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Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger, gesetzlich vertreten durch seine Eltern, macht gegen die Beklagte unter anderem Ansprüche auf Zahlung eines Schmerzensgeldes und auf Feststellung der Schadensersatzpflicht wegen einer angeblich fehlerhaften Behandlung im Rahmen seiner Entbindung am 04.12.2019 geltend.
2Die Mutter des Klägers, eine damals 33-jährige III Gravida/II Para (Notsectio bei pathologischem CTG eines lebenden Kindes in 2012 und Spontangeburt in 2017), stellte sich zur Planung der Geburt des Klägers am 30.11.2019 im Hause der Beklagten vor. Sie befand sich zu diesem Zeitpunkt mit dem Kläger in der 37+0 SSW. Bei einer durchgeführten sonographischen Kontrolle zeigte sich ein unauffälliger Befund. Das Gewicht des Klägers wurde auf 2.914 g geschätzt. Der Mutter des Klägers wurde empfohlen, eine spontane Geburt anzustreben und sich zum Geburtstermin zur Fetometrie erneut vorzustellen.
3Die Mutter des Klägers erlitt am 03.12.2019 gegen 23.00 Uhr in der 40+0 SSW einen vorzeitigen Blasensprung. Daraufhin suchte sie am Morgen des 04.12.2019 die Frauen- und Kinderklinik der Beklagten auf und wurde dort um 8.10 Uhr aufgenommen. Das Gewicht der Mutter des Klägers betrug 106 kg bei einer Körpergröße von 160 cm und einem Gewicht vor der Schwangerschaft von 87 kg. Das Geburtsgewicht des Klägers wurde an diesem Tag auf 3.464 g geschätzt.
4Bei der Aufnahme der Mutter des Klägers erfolgten insofern zunächst eine geburtshilfliche und eine Ultraschalluntersuchung. Gegen 12:00 Uhr erfolgte die Einlage einer intravaginalen Tablette Minprostin zur Einleitung der Geburt. Ab 17:30 Uhr begann eine regelmäßige Wehentätigkeit. Die Mutter des Klägers wurde dann gegen 18:00 Uhr erneut in den Kreißsaal aufgenommen. Es erfolgte eine peripartale Antibiose und um 18.50 Uhr der Anschluss eines Oxytocin-Tropfes. Gegen 20:30 Uhr erfolgte eine CTG-Kontrolle, die einen Normalbefund ergab. Der Muttermund war zu diesem Zeitpunkt bei 8 Zentimetern. Gegen 21:00 Uhr bestand ein Pressdrang bei der Gebärenden und der Muttermund war vollständig geöffnet. Um 21:05 erfolgte ein aktives Pressen der Mutter des Klägers. Der Oberarzt, der Zeuge F, und die Hebamme, die Zeugin G, waren anwesend.
5Um 21:17 Uhr kam es zur Geburt des Kopfes des Klägers in Anwesenheit der Zeugin G und des Zeugen F. Es bestand der Verdacht auf ein Turtle-Sign. Die laufende Oxytocin-Infusion (eingestellt mit 10 ml/Std.) wurde abgestellt. Das CTG war weiterhin unauffällig.
6Um 21:18 Uhr erfolgte die Übernahme der Geburt durch den Zeugen F. Dieser führte das Mc-Roberts-Manöver drei Mal bei der liegenden Gebärenden durch. Um 21:19 Uhr zeigte sich, dass die linke kindliche Schulter weiterhin hinter der Symphyse festhing. Es lag ein Dammriss zweiten Grades vor. Der Zeuge F gab einen suprasymphysären Druck von rechts seitlich gegen die vordere Schulter bei leicht angezogenen Beinen. Um 21:20 Uhr kam es dann zur Lösung der vorderen Schulter und zur Entwicklung des Rumpfes durch die Zeugin G. Es erfolgte die Information an die diensthabende Pädiaterin. Der Kläger wurde abgenabelt und anschließend an eine Pädiaterin übergeben. Der Kläger wurde rosig und schreiend geboren. Das Geburtsgewicht lag bei 3.650 g, Apgar 7-9-10, Nabelschnur-pH 7,24, BE -8,4. Es bestand der Verdacht auf eine untere Plexusparese.
7Im Geburtsprotokoll findet sich (siehe Seite 189 d.A.) für 21.05 Uhr folgende Eintragung:
8„Aktives pressen
9OA Hr. F anwesend“
10Für 21.17 Uhr ist folgendes notiert:
11„Geburt des Kopfes
12Schildkrötenzeichen
13Feststellung einer Schulterdystokie Oxy. ab.
14Mc Roberts Manöver
153x Schulter folgt nicht. li Schulter hängt unter der Symphyse Feststellung einer hohen Schulterdystokie erfolgt suprasymphysischer
16Druck
17Geburt der Schulter
18um 21.20 Uhr“
19Der Geburtsbericht ist rechtsseitig mit dem Kürzel der Zeugin G abgezeichnet. Unter der Eintragung von 21.17 Uhr findet sich die Unterschrift des Zeugen F.
20Im Krankenhaus der Beklagten existieren Anweisungen für ein standardisiertes
21Vorgehen bei Schulterdystokie (Anlage B 3, Bl. 193 d.A. - „SOP Schulterdystokie“). Im Hinblick auf das Prozedere bei Vorliegen einer Schulterdystokie heißt es unter anderem:
22„[…]
23• Alarmierung Facharzt/Hintergrunddienst
24• wenn möglich Hilfe durch erfahrene Hebamme
25• Alarmierung diensthabenden Anaesthesisten
26• McRoberts Manöver - mehrmaliges Überstrecken u. Beugen der maternalen Beine in Kombination mit suprasymphysärem Druck • kein Kristeller-Handgriff!
27• Abstellen des Oxytocintropfes und ggf. Wehenhemmung durch
28Notfalltokolyse […]“
29Nach einer weiteren Abklärung im Behandlungsverlauf wurde bei dem Kläger eine Claviculafraktur und Plexusparese links festgestellt. Der Kläger wurde dann gemeinsam mit seiner Mutter zunächst am 07.12.2019 aus der stationären Behandlung entlassen mit der Empfehlung, sich in der Universitätsklinik B zur Planung einer operativen Versorgung der Plexusparese vorzustellen.
30Bei einer Vorstellung des Klägers bei dem plastischen Chirurgen C in B am 17.12.2019 konnte dieser noch keine Motorik des betroffenen linken Armes als Zeichen einer Spontanregeneration feststellen, sodass nach weiterer Kontrolle am 03.04.2020 dann eine Plexusrevision mit Neurolyse erfolgte. In dem an den Kinderarzt adressierten Arztbrief (siehe Bl. 445 d.A.) ist als Diagnose angegeben: „Schwere geburtstraumatische Läsion Plexus brachialis links bei
31Schulterdystokie, Clavikulafraktur“. In dem Operationsbericht des Chirurgen Dr.
32C vom 03.04.2020 (Bl. 442 f. d.A.) heißt es unter OP-Diagnose: „Komplette Plexusverletzung links, geburtstraumatisch mit Wurzelausriss C7 und intraforaminaler Zerstörung Wurzel C6 und C8, ausgeprägte Fibrose des inferioren
33Trunkus“.
