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Die Beschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Euskirchen (210 XIV(B) 17/24) vom 23.09.2024 (jetzt Amtsgericht Paderborn, 11 XIV(B) 607/24) wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Betroffene.
Der Wert des Beschwerdegegenstands wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe:
2I.
3Der betroffene nigerianische Staatsbürger reiste erstmals eigenen Angaben zufolge am 28.03.2022 in die Bundesrepublik ein und stellte am 12.04.2022 einen Asylantrag, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Bescheid vom 11.05.2022 als offensichtlich unbegründet ablehnte. Zugleich forderte es ihn auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist wurden bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist und, im Falle einer fristgerechten Stellung eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage, bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Eilantrags durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt. Ihm wurde für den Fall der Nichtausreise die Abschiebung nach Nigeria angedroht.
4Den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz wies das Verwaltungsgericht B mit Beschluss vom 14.07.2022 ab. Die Ausreisepflicht ist seit dem 29.07.2022 vollziehbar.
5Die Klage wies das Verwaltungsgericht B mit Urteil vom 18.10.2022 ab.
6Nachdem der Betroffene am 14.03.2023 als nigerianischer Staatsbürger identifiziert wurde, war eine Abschiebung für den 03.05.2023 vorgesehen. Die Maßnahme konnte nicht stattfinden, nachdem der Betroffene nicht in seiner Unterkunft angetroffen werden konnte. Mit einer Chartermaßnahme am 13.06.2023 konnte er nicht abgeschoben werden, nachdem er seit dem 20.05.2023 abgängig war und sich nicht in der ZUE F, seiner ihm zugewiesenen Unterkunft, aufhielt.
7Am 27.07.2024 wurde der Betroffene in I festgenommen und mit Beschluss des Amtsgerichts I mit einer Haftdauer bis zum 11.09.2024 in die Abschiebungshafteinrichtung H verbracht. Eine unbegleitete Abschiebung erschien zu diesem Zeitpunkt innerhalb von drei Wochen durchführbar.
8Nachdem sich am 26.08.2024 Hinweise auf selbstgefährdendes Verhalten ergaben, teilte die ZFA C am 30.08.2024 mit, dass eine Sicherheitsbegleitung erforderlich sei. Die bereits geplante unbegleitete Maßnahme wurde storniert und eine begleitete Abschiebung für den 08.10.2024 geplant. Die Flugdatenbestätigung datiert vom 02.09.2024.
9Zusätzlich zur Sicherheitsbegleitung wurde eine medizinische Begleitung hinzugebucht, nachdem der Betroffene am 04.09.2024 wegen eines Verdachts auf einen Herzinfarkt ins Krankenhaus verbracht worden war, wobei er am selben Tag in die Abschiebungshafteinrichtung J zurückkehrte, nachdem der Verdacht ausgeschlossen werden konnte.
10Am 10.09.2024 lehnte das Amtsgericht J einen Antrag auf Haftverlängerung ab. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies das Landgericht J mit Beschluss vom 13.09.2024 zurück. Die Zurückweisung begründete es im Wesentlichen mit einem Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot. Wegen der Begründung wird auf den Beschluss des Landgerichts J vom 13.09.2024 (4 T 173/24) (Bl. 752-758 d. Ausländerakten) Bezug genommen. Der Betroffene wurde entlassen und begab sich in die ZUE F.
11Aufgrund einstweiliger Anordnung des Amtsgerichts F vom 17.09.2024 (Bl. 423-436 d. erstinstanzlichen Akten) nahm die Beteiligte zu 2) den Betroffenen am 19.09.2024 fest.
12Wegen des Sachverhalts wird im Übrigen auf die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Beschluss (Bl. 503-511 d. erstinstanzlichen Akten) sowie dem Haftantrag der Beteiligten zu 2) vom 19.09.2024 (Bl. 440-449 d.e.A.) Bezug genommen.
