mit dem Angebot vorgelegt, erfolgt keine Nachforderung. Das Angebot wird ausgeschlossen“ für sich genommen eindeutig. Sie steht jedoch in Widerspruch zu Ziff. 3.3 im Formblatt 211 VS, in der es heißt: „Fehlende Unterlagen, deren Vorlage mit dem Angebot gefordert war, werden nachgefordert.“ Dieser Widerspruch ist auch für ein fachkundiges Bieterunternehmen nicht zweifelsfrei auflösbar. Die Vergabeunterlagen können auf der einen Seite dahin verstanden werden, dass das Formblatt 242 als speziellere Regel dem Formblatt 211 VS vorgeht. Aus der Sicht eines verständigen Bieterunternehmens ebenso möglich ist jedoch eine Auslegung der Vergabeunterlagen dahin, dass das Formblatt 211 VS, das auf die einzureichenden Unterlagen verweist, als zentrales Dokument höherrangig ist und widersprechenden Regelungen in den in Bezug genommenen Formblättern vorgeht. Gegen die von der Beigeladenen favorisierte erstgenannte Auslegungsvariante spricht, dass die Kenntnis des juristischen Auslegungsgrundsatzes lex specialis derogat legi generali und dessen rechtssichere Anwendung auch von großen Bieterunternehmen der Bauwirtschaft nicht zwingend vorausgesetzt werden können. Zudem ergibt sich aus den Vergabeunterlagen gerade nicht zweifelsfrei, dass Ziff. 3 S. 2 im Formblatt 242 als speziellere Regel der allgemeinen Ankündigung in Ziff. 3 des Formblatts 211 VS vorgeht, nach der fehlende Unterlagen explizit nachgefordert werden. Ziff. 3.3 im Formblatt 211 VS enthält keinen Vorbehalt in Bezug auf besondere Bestimmungen und die Antragsgegnerin hat das ihr im Vordruck zur Verfügung stehende Feld „teilweise nachgefordert, und zwar folgende Unterlagen“ nicht angekreuzt. Hieraus können auch mit Vergabeunterlagen dieser Art vertraute Bieterunternehmen den Schluss ziehen, dass die Antragsgegnerin die geforderten Unterlagen bei Nichtvorlage in jedem Fall nachfordern wird.
52b. Erweisen sich die Erfolgsaussichten der sofortigen Beschwerde nach dem Vorstehenden als gering, vermögen auch die nach § 176 Abs. 1 S. 2 und 3 GWB in der Abwägung zu berücksichtigenden Interessen der Allgemeinheit an einer wirtschaftlichen Erfüllung der Aufgaben des Auftraggebers und an einem raschen Abschluss des Vergabeverfahrens eine Vorweggestattung des Zuschlags in der Regel nicht rechtfertigen. Nach dem Vortrag der Antragsgegnerin kann nicht festgestellt werden, dass die Realisierung des ausgeschriebenen Vorhabens ohne eine Vorabgestattung des Zuschlags in Gefahr ist. Bereits die Annahme der Antragsgegnerin, dass mit einer Entscheidung des Senats über die sofortige Beschwerde der Beigeladenen trotz mündlicher Verhandlung am 1. September 2021 nicht vor Ende des Jahres 2021 zu rechnen ist, entbehrt jeder Grundlage. Der Senat verkündet eine Entscheidung in der Regel drei bis vier Wochen nach der mündlichen Verhandlung, dies schon allein aufgrund des zu beachtenden Beschleunigungsgrundsatzes. Anhaltspunkte dafür, dass es im vorliegenden Fall ausnahmsweise anders sein könnte, sind weder ersichtlich noch von der Antragsgegnerin vorgetragen worden. Mit einer Entscheidung des Senats ist daher spätestens im Oktober 2021 zu rechnen. Dass die Zeitspanne von Oktober 2021 bis zum Ablauf der Errichtungsgenehmigung nach § 8 GenTG Mitte April 2022 auf der Grundlage der von der Antragsgegnerin dargestellten Abläufe bis zur Zuschlagserteilung und Vorbereitung des Baubeginns nicht ausreicht, ergibt sich aus dem Vortrag der Antragsgegnerin nicht. Dies gilt umso mehr, als sie bereits im April 2021 die aus ihrer Sicht fehlenden Arbeitskarten von der Antragstellerin nachgefordert hat.
53III.
54Der Hilfsantrag der Antragstellerin war abzulehnen. Die Antragstellerin ist nicht antragsberechtigt und der Antrag wurde prozessual nicht zulässig erhoben.
55Antragsberechtigt sind nach dem eindeutigen Wortlaut von § 176 Abs. 1 GWB allein der öffentliche Auftraggeber und das Unternehmen, welches vom Auftraggeber nach § 134 GWB als das Unternehmen benannt ist, das den Zuschlag erhalten soll. Zu diesem Kreis zählt die Antragstellerin nicht. Dass sie womöglich von einer Entscheidung nach § 176 GWB begünstigt sein kann, verleiht ihr keine Antragsberechtigung.
56Der Antrag nach § 176 Abs. 1 GWB ist als Verfahrenshandlung zudem bedingungsfeindlich, weil das Bestehen eines Verfahrensrechtsverhältnisses sicher feststehen muss. Zulässig ist lediglich, einen einzelnen Antrag von einer innerprozessualen Bedingung abhängig zu machen (Senatsbeschluss vom 21. Dezember 2016, VII-Verg 5/16 – juris, Rn. 20; OLG Schleswig, Beschluss vom 15. April 2011, 1 Verg 10/10 – juris, Rn. 31), das heißt von dem Ergebnis der Sachentscheidung des Gerichts über einen anderen Anspruch.
57Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Die Antragstellerin erhebt ihren Antrag nicht unter der Bedingung einer bestimmten Sachentscheidung des Senats, sondern macht ihn abhängig von der Auffassung des Senats über das Vorliegen einer einzelnen Voraussetzung – der Eilbedürftigkeit im Sinne von § 176 GWB – für den Erfolg des Antrags der Antragsgegnerin.
58IV.
59Eine Kostenentscheidung ist im Eilverfahren nach § 176 Abs. 1 GWB nicht veranlasst.