34Mit Bescheid des Kreises T vom 22.09.2020 (Anlage K 2, Bl. 26 ff. d.A.) ist für den Kläger ein Grad der Behinderung von 80 sowie festgestellt worden, dass der Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H erfüllt.
35Der Kläger holte vorgerichtlich ein Privatgutachten von Herrn Prof. Dr. S ein, welches dieser unter dem 20.11.2020 erstattete (Anlage K 1, Bl. 15 ff. d.A.). Des Weiteren erfolgten unter dem 25.08.2021 sowie unter dem 05.01.2023 im Auftrag des Klägers gutachterliche Stellungnahmen von Herrn Prof. Dr. T (Anlage K 4, Bl. 34 d.A. und Anlage A 2, Bl. 532 ff. d.A.).
36Mit anwaltlichem Schreiben vom 29.11.2021 (Anlage K 5, Bl. 35 ff. d.A.) forderte der
37Kläger die Haftpflichtversicherung der Beklagten erfolglos unter Fristsetzung bis zum 16.12.2021 zur Anerkennung der Ansprüche des Klägers dem Grunde nach auf und verlangte zudem eine Vorschusszahlung von mindestens 400.000,- €.
38Der Kläger ist der Ansicht, dass der Beklagten im Zusammenhang mit seiner Geburt (grobe) Behandlungsfehler vorzuwerfen seien.
39Der diensthabende Oberarzt, der Zeuge F, habe die Grenzen der
40Delegierbarkeit überschritten, indem er die endgültige Entwicklung des Kindes der Hebamme überlassen habe. Schwerwiegende Geburtskomplikationen und geburtshilfliche Operationen seien aber generell eine ärztliche Aufgabe und stünden unter dem Arztvorbehalt, sodass davon auszugehen sei, dass das geburtshilfliche Management grob fehlerhaft gewesen sei.
41Der Verzicht auf eine tokolytische Behandlung nach Beendigung der Wehenmittelgabe sowie eine großzügige Erweiterung der Episiotomie hätten sich im
42Hinblick auf eine Vermeidung der fortschreitenden Schulterverkeilung und der
43Klavikulafraktur beim Feten risikomindernd auswirken können. Eine Erleichterung der Geburt hätte auch durch eine möglichst rasch wirksame Analgesie und ggf. auch durch eine Allgemeinanesäthesie erreicht werden können.
44Der vorgelegte Geburtsbericht entspreche nicht den Anforderungen der Leitlinie; er sei unzureichend kurz und wenig informativ, die durchgeführten Maßnahmen würden nur benannt, Einzelheiten über etwaige Erkenntnisse, die sich bei der technischen
45Durchführung der gesamten Maßnahmen abzeichneten oder aufgetretene
46Schwierigkeiten würden nicht erwähnt. Ebenso fehlten Hinweise auf das angestrebte Ziel. Es entstehe vielmehr der Eindruck, dass das Problem der hohen Schulterdystokie in nur drei Minuten komplikationslos und rasch habe gelöst werden können. Die sei aber völlig unmöglich, denn bereits das erste Ergebnis der kinderärztlichen Untersuchung, die unmittelbar im Anschluss an die Erstuntersuchung und die U1 erfolgte, habe zu der Verdachtsdiagnose untere Plexusparese links geführt. Der im Geburtsbericht beschriebene Ablauf der zur Geburt führenden Maßnahmen zur Überwindung der Schulterdystokie enthalte demnach keinerlei Hinweise auf zumindest zeitweise aufgetretene Komplikationen, die eigentlich angesichts der Schwere der postnatalen nachweisbaren Nervenschädigungen zu erwarten gewesen seien.
47Zudem verweist der Kläger auf die gutachterliche Stellungnahme Prof. Dr. T vom 05.01.2023 (Bl. 533 d.A.). Dort ist ausgeführt, dass die Abgrenzung zwischen einem schicksalhaften Verlauf und einem behandlungsfehlerhaften Schaden bei einer Schulterdystokie schwierig sei. Ebenfalls werde zugestimmt, dass laut Dokumentation die Lösung der Schultern durch etablierte Manöver und ohne größere Probleme geschehen sein soll. Dies sei allerdings aufgrund der gegebenen Schädigungsmuster beim Kläger nicht nachvollziehbar. Zutreffend sei insofern zwar, dass definitiv nicht jede Plexusparese Folge einer fehlerhaften Vorgehensweise unter der Geburt sei; es sei aber eindeutig belegt, dass bei einem derart schweren Schadensmuster, wie es bei dem Kläger aufgetreten sei, auch vorliegend massive Kräfte wirksam geworden seien. Allein aus dem Schädigungsmuster müsse darauf geschlossen werden, dass mit massiver Kraft auf das kindliche Köpfchen und Plexus eingewirkt worden sein müsse, anders sei das Schädigungsmuster nicht erklärbar. Diese Krafteinwirkung werde häufig durch einen kräftigen und ruckartigen Zug bereits durch die Hebamme aufgebracht. Daher ergebe sich, dass häufig eine weitgehend unkomplizierte Geburt dokumentiert werde, tatsächlich aber eine massive und fehlerhafte Krafteinwirkung auf das Kind vorgenommen worden sei. Auch vorliegend habe man es mit einer typischen Fallkonstellation zu tun, bei der die Dokumentation der Geburt und das Schadensmuster in einem eklatanten Widerspruch stünden. In diesen Fällen sei immer die Annahme gerechtfertigt, dass vermeidbar fehlerhaft mit zu hohem Kraftaufwand der Schaden herbeigeführt worden sei.
48Im Ergebnis habe die Behandlung der Schulterdystokie zu einem schwerwiegenden
49Schaden in Form einer komplexen Plexus brachialis-Verletzung einschließlich Klavikulafraktur geführt. Die Plexuslähmung sei geburtstraumatisch bedingt, was teilweise zu Wurzelausrissen (C7) und einer Zerstörung der Wurzel C6 und C8 geführt habe. Daraus resultiere eine komplette Lähmung des linken Armes. Es handele sich um grobe Behandlungsfehler, deren Kausalität auf das ärztliche Vorgehen zurückgeführt werden müsse.
50Zu den Folgen behauptet der Kläger, dass er wegen der geburtsfehlerhaft bedingten Behinderungen ständig auf fremde Hilfe angewiesen sei. Erschwerend komme hinzu, dass er ein Leben lang sich seiner Behinderung bewusst sein werde, was die Tragik des vorliegenden Geburtsschadens noch erhöhe. Er werde zudem niemals ein normales Leben führen können. Insbesondere werde es ihm verwehrt sein, einen vergleichbaren Beruf auszuüben, wie sein Vater. Zahlreiche Sportarten, die für seine späteren Altersgenossen selbstverständlich seien, werde er niemals ausüben können. Zudem werde er sein gesamtes Leben lang auf fremde Hilfe angewiesen sein. Dem Kläger seien von Anfang an typische Perspektiven und die Erlebnisvielfalt eines unbehinderten Jungen genommen worden. Die notwendige Anwesenheit von Helfern werde es ihm unmöglich machen, sich eine eigene intime Sphäre aufzubauen, ihm würden dadurch solche für jedes Leben ganz wesentliche Erfahrungen verwehrt bleiben.