13Am 19.09.2024 hat das Amtsgericht F dem Betroffenen Rechtsanwalt G als Verfahrensbevollmächtigten bestellt und Anhörungstermin auf den 20.09.2024 anberaumt. Nachdem der Verfahrensbevollmächtigte Verhinderung angezeigt (Bl. 459 d.e.A.) und schriftlich Stellung genommen hatte (Bl. 462-463 d.e.A.), wobei er in diesem Zusammenhang gegen die einstweilige Anordnung vom 17.09.2024 Beschwerde einlegte, hat das Amtsgericht F mit Beschluss vom 20.09.2024 (Bl. 473-475 d.e.A.) im Wege der einstweiligen Anordnung die Ingewahrsamnahme des Betroffenen bis zum 23.09.2024, längstens bis zu einer Entscheidung über den beantragten Ausreisegewahrsam, angeordnet.
14Die Beteiligte zu 2) hat mit Schriftsatz vom 23.09.2024 (Bl. 496-498 d.e.A.) weiter Stellung genommen; auf die Stellungnahme wird wegen ihres Vorbringens Bezug genommen.
15Am 23.09.2024 hat das Amtsgericht F den Betroffenen in Anwesenheit seines Verfahrensbevollmächtigten persönlich angehört.
16Nach der persönlichen Anhörung hat es dem Antrag der Beteiligten zu 2) entsprochen und gegen den Betroffenen mit sofortiger Wirkung Ausreisegewahrsam bis zum 08.10.2024 angeordnet.
17Wegen des Inhalts der Anhörung wird auf den Anhörungsvermerk vom 23.09.2024 (Bl. 500-502 d.e.A.) Bezug genommen.
18Mit der am 04.11.2024 beim Amtsgericht Paderborn eingegangenen Beschwerdeschrift vom 07.10.2024 (Bl. 550 d.e.A.) hat der Betroffene durch seinen Verfahrensbevollmächtigten erneut Beschwerde gegen den Beschluss vom 17.09.2024 eingelegt.
19Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 04.10.2025 (Bl. 557-558 d.e.A.) der Beschwerde "gegen den Beschluss des Amtsgerichts F vom 23.09.2024" nicht abgeholfen und die Sache der Kammer zur Entscheidung vorgelegt.
20Am 08.10.2024 ist der Betroffene abgeschoben worden.
21Am 13.11.2024 gelangte eine weitere Beschwerdeschrift zur Akte, die der Betroffene am 07.10.2024 durch den Verfahrensbevollmächtigten Rechtsanwalt T beim Amtsgericht F eingereicht hatte und die am 04.11.2024 bei dem Amtsgericht Paderborn eingegangen war. Auch auf diese (Bl. 86-87 d.A.) wird Bezug genommen.
22Mit Verfügung vom 16.01.2025 (Bl. 101-103 d.A.) hat die Kammer darauf hingewiesen, dass - anders, als bis dahin angenommen - das zum Az. 5 T 215/24 geführte Beschwerdeverfahren den Beschluss des Amtsgerichts F vom 17.09.2024 betrifft. Zugleich hat die Kammer angekündigt, das Beschwerdeverfahren betreffend den Beschluss des Amtsgerichts F vom 23.09.2024 separat fortzuführen. Hinsichtlich der Beschwerde gegen den Beschluss vom 23.09.2024 hat die Kammer zudem auf Zweifel an der Zulässigkeit hingewiesen.
23Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur abschließenden Stellungnahme. Der Verfahrensbevollmächtigte T hat mit Schriftsatz vom 28.01.2025 (Bl. 111-112 d.A.) Stellung genommen, der Verfahrensbevollmächtigte G mit Schriftsatz vom 03.02.2025 (Bl. 116 d.A.). Dabei hat der Verfahrensbevollmächtigte T das Beschwerdeverfahren für erledigt erklärt; der Verfahrensbevollmächtigte G hat hingegen beantragt, festzustellen, dass der angefochtene Beschluss den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat. Auf beide Schriftsätze wird Bezug genommen.
