Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
Die sofortige Beschwerde der Beigeladenen gegen den Beschluss der 2. Vergabekammer des Bundes vom 23. November 2015 (VK 2-103/15) wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden je zur Hälfte der Beigeladenen und der Antragsgegnerin zu 1 auferlegt.
Streitwert für das Beschwerdeverfahren: bis 170.000 Euro.
G r ü n d e :
2I. Die Antragsgegner, gesetzliche Krankenkassen und ein Verband, beabsichtigen, für den Landkreis … und die Städte … und … mit der Beigeladenen ohne Durchführung eines geregelten Vergabeverfahrens einen Vertrag über spezialisierte ambulante Palliativversorgung (im Folgenden: SAPV) abzuschließen. Der Vertrag ist in Ermangelung einer Unterzeichnung durch sämtliche Beteiligte noch nicht in Kraft getreten.
3§ 37b SGB V gewährt Versicherten einen Anspruch auf SAPV. Der Gemeinsame Bundesausschuss der Kassenärztlichen Bundesvereinigungen, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen legt dazu Richtlinien unter anderem betreffend den Versorgungsbedarf sowie Inhalt und Umfang der Versorgung fest.
4§ 132b SGB V bestimmt, dass die gesetzlichen Krankenkassen über die SAPV Verträge mit geeigneten Einrichtungen oder Personen schließen, soweit dies für eine bedarfsgerechte Versorgung notwendig ist. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen legt dazu in Empfehlungen unter Beteiligung anderer Institutionen Anforderungen an die Leistungserbringung und Maßstäbe für eine bedarfsgerechte Versorgung fest.
5Unter dem 27. März 2015 bekundete die (seinerzeit noch in Gründung stehende) Antragstellerin gegenüber der Antragsgegnerin zu 1 ihr Interesse an einer Zulassung zu SAPV.
6Mit Schreiben vom 1. Oktober 2015 unterrichtete die Antragsgegnerin zu 6 namens und im Auftrag der übrigen Antragsgegner die Antragstellerin darüber, dass beabsichtigt sei, (ohne Namensnennung) einen anderen Leistungserbringer zuzulassen und mit diesem einen Vertrag über SAPV abzuschließen. Nach § 132d SGB V sei für eine Zulassung der Antragstellerin darum kein Bedarf (mehr) vorhanden.
7Durch anwaltliche Rüge vom 14./15. Oktober 2015 beanstandete die Antragstellerin das Unterbleiben eines geregelten Vergabeverfahrens, insbesondere einer unionsweiten Ausschreibung, sowie eine Verletzung der Informationspflichten nach § 101a GWB. Mit diesen Beanstandungen hat die Antragstellerin sodann einen Nachprüfungsantrag angebracht, mit dem sie begehrt hat, dass Leistungen im Bereich der SAPV von den Antragsgegnern in einem geregelten Vergabeverfahren vergeben werden.
8Die Antragsgegner sind dem Nachprüfungsbegehren entgegengetreten.
9Die angerufene Vergabekammer des Bundes (2. Vergabekammer - VK 2-103/15) hat den Antragsgegnern untersagt, über SAPV einen Zuschlag zu erteilen.
10Dagegen hat die Beigeladene sofortige Beschwerde erhoben, mit der sie unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens beantragt,
11den Beschluss der Vergabekammer aufzuheben und den Nachprüfungsantrag zurückzuweisen.
12Diesem Antrag schließt sich, ebenfalls unter Ergänzung des erstinstanzlichen Vortrags, die Antragsgegnerin zu 1 an.
13Die Antragstellerin beantragt,
14die Beschwerde zurückzuweisen.
15Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze und die Anlagen sowie auf die Verfahrensakten der Vergabekammer und die beigezogenen Vergabeakten Bezug genommen.
16II. Die sofortige Beschwerde der Beigeladenen ist unbegründet.
17Die Vergabekammer hat in Bezug auf den beabsichtigten Vertragsschluss bei spezialisierter ambulanter Palliativversorgung im Gebiet der Südpfalz vollkommen zu Recht entschieden, dass ein Zuschlag an die Beigeladene zu unterbleiben hat. Der Senat kann im Wesentlichen jedem Satz der Entscheidungsbegründung nur beipflichten. Von daher verdiente das Rechtsmittel an sich, ohne weitere Begründung aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung zurückgewiesen zu werden. Es soll nur auf nachfolgendes Vorbringen der Beschwerde sowie der Antragsgegnerin zu 1 eingegangen werden. Dieses rechtfertigt keine von der Entscheidung der Vergabekammer abweichende rechtliche Beurteilung.