51Der Kläger ist der Ansicht, dass ein Schmerzensgeld i.H.v. mindestens 500.000,- € als angemessen zu bewerten sei.
52Der Kläger ist zudem der Auffassung, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihn von den Kosten der von ihm eingeholten Privatgutachten freizustellen, da er zur sachgerechten Bearbeitung der vorliegenden Angelegenheit gehalten gewesen sei, ein Privatgutachten einzuholen, weil der Kläger ansonsten nicht in der Lage gewesen wäre, den vorliegenden Sachverhalt in geeigneter Art und Weise vortragen zu können. Der Kläger sei zudem nunmehr darauf angewiesen, dass der weitere Privatgutachter, Herr Prof. Dr. T, die diesseitigen Ausführungen im Gerichtstermin unterstützen werde.
53Der Kläger beantragt,
541. die Beklagte zu verurteilen, an ihn einen angemessenen
55Schmerzensgeldkapitalbetrag, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5% Punkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,
562. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm jeden weiteren zukünftigen bis dato nicht vorhersehbaren immateriellen Schaden und den gesamten materiellen Schaden für Vergangenheit und Zukunft zu ersetzen, der ihm dadurch entstanden ist oder noch entstehen wird, dass dem Kläger unter seiner Geburt am 04.12.2019 grobe ärztliche Behandlungsfehler zugefügt worden sind, soweit die materiellen Ansprüche nicht aufgrund sachlicher und/oder zeitlicher Kongruenz auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind, bzw. noch übergehen werden,
573. die Beklagte zu verurteilen, ihn hinsichtlich der Zahlung außergerichtlich entstandener Gebühren und Auslagen seines Prozessbevollmächtigten, Rechtsanwalt Q, in Höhe von 12.668,74 € freizustellen,
584. die Beklagte zu verurteilen, ihn auch hinsichtlich der Zahlung außergerichtlich entstandener Gebühren und Auslagen für das schriftliche Sachverständigengutachten des Herrn Prof. Dr. med. S in Höhe von 5.400,00 € ebenfalls freizustellen sowie
595. die Beklagte zu verurteilen, ihn auch hinsichtlich der Zahlung der Gebühren und Auslagen des Privatgutachters Herrn Prof. Dr. med. T in Höhe von 2.238,99 € freizustellen.
60Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
61Die Beklagte ist der Ansicht, dass die Entbindung des Klägers in ihrer Klinik lege artis durchgeführt worden sei. Dazu behauptet sie, dass das geburtshilfliche Management insoweit auf der Grundlage der SOP der Beklagten erfolgt sei. Entgegen der Ausführungen des Klägers habe der Geburtsverlauf sich so wie dokumentiert zugetragen. Der Hinweis des Privatgutachters, der Verzicht auf eine tokolytische Behandlung nach Beendigung der Wehenmittelgabe hätte sich risikomindernd auswirken können, rechtfertige nicht die Annahme eines Behandlungsfehlers; das gewählte Vorgehen sei nicht zu beanstanden. Es sei auch keine Erweiterung der Episiotomie geboten gewesen. Hierbei handele es sich um eine unzulässige ex-postBetrachtung. Bei der Gebärenden habe bereits ein zweitgradiger Dammriss vorgelegen; insofern sei auch festgehalten worden, dass „vaginal genug Platz“ gewesen sei. Diese Beurteilung sei ex ante auch sachgerecht. Es liege zudem keine unzulässige Delegation der geburtshilflichen Tätigkeit vor. Aus den Aufzeichnungen ergebe sich, dass der Oberarzt mit der Durchführung des suprasymphysären Drucks beschäftigt gewesen sei. In dieser Situation hätte der Oberarzt gar nicht die Möglichkeit gehabt, das Kind selbst zu entwickeln. Insofern sei es sachgerecht gewesen, dies im Rahmen der Aufgabenteilung der erfahrenen Hebamme zu überlassen. Die Beklagte bestreitet zudem, dass ein Ursachenzusammenhang zwischen einem Behandlungsfehler und den geltend gemachten Beeinträchtigungen bestünde. In der Literatur würden vielmehr auch intrauterine Plexusschädigungen beschrieben. Es bestehe kein zwingender Zusammenhang zwischen einer Plexusläsion und der Schulterdystokie. Ferner könne nicht von dem Schadensbild auf eine fehlerhafte Entbindung geschlossen werden.
62Im Übrigen sei zumindest das verlangte Schmerzensgeld übersetzt. Mit Nichtwissen bestreitet die Klägerin, dass bei dem Kläger für das Gutachten S Kosten in
63Höhe von 5.400,00 € angefallen seien.
64Das Gericht hat den Vater des Klägers persönlich angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen F und der Zeugin G sowie durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. L, welches dieser in der mündlichen Verhandlung vom 21.04.2023 mündlich erläutert hat. Hinsichtlich des Ergebnisses der Anhörung und der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen vom 30.11.2022 und auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 21.04.2023 Bezug genommen.
Die insgesamt zulässige Klage ist in der Sache unbegründet.
66I.
67Dem Kläger steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes aus §§ 280 Abs. 1, 630a, 278, 253 Abs. 2 BGB, §§ 831, 823, 253 Abs. 2 BGB nicht zu.
68Zwar ist der Kläger in den Schutzbereich des zwischen der Mutter des Klägers und der Beklagten bestehenden Behandlungsvertrages i.S.d. § 630a Abs. 1 BGB einbezogen.
69Der Kläger vermochte jedoch den ihm obliegenden Beweis eines
70Behandlungsfehlers nicht zu erbringen.
71In Anbetracht der durchgeführten Beweisaufnahme – insbesondere auf Grundlage des schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. L und dessen mündlicher Erläuterung im Verhandlungstermin – konnte der Kläger zur Überzeugung der Kammer einen Behandlungsfehler der Beklagten während der Entbindung am 04.12.2019 nicht nachweisen.
72Die Beklagte war verpflichtet, die Behandlung der Mutter des Klägers nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards durchzuführen (vgl. zum ärztlichen Soll-Standard: Geiß/Greiner,
73Arzthaftpflichtrecht, 7. Auflage 2014, B Rn. 2 ff.).
74Die ärztlichen Pflichten sind auf eine Behandlung und Versorgung des Patienten gerichtet, in der Regel mit dem Ziel der Wiederherstellung seiner körperlichen und gesundheitlichen Integrität, die den Regeln der ärztlichen Kunst, d.h. mindestens dem im Zeitpunkt der Behandlung geltenden medizinischen Standard des jeweiligen Fachgebiets entspricht. Standard ist, was auf dem betreffenden Fachgebiet dem gesicherten Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht und in der medizinischen Praxis zur Behandlung der jeweiligen gesundheitlichen Störung anerkannt ist. Der Arzt muss unter Einsatz der von ihm nach diesem Standard zu fordernden sowie seiner speziellen und darüber hinausgehenden persönlichen medizinischen Kenntnisse und Fähigkeiten im konkreten Fall, d.h. unter Berücksichtigung der konkreten Umstände der Behandlung, vertretbar über die diagnostisch und therapeutisch zu treffenden Maßnahmen entscheiden und diese sorgfältig durchführen, insbesondere diejenigen Maßnahmen ergreifen, die von einem gewissenhaften, aufmerksamen Arzt nach dem Standard seines Fachgebiets in dieser Situation erwartet werden dürfen (vgl. Palandt/Weidenkaff, 81. Auflage 2022 § 630a Rn. 9 f.; BGH, Urteil vom 24.02.2015, Az. VI ZR 106/13; Urteil vom 15.04.2014, Az. VI ZR 382/12).