24Der Kammer hat die Ausländerakte im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung in elektronischer Form vorgelegen.
25II.
26Die Beschwerde ist zulässig.
27Sie ist gemäß § 58 FamFG statthaft sowie gemäß §§ 63, 64 FamFG form- und fristgerecht eingelegt worden.
28Ob für die Wahrung der Beschwerdefrist der Eingang beim Amtsgericht F oder - wegen der durch die Abgabe begründeten umfassenden Zuständigkeit des aufnehmenden Gerichts (BGH, Beschluss vom 24. Juni 2020 – XIII ZB 39/19 –, Rn. 23, juris) - der Eingang beim Amtsgericht Paderborn maßgeblich ist, kann dahinstehen. Denn die Beschwerdefrist hat nicht zu laufen begonnen.
29Gemäß § 63 Abs. 3 FamFG beginnt die Frist mit der schriftlichen Bekanntgabe des Beschlusses an die Beteiligten. Die schriftliche Bekanntgabe hat gegenüber einem Beteiligten, dessen erklärten Willen der Beschluss nicht entspricht, gemäß § 41 Abs. 1 FamFG im Wege der förmlichen Zustellung zu erfolgen. Dabei ist gemäß § 15 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 FamFG i.V.m. § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO die Zustellung an den Verfahrensbevollmächtigten zu bewirken.
30Indes lässt sich der Akte des Amtsgerichts F eine förmliche Zustellung an den Verfahrensbevollmächtigten nicht entnehmen. Ausweislich des Anhörungsvermerks vom 23.09.2024 wurde dem Betroffenen eine Ausfertigung des Beschlusses zum Zwecke der Zustellung ausgehändigt. Ob auch eine Zustellung an den Verfahrensbevollmächtigten erfolgte, ist nicht dokumentiert. Auch im weiteren Verlauf enthält die Akte keinen Zustellungsnachweis an den Verfahrensbevollmächtigten. Da zudem auch kein Zustellungswille des Amtsgerichts F erkennbar ist, kommt eine Heilung des Zustellungsmangels nach § 189 ZPO nicht in Betracht (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Februar 2020 – XII ZB 291/19 –, Rn. 19, juris).
31Die Beschwerde ist auch nach Erledigung der Freiheitsentziehung gemäß § 62 Abs. 1 FamFG zulässig aufgrund des durch den Verfahrensbevollmächtigten G gestellten Feststellungsantrags. Soweit der Verfahrensbevollmächtigte T am 28.01.2025 erklärt hat, es bestehe kein Interesse an der Fortsetzung des Verfahrens und dieses werde für erledigt erklärt, steht dies dem am 03.02.2025 durch den Verfahrensbevollmächtigten G gestellten Feststellungsantrag nicht entgegen. Die Bestellung des Verfahrensbevollmächtigten G nach § 62d AufenthG gilt auch für die Dauer etwaiger Rechtsmittelverfahren (BGH, Beschluss vom 11. Juni 2024 – XIII ZA 2/24 –, Rn. 6, juris), sodass er Erklärungen namens des Betroffenen abzugeben vermag, wenngleich das Beschwerdeverfahren durch einen anderen Verfahrensbevollmächtigten eingeleitet worden ist, solange das Beschwerdeverfahren rechtshängig ist. Letzteres war - und ist - weiterhin der Fall. Der Verfahrensbevollmächtigte T hat zwar erklärt, es bestehe kein Interesse an der Fortführung des Beschwerdeverfahrens. Gleichwohl hat er die Beschwerde nicht zurückgenommen, sondern für erledigt erklärt. Eine Erledigungserklärung i.S.d. § 91a ZPO ist dem FamFG indes fremd, sodass diese ins Leere geht.