181. Bei SAPV handelt es sich um nachrangige Dienstleistungen im Sinn der Anlage 1, Kategorie 25 zur VgV (Gesundheitswesen). Als solche unterliegen sie bei Erreichen des Auftragsschwellenwerts uneingeschränkt den Bestimmungen des Vierten Teils des GWB (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21. Juli 2010 - VII-Verg 19/10 und bestätigend: BGH, Beschluss vom 8. Februar 2011 - X ZB 4/10 - S-Bahn-Verkehr Rhein/Ruhr). Der Auftragsschwellenwert von 207.000 Euro ist bei einer zugrundezulegenden Vertragsdauer von vier Jahren um ein Vielfaches überschritten (VKB 17). Der Anwendungsbefehl hinsichtlich des Vierten Teils des GWB ergibt sich explizit aus § 69 Abs. 2 Satz 4 SGB V (VKB 15).
19Der Vortrag der Antragsgegnerin zu 1 in Bezug auf eine Anwendung der VOF bedarf keiner vertiefenden Auseinandersetzung, weil er entscheidungs-unerheblich ist. Die zu vergebenden Leistungen, gleichviel, ob es sich um nachrangige Dienstleistungen oder um freiberufliche Leistungen handelt, haben ihres Auftragswerts wegen eine eindeutige Binnenmarktrelevanz, so dass das Auftragsvorhaben zur Herstellung eines aus den Grundfreiheiten des AEU-Vertrags abzuleitenden angemessenen Grades an Öffentlichkeit in jedem Fall unionsweit vorab hat bekanntgemacht werden müssen (OLG Düsseldorf 28.3.2012 - VII-Verg 37/11; BGH NZBau 2012, 46 - Regenentlastung). Das Unterbleiben eines so betrachtet geregelten Vergabeverfahrens mit bestimmten Verfahrensgarantien und subjektiven Bieterrechten wird von der Antragstellerin gerade beanstandet.
20Ob der SAPV-Vertrag als öffentlich-rechtlicher Vertrag abgeschlossen werden soll, ist unerheblich. Dem Vergaberechtsregime des Vierten Teils des GWB unterfallen, um der Gefahr von Umgehungen des Vergaberechts zu begegnen, auch öffentlich-rechtliche Vereinbarungen.
21Um ein bloßes Zulassungsverfahren (sog. Open-house-Modell) handelt es sich bei dem hier praktizierten Verfahren zur Vergabe von SAPV nicht. Denn erstens haben die Antragsgegner eine mit dem bloßen Zulassungsverfahren nicht zu vereinbarende Auswahlentscheidung gefällt, kraft derer die Antragstellerin als Bewerberin ausgeschieden ist. Und zweitens sind die unionsrechtlichen Anforderungen an ein Zulassungsverfahren nicht ansatzweise eingehalten worden (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 2. Juni 2016 - C-410/14, Rn. 26 bis 31, 43 bis 47 sowie die darin zitierte Vorlageentscheidung des OLG Düsseldorf).
222. Die Antragstellerin ist entgegen der Ansicht der Beschwerde antragsbefugt (§ 107 Abs. 2 GWB). Sie hat durch eine formlose, an die Antragsgegnerin zu 1 gerichtete Bewerbung, durch Rüge und durch den Nachprüfungsantrag ihr Interesse am Auftrag ausreichend bekundet. In Gestalt eines ungeregelten Vergabeverfahrens ist von ihr eine Rechtsverletzung behauptet worden. Zudem droht der Antragstellerin der Schaden, dass ihre Zuschlagschancen bei dem praktizierten Vergabeverfahren auf Null sinken.
23Dass die Antragstellerin zum Vergabeverfahren bislang nicht die erforderlichen Eignungsnachweise eingereicht haben soll, ist unerheblich. Sie ist dazu von den Antragsgegnern bisher auch nicht aufgefordert worden, so dass sich dies auf ihre Zuschlagschancen nicht nachteilig auswirken darf.