75Ausgehend von diesen Maßstäben hat der Kläger das Vorliegen eines
76Behandlungsfehlers nicht nachgewiesen
771.
78Soweit der Kläger rügt, das geburtshilfliche Management sei grob fehlerhaft gewesen, weil der Oberarzt F der Zeugin G als diensthabender Hebamme pflichtwidrig die Entwicklung des Kindes überlassen habe, vermochte die Kammer dem nicht zu folgen.
79Zwar kann aus der Übertragung von ärztlichen Behandlungsaufgaben an nicht hinreichend qualifiziertes nichtärztliches Personal oder aus der mangelnden Anleitung und Kontrolle prinzipiell ein Behandlungsfehler folgen. Im geburtshilflichen Bereich ist allerdings zunächst die besondere Stellung der Hebammen, die ihnen insbesondere im Zusammenhang mit der Entbindung zukommt, zu berücksichtigen. Hieraus ergeben sich Besonderheiten im Verhältnis zwischen Hebamme und Arzt, aus denen folgt, dass es grundsätzlich zu den Aufgaben der Hebammen gehört, eine Geburt ohne besondere Komplikationen selbstständig zu betreuen. Jedoch sind sie verpflichtet, bei Komplikationen einen Arzt heranzuziehen. Eine Hebamme darf dementsprechend auch nicht allein mit der Überwachung einer schwierigen Geburt betraut werden (Hager, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2021, § 823, I 31a m.w.N.). Diesen Maßstäben ist das Vorgehen der Zeugin G und des Zeugen F gerecht geworden, denn der Zeuge F war als zuständiger Oberarzt bereits vor Auftreten des Turtle-Signs anwesend, sodass die auch in der
80Handlungsanweisung der Beklagten vorgesehene Alarmierung des
81Facharztes/Hintergrunddienstes nicht mehr erfolgen musste. Ab Übernahme der Behandlung durch den Arzt untersteht die Hebamme seinen Weisungen und ist insoweit von eigener Verantwortung grundsätzlich befreit.
82Nach Überzeugung der Kammer verstieß es demnach auch nicht gegen die geltenden ärztlichen Standards, der Hebamme, der Zeugin G, die Entwicklung des Kindes zu überlassen, während der pflichtgemäß anwesende Oberarzt, der Zeuge F, das Manöver des suprasymphysären Drucks eigenhändig ausgeführt hat.
83Hierzu hat der Sachverständige Prof. Dr. L in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt, dass die Entwicklung des Kindes in der konkreten Situataion aus medizinischer Sicht habe auf die Hebamme delegiert werden dürfen. Begründet hat der Sachverständige dieses Ergebnis damit, dass gemäß Berufsordnung eine der
84Aufgaben von Hebammen darin bestehe, „ interprofessionell mit anderen Berufsgruppen fachlich zu kommunizieren und effektiv zusammenzuarbeiten und bei der Zusammenarbeit individuelle, multidisziplinäre und berufsübergreifende Lösungen vor allem für regelwidrige Schwangerschafts-, Geburts- und
85Wochenbettverläufe zu entwickeln und teamorientiert umzusetzen“. Das Auftreten einer Schulterdystokie könne als regelwidriger Geburtsverlauf gewertet werden, der zur Lösung der Zusammenarbeit im Team bedürfe. Für die – vorliegend gebotene – Durchführung des Mc-Roberts-Manövers müssten in der Regel zwei Personen die Beine führen, beim suprasymphysären Druck erfolge dies durch eine Person, während die andere am kindlichen Kopf sei. Somit sei es in der beschriebenen Situation nicht anders möglich, als dass die Aufgaben unter den anwesenden Personen nach Absprache aufgeteilt würden. Wichtig sei die zeitnahe korrekte Durchführung der Maßnahmen, unabhängig ob dies durch die Hebamme oder ärztliches Personal geschehe. Insofern sei der Arzt während der Komplikation Schulterdystokie jederzeit bei der Patientin anwesend gewesen und habe das schlussendlich erfolgreiche Manöver des suprasymphysären Drucks eigenhändig durchgeführt. Da der Arzt nicht gleichzeitig den suprasymphysären Druck und die Entwicklung des Kindes durchführen könne, sei keine andere Möglichkeit als die Aufteilung der Aufgaben denkbar. Alternativ hätte der suprasymphysäre Druck durch die Hebamme und die Kindsentwicklung durch den Arzt erfolgen können, wobei das Druckmanöver zur Schulterlösung für die Kindsentwicklung maßgeblicher gewesen sei. Der Arzt sei mit dem suprasymphysären Druck bereits gebunden gewesen und habe mit der Hebamme eine zur Kindsentwicklung qualifizierte Fachperson zur Hilfe gehabt.
86Gegen diese Ausführungen hat der Kläger in den Stellungnahmen zu dem Sachverständigengutachten keinerlei Einwände erhoben.
872.
88Ausgehend von den vorgenannten Maßstäben war es auch nicht behandlungsfehlerhaft, nach Beendigung der Wehenmittelgabe auf eine tokolytische Behandlung zu verzichten.
89Der Kläger hat unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Privatgutachters Prof. Dr. S behauptet, der Verzicht auf eine tokolytische Behandlung nach Beendigung der Wehenmittelgabe hätte sich im Hinblick auf eine Vermeidung der fortschreitenden Schulterverkeilung und der Klavikulafraktur beim Feten risikomindernd auswirken können. Unabhängig davon, dass allein hieraus nach den obigen Grundsätzen schon im Ansatzpunkt nicht zwangsläufig ein der Beklagten vorwerfbarer Behandlungsfehler folgt, haben sich die Mitarbeiter der Beklagten in diesem Zusammenhang aus medizinischer Sicht korrekt verhalten, indem die intravenöse Gabe des Wehenmittels unmittelbar nach Diagnose der Schulterdystokie gestoppt wurde. Hierzu hat der Sachverständige Prof. Dr. L ausgeführt, dass der Oxytocin-Tropf, also das intravenöse „Wehenmittel“, kurz nach Diagnose der Schulterdystokie gestoppt worden sei, was der SOP der Beklagten und den anerkannten Handlungsempfehlungen bei Schulterdystokie entspreche. Die Durchführung einer tokolytischen Behandlung, also die Gabe eines Notfallmedikaments zum Stoppen von Wehentätigkeit, gehe nicht aus der Dokumentation hervor, somit sei in dem Fall auf eine tokolytische Behandlung verzichtet worden. Die Durchführung einer Tokolyse sei möglich bei ausbleibendem Erfolg der initialen Manöver. Da die Schulter nach Durchführung des Mc-RobertsManövers und des suprasymphysären Drucks gelöst worden sei, habe keine weitere Indikation zur Tokolyse bestanden.