32Aus Gründen der Verfahrensökonomie macht die Kammer von der Möglichkeit Gebrauch, trotz des Fehlens einer ordnungsgemäßen Nichtabhilfeentscheidung des Amtsgerichts in der Sache zu entscheiden. Eine ordnungsgemäße Abhilfeentscheidung ist keine Verfahrensvoraussetzung für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens vor dem Beschwerdegericht (BGH, Beschluss vom 15. Februar 2017 – XII ZB 462/16 –, Rn. 13, juris).
33Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ist ausschließlich die Beschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss vom 23.09.2024, mit dem das Amtsgericht F den Ausreisegewahrsam in der Hauptsache bis zum 08.10.2024 angeordnet hat. Die einstweilige Anordnung des Amtsgerichts F vom 17.09.2024 ist Gegenstand des Beschwerdeverfahrens 5 T 215/24; die einstweilige Anordnung vom 20.09.2024 ist nicht angegriffen worden. Hieran ändert sich auch dadurch nichts, dass alle drei Beschlüsse - fehlerhaft - unter demselben Aktenzeichen ergangen sind. Die einstweilige Anordnung und die Hauptsache sind selbständige Verfahren, § 51 Abs. 3 Satz 1 FamFG.
34Die Beschwerde ist jedoch unbegründet.
35Die Anordnung des Ausreisegewahrsams durch das Amtsgericht F mit dem angegriffenen Beschluss ist rechtmäßig erfolgt und hat den Betroffenen nicht in seinen Rechten verletzt.
36Die Voraussetzungen der Anordnung des Ausreisegewahrsams bis zum 08.10.2024 lagen vor, §§ 50, 58, 62b 106 AufenthG, §§ 415, 425 FamFG.
37Ein zulässiger Gewahrsamsantrag i.S.d. § 417 Abs. 2 FamFG lag vor.
38Ein zulässiger Antrag der beteiligten Behörde ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind neben den Angaben zu Identität und gewöhnlichem Aufenthalt des Betroffenen Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs- oder Überstellungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 bis 5 FamFG). Die Durchführbarkeit der Abschiebung muss mit konkretem Bezug auf das Land, in das der Betroffene abgeschoben werden soll, dargelegt werden. Anzugeben ist dazu, ob und innerhalb welchen Zeitraums Abschiebungen in das betreffende Land üblicherweise möglich sind, von welchen Voraussetzungen dies abhängt und ob diese Voraussetzungen im konkreten Fall vorliegen (BGH, Beschluss vom 12. November 2019 – XIII ZB 5/19 –, Rn. 10, juris).
39Diese Darlegungen dürfen zwar knapp gehalten sein; sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen. Dazu müssen die Darlegungen auf den konkreten Fall bezogen sein und dürfen sich nicht in Leerformeln erschöpfen (BGH, Beschluss vom 5. Dezember 2023 – XIII ZB 14/21 –, Rn. 9, juris m .w. N.). Ob die Angaben in dem Haftantrag der beteiligten Behörde sachlich richtig sind oder eine tragfähige Grundlage für die beantragte Haft bieten, ist keine Frage der Zulässigkeit, sondern der Begründetheit des Antrags (BGH, Beschluss vom 12. Februar 2020 – XIII ZB 15/19 –, BGHZ 224, 344-350, Rn. 8).
40Der Gewahrsamsantrag der Beteiligten zu 2) vom 19.09.2024 genügt diesen Anforderungen.