24Der Rügeobliegenheit (§ 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB) ist die Antragstellerin nachgekommen. Auf die - im Übrigen unvollständige - Bieterinformation vom 1. Oktober 2015 hat sie unter dem 14./15. Oktober 2015 eine anwaltliche Rüge anbringen lassen. Mit Rücksicht darauf, dass die Antragstellerin zunächst anwaltlichen Rat gesucht hat und ihr für das Abfassen der Rüge eine angemessene Frist einzuräumen ist, genügen die Rüge und der Zeitpunkt nach der Rechtsprechung des Senats herkömmlichen Anforderungen an Unverzüglichkeit. Offenbleiben kann danach, ob das Merkmal der Unverzüglichkeit in § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB nach der Entscheidung des EuGH vom 28. Januar 2010 (C-406/08, Uniplex) überhaupt den unionsrechtlichen Anforderungen an den Bieterrechtsschutz entspricht und verneinendenfalls unberücksichtigt zu bleiben hat. Dahingestellt bleiben kann ebenso, ob die unvollständige Bieterinformation (und zwar in Bezug auf die Person des Zuschlagsdestinatärs) im Rechtssinn eine Rügeobliegenheit hat auslösen können. Falsch ist im Übrigen die Annahme der Beschwerde, allein das angebliche Wissen der Antragstellerin darüber, dass die Beigeladene mit ihr um den Auftrag konkurrierte, habe die Rügeobliegenheit ausgelöst. Die Rügeobliegenheit wird nicht durch ein Bieter- oder Bewerberverhalten begründet, sondern allein durch eine Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers im Vergabeverfahren, in der ein Verstoß gegen Vergaberechtsvorschriften erkannt wird.
253. Der Nachprüfungsantrag ist begründet, weil die Antragsgegner die Antragstellerin infolge Durchführens eines ungeregelten, mit keinen Verfahrensgarantien und Bieterrechten ausgestatteten Vergabeverfahrens in ihren Rechten verletzt haben (VKB 18).
26Dem durch die gemeinsame Presseerklärung vom 8. April 2015:
27„Um die Versorgung Sterbender sollte kein Preiswettbewerb stattfinden, deshalb haben sich alle rheinland-pfälzischen Leistungserbringer und Krankenkassen auf ein einheitliches Vertrags- und Vergütungskonzept verständigt.“
28begründeten Verdacht der Vergabekammer hinsichtlich eines Verstoßes gegen Art. 101 AEU-Vertrag und/oder § 1 GWB (VKB 18) schließt sich der Senat im Übrigen an. Ein Preiswettbewerb, den die Antragsgegner aus nachvollziehbaren und ihrer Bestimmungsfreiheit bei den Modalitäten des Vergabeverfahrens unterliegenden Gründen vermeiden möchten, lässt sich auch auf andere Weise abwenden.
29Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 78, 120 Abs. 2 GWB. Zu den Kosten ist die Antragsgegnerin zu 1 in derselben Weise wie die Beigeladene heranzuziehen. Die Antragsgegnerin zu 1 hat sich als einzige Antragsgegnerin am Beschwerdeverfahren mit eigenem Vortrag (sowie Antragstellung) beteiligt und Partei für den rechtlichen Standpunkt der Beigeladenen ergriffen. Dies gebietet, die Prozesskosten auf die Beigeladene und die Antragsgegnerin zu 1 aufzuteilen, die übrigen Antragsgegner von einer Kostentragung jedoch auszunehmen. Die bloße Anwesenheit von Vertretern übriger Antragsgegner im Senatstermin wirkt sich nicht kostenbelastend aus.
30Der Streitwertfestsetzung ist nach Maßgabe des § 50 Abs. 2 GKG zugrundegelegt worden: Die abzuschließende Rahmenvereinbarung darf höchstens vier Jahre lang dauern. Pro Jahr ist mit 220 Versicherungsfällen zu rechnen. Als Vergütung hat der Senat in Ermangelung von zur Differenzierung verwendbaren Anhaltspunkten und zur Vermeidung von Willkür einen Mindestsatz von 3.000 Euro pro Versicherungsfall angesetzt. Dem so zu ermittelnden Auftragsvolumen sind 19 % Umsatzsteuer hinzugesetzt worden. Das rechnerische Ergebnis ist mit vier multipliziert und auf fünf Prozent des Gesamtauftragswerts zurückgeführt worden.