90Demnach war entsprechend der Ausführungen des Sachverständigen eine Tokolyse unter medizinischen Gesichtspunkten nicht erforderlich.
913.
92Daraus, dass vorliegend eine Erweiterung der Episiotomie nicht vorgenommen worden ist, folgt ebenfalls kein behandlungsfehlerhaftes Vorgehen.
93Der Kläger hat diesbezüglich unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Privatgutachters S geltend gemacht, eine großzügige Erweiterug der Episiotomie hätte sich im Hinblick auf eine Vermeidung der fortschreitenden Schulterverkeilung und der Klavikulafraktur beim Feten ebenfalls risikomindernd auswirken können. Insofern hat der Sachverständige ausgeführt, eine Episiotomie könne sinnvoll sein, um Platz für innere Lösungsmanöver der Schulter zu schaffen, trage selbst jedoch nicht zur Schulterlösung bei. Da die Schulter mit äußeren Manövern habe gelöst werden können, habe auch keine Indikation zum Schneiden einer Episiotomie bestanden.
94Einwände gegen diese Annahme im schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. L werden durch den Kläger in der schriftsätzlichen Stellungnahme nicht geltend gemacht.
954.
96Allein aus dem Schadensbild, also insbesondere der vorliegenden, gravierenden Plexusverletzung folgt eine fehlerhafte Behandlung der aufgetretenen Schulterdystokie nach Überzeugung der Kammer nicht.
97Insofern hat der Kläger sich in der Klageschrift auf die Ausführungen des Gutachters Rauskolb bezogen. Dieser hat ausgeführt, es sei eindeutig belegt, dass bei einem derart schweren Schadensmuster, wie es bei dem Kläger aufgetreten sei, auch vorliegend massive Kräfte wirksam geworden seien. Allein aus dem Schädigungsmuster müsse darauf geschlossen werden, dass mit massiver Kraft auf das kindliche Köpfchen und Plexus eingewirkt worden sein müsse, anders sei das Schädigungsmuster nicht erklärbar. Diese Krafteinwirkung werde häufig durch einen kräftigen und ruckartigen Zug bereits durch die Hebamme aufgebracht. Hierin liegt auch der schriftsätzlich vorgebrachte Vorwurf des Klägers, nämlich dass mit pflichtwidrig zu großer Kraft auf das kindliche Köpfchen und Plexus eingewirkt worden sein müsse. Dies wiederum wird aus dem Schadensbild geschlossen. Hierzu hat der Gutachter S ausgeführt, dass das Auftreten einer Schulterdystokie ohne vorher schon erkennbare Risikofaktoren zunächst schicksalhaft sei und Arzt und Hebamme überraschend treffe. Antepartuale Risikofaktoren seien auch im vorliegenden Fall nicht erkennbar gewesen. Im vorliegenden Fall handele es sich aufgrund der dokumentierten Untersuchungsbefunde um die häufigere Variante einer hohen Schulterdystokie, die durch einen hohen Schultergradstand gekennzeichnet sei. Dabei verkeile sich die vordere Schulter des Kindes hinter der Symphyse, es komme nicht zum physiologischen Eintritt der Schulter in den queren oder schrägen Beckeneingang. Bei der hohen Schulterdystokie entstünden vorrangig und häufig Plexusschäden in Form einer oberen Plexusschädigung.
98Bei einer ersten Durchsicht der Dokumentation entstehe der Eindruck, dass das Problem einer hohen Schulterdystokie in nur drei Minuten habe komplikationslos und rasch gelöst werden können, obwohl sich schon unmittelbar im Anschluss an die Erstversorgung die Verdachtsdiagnose untere Plexusparese links ergeben habe.
99Derartige Nervenläsionen könnten aber nur dadurch zustande kommen durch das Zusammenwirken von Druck auf die Schulterregion und Zug am Kopf, was zu einer Überdehnung des Armplexus mit den bekannten Folgen führe. Das Argument, dass ein kindlicher Schaden auch bei fehlerfreiem Handeln unvermeidlich sein, sei grundsätzlich berechtigt, andererseits aber meist auch nicht stichhaltig. Falsche Maßnahmen würden das Risiko für kindliche Verletzungen wesentlich erhöhen, wobei diese im vorliegenden Fall unvergleichlich schwerwiegend seien. Als Ursache komme daher nur der übermäßig starke Zug am kindlichen Kopf durch den Arzt oder die Hebamme, ebenso wie ein verstärkter Druck im Fundusbereich (Kristellern) infrage.
100Der Privatsachverständige Prof. Dr. T hat sich dieser Auffassung im Wesentlichen angeschlossen (gutachterliche Stellungnahme vom 28.05.2021, Anlage K 4, Bl. 34 d.A.). Er hat ausgeführt, dass in Fällen einer Schulterdystokie häufig eine Abgrenzung zwischen schicksalhaftem Verlauf und
101behandlungsfehlerhaftem Schaden extrem schwierig sei; dies sei im vorliegenden Fall jedoch nicht so. Die vorliegende Dokumentation stehe im krassen Gegensatz zum Schädigungsmuster. Es handele sich hier um einen Mehretagen-Wurzelausriss, sodass man davon ausgehen müsse, dass tatsächlich der Kraftaufwand unter der Geburt erheblich anders gewesen sei als es beschrieben worden sei. Es genüge ein ruckartiger Zug am Kopf in die falsche Richtung, um einen solchen Schaden auszulösen. Dies stelle aber dann definitiv auch ein falsches Vorgehen dar.
102Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht auch unter Berücksichtigung der vorgenannten Ausführungen der Gutachter S und T nicht zur Überzeugung der Kammer fest, dass sich aus dem vorliegend gegebenen Schadensbild mit hinreichender Sicherheit auf einen Fehler in der Behandlung der Schulterdystokie schließen lässt. Trotz der bei dem Kläger vorhandenen, gravierenden Verletzungen lassen sich andere Ursachen als ein behandlungsfehlerhaftes Vorgehen nicht ausschließen.
103Der Sachverständige Prof. Dr. L hat in seinem schriftlichen Gutachten im Ergebnis ausgeführt, dass laut Dokumentation nach der Kopfgeburt um 21:17 Uhr in der Zeitspanne von drei Minuten bis zur Geburt des gesamten Körpers um 21:20 Uhr das Auftreten des Turtle-Sign zur Diagnose der Schulterdystokie geführt habe, woraufhin der Oxytocintropf ausgestellt und das McRoberts-Manöver drei Mal durchgeführt worden sei. Es sei der suprasymphysäre Druck und die Geburt der Schultern erfolgt. Dieses Vorgehen entspreche sowohl der SOP des L als auch anerkannten Handlungsempfehlungen bei Schulterdystokie. Da die Kopf- und Schultergeburt lediglich drei Minuten auseinanderliegen würden, könne von einer ausreichenden Reaktion auf die Komplikation ausgegangen werden. Von daher könne von einer fehlerhaften Reaktion auf das Turtle-Sign keine Rede sein. Da die Beurteilung lediglich anhand der Aktenlage erfolgen könne, könne die Qualität der Manöverausführung durch ihn nicht abschließend geklärt werden. Die Dokumentation sei knapp, gebe jedoch keinen Anhalt auf Abwandlung der Manöver oder komplizierende Umstände.