41Die Beteiligte zu 2) schildert in ihrem Gewahrsamsantrag den Sachverhalt betreffend die Vorgeschichte des Betroffenen sowie zum erlassenen Bescheid des BAMF und zur vollziehbaren Abschiebungsanordnung. Ferner macht sie hinreichende Angaben zur Identität des Betroffenen und zur Vorlage von Reisepapieren. Zudem macht sie Ausführungen zur Rechtslage und legt dar, dass eine Rückkehrentscheidung vorliege. Sie legt dar, dass die Ausreisefrist abgelaufen und erheblich überschritten worden sei, dass feststehe, dass die Abschiebung innerhalb der Gewahrsamsfrist durchgeführt werden könne und dass der Betroffene ein Verhalten gezeigt habe, das erwarten lasse, dass er die Abschiebung erschweren oder vereiteln werde. Sie legt auch die einzelnen zur Abschiebung erforderlichen Schritte dar und erläutert, woran die bisherigen Abschiebungsversuche gescheitert sind und welche Maßnahmen getroffen worden sind, um eine Abschiebung nunmehr sicherstellen zu können.
42Der Gewahrsamsantrag war auch begründet.
43Unter den Voraussetzungen des § 62b Abs. 1 AufenthG kann ein Ausländer für einen Zeitraum von bis zu 28 Tagen zur Sicherung der Durchführbarkeit der Abschiebung in Ausreisegewahrsam genommen werden.
44Diese Voraussetzungen waren erfüllt.
45Die Überschreitung der Ausreisefrist um mehr als zwei Jahre war ohne weiteres erheblich im Sinne der Norm. Der Betroffene war auch nicht unverschuldet an der Ausreise gehindert.
46Es stand fest, dass die Abschiebung innerhalb des Gewahrsamszeitraums durchgeführt werden kann (§ 62b Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Dies ergibt sich aus der Flugdatenbestätigung für den 08.10.2024. Die übrigen Voraussetzungen der Abschiebung lagen ebenfalls vor.
47Der Betroffene hat ein Verhalten gezeigt, das erwarten ließ, dass er die Abschiebung erschweren oder vereiteln werde (§ 62b As. 1 Nr. 3 AufenthG).
48Gemäß § 62b Abs. 1 Nr. 3 Buchstabe d) AufenthG wird das Vorliegen der Voraussetzungen der Nr. 3 vermutet, wenn der Ausländer die Frist zur Ausreise um mehr als 30 Tage überschritten hat.
49Das ist der Fall. Die Ausreisefrist war um mehr als zwei Jahre überschritten.
50Liegen die in Abs. 1 Nr. 1 und 2 bezeichneten Voraussetzungen vor, so kann eine Absicht, die Abschiebung zu erschweren oder zu vereiteln, von den Ausländerbehörden ohne weitere Nachforschungen oder Ermittlungen unterstellt werden (Hailbronner, Ausländerrecht, § 62b AufenthG, Rn. 36).
51Zur Widerlegung der Vermutung genügt es nicht, dass der Betroffene, nachdem er aus der Sicherungshaft entlassen wurde, die ihm zugewiesene Unterkunft aufgesucht hat und dort angetroffen wurde. Der Ausreisegewahrsam nach § 62b AufenthG setzt gerade keine Fluchtgefahr voraus. Die fehlende Motivation, sich der Abschiebung entziehen zu wollen, lässt sich im Allgemeinen nur durch eine glaubwürdige Darlegung einer geplanten oder bereits ins Werk gesetzten freiwilligen Ausreise widerlegen. Offensichtlich ist die fehlende Entziehungsabsicht, wenn sich bereits aus den objektiven Umständen ergibt, dass ein Ausländer freiwillig in seinen Herkunftsstaat zurückkehren will, so z.B. wenn er sich bereits auf der Rückreise befindet oder die erforderlichen Maßnahmen für eine freiwillige Rückkehr getroffen hat (Hailbronner, Ausländerrecht, § 62b AufenthG, Rn. 37).
52Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Daraus, dass der Betroffene in die Unterkunft zurückgekehrt ist, ergibt sich nicht, dass er eine freiwillige Rückkehr überhaupt in Betracht gezogen hätte. Auch seine Angaben in der persönlichen Anhörung, wonach er mit seiner Abschiebung einverstanden sei, weil er des Rennens müde sei, erscheinen vor dem Hintergrund, dass er monatelang untergetaucht war, als Schutzbehauptung.
53Eine faktische Bindungswirkung des Beschlusses des Amtsgerichts J bzw. des Landgerichts J mit dem eine Verlängerung der Sicherungshaft abgelehnt worden war, besteht nicht. Die Sicherungshaft hat andere Voraussetzungen als der Ausreisegewahrsam. Liegen die Voraussetzungen der Sicherungshaft nicht, diejenigen des Ausreisegewahrsams aber sehr wohl vor, so kann Ausreisegewahrsam angeordnet werden. Richtig ist, dass Verstöße gegen das Beschleunigungsgebot sich auch auf künftige Haftanordnungen auswirken können. Indes kann die Kammer keinen relevanten Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot erkennen.
54Das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 GG sowie Art. 5 Abs. 4, Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende und zusätzlich in Art. 28 Abs. 3 Dublin-III-VO geregelte Beschleunigungsgebot schließt zwar einen organisatorischen Spielraum der Behörde nicht aus, verlangt aber, dass sie die Abschiebung oder Überstellung ohne vermeidbare Verzögerung betreibt und alle notwendigen Anstrengungen unternimmt, damit der Vollzug der Haft auf einen möglichst kurzen Zeitraum beschränkt werden kann. Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot führt dazu, dass die Haft aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht weiter aufrechterhalten werden darf (BGH, Beschluss vom 17. September 2024 – XIII ZB 23/22 –, Rn. 13, juris). Dabei steht nicht jeder Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in der Vergangenheit einer (erneuten) Haftanordnung entgegen (vgl. BGH, Beschluss vom 21. März 2023 – XIII ZB 32/22 –, Rn. 10, juris).
55Das Landgericht J hat einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot darin gesehen, dass mit dem ursprünglichen Haftantrag vom 24.07.2024 eine Notwendigkeit der Haft von sieben Wochen damit begründet worden sei, dass eine unbegleitete Rückführung nach Nigeria mit einer Vorlaufzeit von drei Wochen buchbar sei und die weiteren vier Wochen ab Flugbuchung zur Ausstellung des notwendigen Rückreisedokuments durch die nigerianischen Behörden erforderlich seien. Nachdem bereits im Zeitpunkt der Festnahme ein Laissez passer vorgelegen habe, habe die Beteiligte zu 2) nicht nachvollziehbar dargelegt, warum angesichts der bereits vorliegenden Rückreisedokumente eine Flugbuchung nicht innerhalb von drei Wochen möglich gewesen sei. Soweit sie sich auf ein Missverständnis zwischen den handelnden Behörden berufen habe, wonach die Beteiligte zu 2) irrig von der Nichterforderlichkeit der erneuten Beschaffung eines Passersatzpapieres ausgegangen und aufgrund dieses Missverständnisses darauf gerichtete Maßnahmen zunächst unterlassen hätte, liege auch in diesem Fall ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vor.
56Hierin mag prima facie ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot liegen. Indes stellte sich im Nachgang heraus, dass eine unbegleitete Abschiebung nicht in Betracht kam. Das relevante Verhalten des Betroffenen zeigte sich erstmals am 14.08.2024 und damit innerhalb von drei Wochen nach der Haftanordnung vom 24.07.2024. Im Nachgang reagierte die Beteiligte zu 2) unmittelbar und leitete ohne erkennbare Verzögerung die notwendigen Schritte für die Buchung eines begleiteten Abschiebefluges ein, der dann für den 08.10.2024 gebucht werden konnte. Demnach hätte auch im Falle einer Beachtung des Beschleunigungsgebots bei der ursprünglichen Flugbuchung, wenn also ein Flug drei Wochen nach dem 24.07.2024 gebucht worden wäre, die unbegleitete Abschiebung nicht stattfinden können und eine sicherheits- und ärztlich begleitete Abschiebemaßnahme gebucht werden müssen. Es ist zudem nicht ersichtlich, dass bei einer kürzeren Dauer der ursprünglich angeordneten Sicherungshaft das selbstgefährdende Verhalten des Betroffenen sich nicht oder zu einem früheren Zeitpunkt manifestiert hätte. Im Ergebnis war eine Abschiebung vor dem 08.10.2024 damit auch bei strenger Beachtung des Beschleunigungsgebots nicht möglich.