104Rein anhand des Schädigungsmusters lasse sich kein Rückschluss auf eine richtige oder falsche Manöverdurchführung ziehen.
105Dieses Ergebnis erläuternd hat der Sachverständige ausgeführt, dass die Schulterdystokie mit Auftreten in 0,6 — 0,7 % aller Geburten ein seltenes, jedoch potentiell schwerwiegendes Ereignis sei.
106Das weibliche Becken sei im Beckeneingang queroval und im Beckenausgang längsoval geformt, so dass das kindliche Köpfchen und die kindlichen Schultern unter der Geburt eine Rotation vollführen müssen, um gemäß des SchlüsselSchloss-Prinzips durch den engen Geburtskanal zu wandern. Beim (vorliegend aufgetretenen) hohen Schultergeradstand stünden die Schultern im geraden Durchmesser über dem Beckeneingang, so dass die kindliche vordere Schulter an der Symphyse der Mutter hängen bleibe. Klinisch zeige sich das Turtle-Sign mit teilweisem Zurückziehen des geborenen Kopfes in die Vulva.
107Anerkannte Risikofaktoren für das Auftreten einer Schukterdystokie seien die fetale Makrosomie, Diabetes mellitus, maternale Adipositas, exzessive maternale Gewichtszunahme während der Schwangerschaft und Übertragung. Weitere Risikofaktoren seien eine vorausgegangene Schulterdystokie, eine lange Austreibungsphase und eine vaginal-operative Entbindung.
108Folgen einer Schulterdystokie könnten insofern bei dem Kind und der Mutter auftreten. Maternal seien ausgeprägte Geburtsverletzungen, erhöhte Blutverluste und die Gefahr einer Uterusruptur zu nennen. Beim Kind könnten zum Beispiel eine Hypoxie, Hypoxämie oder Azidose auftreten, außerdem traumatische Schädigungen des Plexus brachialis, Claviculafrakturen oder Humerusfrakturen bis hin zu intrapartalen Todesfällen.
109Die Plexusläsionen würden je nach betroffenen Segmenten in eine obere
110Plexuslähmung (Typ Erb-Duchenne, Cervicalsegment 5-6) und eine untere Plexuslähmung (Typ Kumpke, Cervicalsegment 7 — Thorakalsegment 1) unterteilt.
111Demnach handelt es sich um eine schwere geburtshilfliche Komplikation, die umgehend adäquat zu behandeln ist, da andernfalls schwere Gesundheitsschäden des Kindes oder der Mutter auftreten können.
112Hierzu hat der Sachverständige ausgeführt, es gebe diverse Leitlinien und
113Handlungsempfehlungen zum Vorgehen bei einer Schulterdystokie. Eine deutsche Leitlinie habe zum Zeitpunkt der Entbindung nicht vorgelegen. Das hat der Sachverständige im Rahmen seiner mündlichen Erläuterung des Gutachtens dahingehend klargestellt, dass es eine AWMF-Leitlinie aus 2000 gebe, die 2004 aktualisiert worden sei. Diese sei allerdings im Hinblick auf den vorliegenden Fall aus dem Jahr 2019 (und die vorliegend maßgebliche Frage, ob sich aus dem
114Verletzungsbild auf einen Behandlungsfehler schließen lässt) nicht ergiebig. Insoweit seien die Lehrbücher weitaus bedeutsamer und es gelte auch Bezug zu nehmen auf die Veröffentlichungen in den Fachgesellschaften. Entscheidend seien allerdings die aktuelleren, wissenschaftlichen Veröffentlichungen in den qualitativ hochwertigen Journals. Diese habe er – der Sachverständige – in seinem Gutachten ausgewertet.
115Insofern bezieht sich der Sachverständige in seinem Gutachten nachfolgend (dort S. 8 ff.) auf die von ihm im Einzelnen angegebene wissenschaftliche Literatur.
116Insofern sei die Plexusläsion als eine der wichtigsten fetalen Komplikationen bei der
117Schulterdystokie benannt worden. Die Datenlage der Inzidenz von
118Plexusverletzungen sei jedoch nicht eindeutig und schwanke zwischen 2,3% bis 16 %. Von den Betroffenen verblieben weniger als 10 % der Kinder mit fortbestehenden neurologischen Defiziten. Es würden bei der Diagnose einer Schulterdystokie zunächst das Hinzuziehen von zusätzlichen Helfern, sodann die Durchführung des McRoberts-Manövers, dann das Durchführen von suprapubischem Druck mit adäquatem axialem Zug am Kopf des Kindes empfohlen. Wenn dies nicht zielführend sei, folgten innere Armlösungsmanöver und, wenn für deren Durchführung notwendig, eine Episiotomie. Eine Episiotomie sei sinnvoll, um Platz für innere Lösungsmavöver der Schulter zu schaffen, trage selbst jedoch nicht zur Schulterlösung bei (s.o.). Bei wissenschaftlichen Untersuchungen habe keine Reduktion von fetalen Plexusparesen durch das Schneiden einer Episiotomie festgestellt werden können. Indikation für eine Episiotomie sei somit nur das Schaffen von ausreichend Platz, um innere Lösungsmanöver adäquat durchführen zu können.
119Nachfolgend nimmt der Sachverständige Bezug auf die Veröffentlichung des American College of Obstetricians and Gynecologists im Mai 2017 mit dem Titel „Practice Bulletin No. 178 Shoulder Dystocia“. Dort werde betont, dass das Auftreten einer fetalen Plexusläsion nicht auf das Auftreten einer Schulterdystokie schließen lasse. Laut des ACOG würden etwas über die Hälfte der fetalen Plexusläsionen nach unkomplizierten vaginalen Geburten auftreten, also ohne Schulterdystokie. Eindeutig werde herausgestellt, dass unabhängig von den durchgeführten Manövern oder Lösungsstrategien maternale und fetale Komplikationen unvorhersehbar und möglicherweise nicht zu vermeiden seien.
120Der Ablauf nach der Diagnose sehe das McRoberts-Manöver, gefolgt von suprapubischem Druck und inneren Lösungsmanövern nach Woods oder Rubin unter Verzicht von Kristellerhilfe vor. Durch diese Maßnahmen könnten 95% der Schulterdystokien innerhalb von 4 Minuten gelöst werden. Eine Episiotomie werde – wie gesagt – nicht standardmäßig empfohlen und sollte nur zum Schaffen von zusätzlichem Platz für innere Manöver erfolgen.