57Auch im Übrigen erweist sich der Ausreisegewahrsam als verhältnismäßig.
58Mildere Mittel, etwa eine Wohnsitzauflage, kamen vor dem Hintergrund des bisherigen Verhaltens des Betroffenen nicht in Betracht.
59Soweit sein Bevollmächtigter die Anwendung einer elektronischen Fußfessel als milderes Mittel ins Gespräch gebracht hat, kommt eine solche i.R.d. Aufenthaltsrechts nur unter den Voraussetzungen des § 56a AufenthG in Betracht. Danach kann eine elektronische Fußfessel angeordnet werden, um eine erhebliche Gefahr für die innere Sicherheit oder für Leib und Leben Dritter abzuwehren. Indes ist nicht ersichtlich, dass eine solche von dem Betroffenen ausging.
60Soweit der Betroffene erstmals mit der Beschwerdeschrift vom 07.10.2024, die erst nach seiner Abschiebung zur Akte gelangt ist, eine schützenswerte Vater-Kind-Beziehung zu einem in der Bundesrepublik lebenden minderjährigen Kind geltend gemacht hat, ergibt sich aus diesem Vortrag nicht, dass eine Beistandsgemeinschaft vorläge, die durch den Haftzeitraum von 16 Tagen einem unverhältnismäßigen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG bzw. die Rechte aus Art. 8 EMRK ausgesetzt gewesen wäre.
61Nachdem - s.o. - das Beschleunigungsgebot zumindest im Ergebnis eingehalten wurde und der Betroffene außer mündlichen Zusagen weiterhin keine Bereitschaft zu einer freiwilligen Ausreise erkennen ließ, überwog das staatliche Interesse an der Sicherung seiner Ausreise das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen.
62Auch die übrigen Voraussetzungen der Anordnung des Ausreisegewahrsams lagen vor.
63Eine Unterkunft, von der aus die Ausreise des Betroffenen möglich war, stand zum Vollzug des Ausreisegewahrsams zur Verfügung (§ 62b Abs. 2 AufenthG). Der Vollzug des Ausreisegewahrsams erfolgte in der Unterbringungseinrichtung für Ausreisepflichtige (UfA) C. Anders, als nach altem Recht, muss der Gewahrsamsvollzug nicht mehr in der Nähe einer Grenzübergangsstelle erfolgen. Sinn und Zweck dieser Regelung ist nach dem Willen des Gesetzgebers die Einbeziehung aller Abschiebungshafteinrichtungen, unabhängig von ihrer Entfernung zu einem Flughafen oder einer Grenzübergangsstelle, als Vollzugsort für den Ausreisegewahrsam zu ermöglichen (BT-Drs. 20/9463, S. 22).
64Abschiebungshindernisse gemäß §§ 60, 60a AufenthG lagen nicht vor.
65Die Haftgerichte haben grundsätzlich nicht zu prüfen, ob die Ausländerbehörde die Abschiebung zu Recht betreibt, wenn nicht eine offenkundige Rechtsverletzung oder eine offensichtliche Unrichtigkeit der behördlichen Entscheidung vorliegt. Bei der Prognose, ob die Abschiebung trotz eines von dem Betroffenen geltend gemachten Abschiebungshindernisses durchgeführt werden kann, hat der Haftrichter eigene Ermittlungen anzustellen; insbesondere muss er sich über den Stand und die Erfolgsaussichten eines behördlichen oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens erkundigen, in dem über das Vorliegen etwaiger Abschiebungshindernisse entschieden wird (BGH, Beschluss vom 5. März 2024 – XIII ZB 12/22 –, Rn. 16, juris). Hat der Betroffene dagegen Verwaltungsrechtsschutz nicht beantragt, haben die Haftgerichte von dem Bestand der Verwaltungsentscheidungen auszugehen und eine angeordnete Haft gegebenenfalls gemäß § 426 FamFG (von Amts wegen) aufzuheben, wenn ihnen später bekannt wird, dass der Betroffene bei dem Verwaltungsgericht doch Rechtsschutz beantragt hat und zu erwarten ist, dass das Verwaltungsgericht dem Antrag entsprechen wird (BGH, Beschluss vom 20. September 2017 – V ZB 118/17 –, Rn. 18, juris).
66Dass der Betroffene verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz - etwa wegen seines angeblich in Deutschland lebenden Kindes - gesucht hätte, ist nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich.
67Die Zustimmung der Staatsanwaltschaft war nicht erforderlich.
68Haftausschließungsgründe sind nicht ersichtlich.
69Das amtsgerichtliche Verfahren ist nicht zu beanstanden. Insbesondere ist der Betroffene persönlich angehört und ihm ist gemäß § 62d AufenthG ein Verfahrensbevollmächtigter bestellt worden.
70Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 81, 84 FamFG, die Wertfestsetzung auf § 36 Abs. 2 GNotKG.
71Rechtsbehelfsbelehrung:
72Gegen diesen Beschluss ist die Rechtsbeschwerde statthaft.
73Die Rechtsbeschwerde ist binnen einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung des Beschlusses durch Einreichen einer Beschwerdeschrift bei dem Bundesgerichtshof Karlsruhe, Herrenstr. 45a, 76133 Karlsruhe in deutscher Sprache einzulegen. Die Rechtsbeschwerdeschrift muss die Bezeichnung der angefochtenen Entscheidung (Datum des Beschlusses, Geschäftsnummer und Parteien) sowie die Erklärung enthalten, dass Rechtsbeschwerde gegen diese Entscheidung eingelegt wird.
74Die Rechtsbeschwerde ist, sofern die Rechtsbeschwerdeschrift keine Begründung enthält, binnen einer Frist von einem Monat nach Zustellung der angefochtenen Entscheidung zu begründen. Die Begründung der Rechtsbeschwerde muss enthalten:
751. die Erklärung, inwieweit die Entscheidung des Beschwerdegerichts oder des Berufungsgerichts angefochten und deren Aufhebung beantragt werde (Rechtsbeschwerdeanträge),
762. in den Fällen, in denen die Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist eine Darlegung, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert,
773. die Angabe der Rechtsbeschwerdegründe, und zwar
78- die bestimmte Bezeichnung der Umstände, aus denen sich die Rechtsverletzung ergibt;
79- soweit die Rechtsbeschwerde darauf gestützt wird, dass das Gesetz in Bezug auf das Verfahren verletzt sei, die Bezeichnung der Tatsachen, die den Mangel ergeben.
80Die Parteien müssen sich vor dem Bundesgerichtshof durch einen beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen, insbesondere müssen die Rechtsbeschwerdeschrift und die Begründung der Rechtsbeschwerde von einem solchen unterzeichnet sein. Mit der Rechtsbeschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift der angefochtenen Entscheidung vorgelegt werden.
81Hinweis zum elektronischen Rechtsverkehr:
82Die Einlegung ist auch durch Übertragung eines elektronischen Dokuments an die elektronische Poststelle des Gerichts möglich. Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 130a ZPO nach näherer Maßgabe der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (BGBl. 2017 I, S. 3803) eingereicht werden. Auf die Pflicht zur elektronischen Einreichung durch professionelle Einreicher/innen ab dem 01.01.2022 durch das Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10. Oktober 2013, das Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 5. Juli 2017 und das Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 05.10.2021 wird hingewiesen.
83Weitere Informationen erhalten Sie auf der Internetseite www.justiz.de.