121Was den Zusammenhang zwischen Plexusläsion und Schulterdystokie angeht, nimmt der Sachverständige sodann Bezug auf eine weitere Veröffentlichung des American College of Obstetricians; hier sei anhand von vierzig retrospektiven Veröffentlichungen zwischen 1964 und 2011 die Inzidenz von fetalen Plexus brachialis Läsionen auf 1,5/1000 Geburten beschrieben worden. Aus 15 Veröffentlichungen habe bei vaginalen Geburten ein Rückschluss auf die Inzidenz von fetalen Plexus brachialis Läsion gezogen werden könne, die bei 1,7 von 1.000 vaginalen Geburten liege. 15 Veröffentlichungen würden den weiteren Verlauf der Plexusläsion mit transienter vs. persistierender Läsion mit einer minimalen Nachbeobachtung von 12 Monaten beschrieben. Persistierende Plexusläsionen seien in 3 % bis 33 % aller Plexusläsionen beschrieben. Zur Untersuchung des Zusammenhangs von Schulterdystokie und Plexusläsion seien 12 Veröffentlichungen aus sechs verschiedenen Ländern zwischen 1990 und 2011 untersucht worden. In 46 % der insgesamt 3111 beschriebenen Plexusläsionen habe keine Assoziation zu einer Schulterdystokie bestanden. Zwei Veröffentlichungen zeigten, dass in 26 % von 191 persistierenden Plexusläsionen über ein Jahr hinaus nach Geburten ohne Schulterdystokie aufgetreten seien. Diese Daten zeigten, dass transiente und persistierende Plexusläsionen sowohl nach Schulterdystokie, aber auch nach Geburten ohne Schulterdystokie auftreten könnten.
122In einer weiteren Veröffentlichung (Johnson et al. (Pathophysiologie Origens of Brachial Plexus Injury, 2020)) sei der Zusammenhang zwischen dem Auftreten von kindlichen Plexus brachialis Läsionen und dem Auftreten von Schulterdystokien untersucht worden. In den 33 untersuchten Fällen von Plexusläsionen seien 14 (42 %) bei vaginalen Geburten ohne Schulterdystokie aufgetreten, 3 Fälle (9 %) seien nach einem Kaiserschnitt aufgetreten und die restlichen 16 Fälle (49 %) in Kombination mit einer Schulterdystokie. Es werde gefolgert, dass die Plexusläsion und die Schulterdystokie zwei Komplikationen seien, die in Kombination miteinander oder unabhängig voneinander auftreten könnten. Eine Plexusläsion sei nur in der Hälfte der Fälle mit einer Schulterdystokie assoziiert. Es habe auch kein Zusammenhang zwischen persistierender Plexusläsion und dem Auftreten einer Schulterdystokie nachgewiesen werden können. Auch in einer weiteren Veröffentlichung sei nach Analyse der Datenlage zusammengefasst, dass Plexuslähmungen nicht nur Folge der Schulterdystokie oder ihrer Behandlung bzw. einer fehlerhaften Geburtshilfe seien, sondern auch andere intrauterine Ursachen in Frage kommen würden.
123Hiervon ausgehend nimmt der Sachverständige Stellung zur gutachterlichen Stellungnahme von Prof. Dr. S vom 20.11.2020. Insoweit stimmt der Sachverständige mit dem Gutachter weitgehend überein, allerdings nicht in dem entscheidenden Punkt. Hierzu führt der Sachverständige aus, dass der Aussage, dass derartige Nervenläsionen nur zustande kommen könnten durch das Zusammenwirken von Druck auf die Schulterregion und Zug am Kopf, was zu einer Überdehnung des Armplexus mit den bekannten Folgen führe, aufgrund der vorgenannten Datenlage widersprochen werden müsse. Hierzu erläutert der Sachverständige, dass derartige Nervenläsionen bei Schulterdystokien zwar mit erhöhter Krafteinwirkung assoziiert sein könnten. Dabei lasse sich jedoch nicht zuordnen, ob die Kräfte iatrogen im Rahmen der Manöverausführung oder durch Verkeilung der Schulter und Druck auf die Symphyse entstünden. Des Weiteren würden Plexusläsionen auch ohne Schulterdystokie auftreten, was die mögliche multifaktorielle Genese bestätige.
124Was die Stellungnahme von Prof. Dr. T vom 25.08.2021 angeht, führt der
125Sachverständige aus, dass der dortigen Aussage zugestimmt werde, dass die
126Abgrenzung von schicksalhaftem Verlauf und behandlungsfehlerhaftem Schaden bei Schulterdystokien schwierig sei. Dass die beschriebene unproblematische Lösung der Schultern nicht vereinbar mit dem Schädigungsmuster sei, sei aber aufgrund der vorgenannten Literatur nicht nachvollziehbar. Die Unterstellung eines falschen und zur Dokumentation abweichenden Vorgehens unterliege daher ebenfalls keiner objektiven Grundlage.
127Im Ergebnis lässt sich das Gutachten des Sachverständigen mithin so zusammenfassen, dass der Schluss von dem eingetretenen Schaden des Klägers auf ein fehlerhaftes Vorgehen bei der Behandlung der Schulterdystokie nicht gezogen werden kann. Gegen einen solchen Zusammenhang führt der Sachverständige an, dass nach den vorgenannten Veröffentlichungen (generell) Plexusläsionen in nicht nur bloß zu vernachlässigender Anzahl auch unabhängig von einer Schulterdystokie auftreten würden. Selbst wenn man aber in einem ersten Schritt unterstellt, dass ein solcher Zusammenhang zwischen der Schulterdystokie und der Plexusläsion besteht, kann – nach Auffassung des Sachverständigen – im zweiten Schritt nicht (zwingend) angenommen werden, dass im konkreten Fall die Behandlung der Schulterdystokie den vorliegend gegebenen Schaden ausgelöst hat, vielmehr könne die nötige Kraft auch allein durch Verkeilung der Schulter und Druck auf die Symphyse entstehen.
128Anhand dessen geht der Sachverständige von einer multifaktoriellen Genese aus, aus der sich aber eben ein fehlerhaftes Vorgehen unter der Geburt nicht feststellen lässt.
129An diesem demnach in jeder Hinsicht plausibel begründeten Ergebnis hat der Sachverständige auch im Rahmen der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens festgehalten. Hierzu hat er ausgeführt, dass aus seiner Sicht kein zwingender geburtshilflicher Zusammenhang zwischen der Anwendung äußerer Druckausübung oder auch dem Ziehen am Kopf des Kindes und einer Plexusschädigung bestehe. Die Literatur der letzten 20 Jahre habe gezeigt, dass es auch schwere Plexusschäden gebe, die nicht erklärbar seien durch den Vorgang in der Geburtshilfe. So würden auch als Ursachen in Betracht kommen das Pressen der Mutter oder auch die Unterschiede in der Vulnerabilität des Gewebes des Kindes. In einem Fall aus dem american journal aus 2008 sei beispielsweise beschrieben, dass es auch einen sehr langen schweren Plexusschaden gegeben habe, ohne dass es zu einem geburtshilflichen Manöver gekommen sei. Aus seiner – des
130Sachverständigen – Sicht lasse sich ein solcher Vorfall nicht monokausal erklären, vielmehr habe er bereits in seinem Gutachten auf ein multifaktorielles Geschehen hingewiesen. In diesem Zusammenhang hat der Sachverständige noch zu den im schriftlichen Gutachten zitierten Daten darauf verwiesen, dass in einer Publikation aus 2020 von Johnson auch Fälle eines Nervenausrisses wie im vorliegenden Fall erfasst seien. Außerdem hätten Studien aus dem Jahr 1999 gezeigt, das schwere Plexusschäden nur in 50 % mit Fällen von Schulterdystokie assoziiert gewesen seien. Untersuchungen 20 Jahre später hätten zu dem gleichen Ergebnis geführt. In diesen Untersuchungen werde auch darauf hingewiesen, dass es Wurzelausrisse gebe, die durch äußeren Druck allein nicht erklärbar seien.
131Im Hinblick auf andere Ursachen für den vorliegend eingetretenen Schaden hat der
132Sachverständige hinzugesetzt, dass beispielsweise eine hohe individuelle Vulnerabilität des Gewebes in Betracht komme. Hinzu komme der starke Druck, den die Schulter des Kindes an der Symphyse erfahre. Zudem sei zu berücksichtigen, dass sich der Kopf in der Wehe bewege, während die Schulter stecken bleibe. Auch dies führe zu weiterem Druck. In einer solchen Situation könne dann möglicherweise eine Traktion, die als normal zu bewerten sei, das Fass zum Überlaufen bringen, sodass es dann zu einer Schädigung kommen könne. Das Manöver als solches strapaziere die Nerven des Kindes bereits.
133Unter Berücksichtigung dessen, dass bei dem Kind auch eine Fraktur des Schlüsselbeins eingetreten sei, spreche dies womöglich schon dafür, dass hoher Druck bei der Ausübung des suprasymphysären Drucks erfolgt sei. Dieses sei allerdings in der konkreten Situation bei Auftreten der geburtshilflichen Komplikation einer Schulterdystokie nicht zu beanstanden. In dieser Situation müsse man nämlich die Schulter lösen. Andernfalls könne eine solche Situation möglicherweise zum Tod des Kindes führen. In der konkreten Situation sei die Mutter des Klägers 160 cm groß gewesen und habe zur Zeit der Geburt über 100 Kilo gewogen. Es sei daher nicht vorstellbar, dass es nur leichter Druck gewesen sein solle, in dieser Situation müsse durchaus etwas mehr gedrückt worden sein. Er – der Sachverständige – sehe dies allerdings nicht als Fehler an, da sich das Kind in einer akuten Gefahrensituation befunden habe. In dieser Situation sei es wichtig, dass die Schulterdystokie gelöst werde.
134Auch aus der dokumentierten Zeit von drei Minuten, den Apgarwerten und der Schädigung des Kindes würden sich – so der Sachverständige weiter – keine Widersprüche ergeben.
135Grundsätzlich sei es zudem auch denkbar, dass der Schaden des Kindes bereits im Mutterleib angelegt gewesen sei, bevor es überhaupt zur Schulterdystokie gekommen sei. Soweit behauptet worden sei, dass eine derartige, schon vor Auftreten der Schulterdystokie vorhandene Schädigung zwingend und immer mit einer postpartalen Begleitfehlbildung einhergehen müsse, treffe dies nicht zu. Aus der zitierten Literatur ließen sich diese Zusammenhänge so nicht entnehmen.
136Nach alledem lassen sich nach Auffassung des Sachverständigen drei Arten von möglichen Ursachen finden, nämlich exogene Umstände, endogene Umstände und individuelle Unterschiede bei der Vulnerabilität.
137Demnach ließ sich nach den dezidierten Ausführungen des Sachverständigen schon nicht sicher feststellen, welche der genannten Faktoren die in Rede stehende Plexusparese verursacht hat. Demnach ist es möglich, dass die Verletzungen des Klägers durch eine der genannten Faktoren oder – das hält der Sachverständige am ehesten für wahrscheinlich – eine Kombination der Faktoren verursacht wurden. Selbst wenn man aber annehmen würde, dass exogene Umstände in Form der Ausübung von Druck im konkreten Fall zu der Plexusschädigung zumindest beigetragen haben könnten, lässt dies gleichwohl entsprechend der vorhergehenden Ausführungen nicht den hinreichend sicheren Schluss zu, dass damit auch entgegen der ärztlichen Standards gehandelt wurde, denn nach den Ausführungen des Sachverständigen waren sowohl die bereits die Nerven des Kindes strapazierende Ausführung der Manöver als auch die Ausübung suprasymphysären Drucks unter medizinischen Gesichtspunkten dringend geboten, um die Schulter des Kindes zu lösen, denn andernfalls kann eine solche Situation bis zum Tode des Kindes führen.
138Demgegenüber hat der Sachverständige entgegen der Auffassung der Klägerin auch im Zuge der mündlichen Anhörung nochmals ausdrücklich bekräftigt, dass im Hinblick auf den hier eingetretenen Schaden kein Ziehen am Kopf des Kindes erfolgen musste, damit der Schaden erklärbar ist.
139Die Kammer folgt den in jeder Hinsicht plausiblen und fachlich fundierten
140Ausführungen des als Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe und als langjähriger Leiter der Sektion Geburtshilfe und Pränatalmedizin eines großen
141Universitätsklinikums in jeder Hinsicht fachlich qualifizierten Sachverständigen. Insofern hat der Sachverständige sein Gutachten unter Zugrundelegung zutreffender Anknüpfungstatsachen und unter sorgfältiger Berücksichtigung der wechselseitigen Argumente der Parteien erstattet. Hierbei hat der Sachverständige sich – wie bereits ausgeführt – auch sorgfältig mit den Stellungnahmen der klägerseits beauftragten Gutachter auseinandergesetzt. Das betrifft auch die nach dem schriftlichen Gutachten des Sachverständigen vom 30.11.2022 eingeholte gutachterliche Stellungnahme vom 05.01.2023.
142Dort ist unter anderem ausgeführt, dass die regelmäßige Schulung und das Training im Umgang mit Schulterdystokien das Risiko für persistierende Plexusparesen reduzierten, dies verdeutliche auch, dass die Vorstellung, die Parese könne auf dem Weg durch den Geburtskanal quasi ohne äußere Auswirkung entstehen, abwegig sei. Hierzu hat der Sachverständige erläutert, dass es auch Arbeiten aus 2012 und 2020 gebe, bei denen trotz intensiven Trainings eine Veränderung dieser Rate nicht habe nachgewiesen werden können. Die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt einer persistierenden Plexusschädigung nach Schulterdystokie sei ohnehin gering, das Training mache insoweit selbstverständlich Sinn, weil es dadurch weniger Probleme geben könne. Insofern möge es durch intensives Training eine Reduktion geben. Allerdings sei nicht festgestellt, dass dadurch die Rate auf null gesenkt werden könne.
143Auch die Kammer vermag den Zusammenhang zwischen dem womöglich mit positiven Effekten verbundenen Training und der Frage des Vorliegens eines behandlungsfehlerhaften Vorgehens im konkreten Fall nicht zu erkennen. Allein, dass ein Training das Risiko verringern kann, führt auch aus Sicht der Kammer nicht zu der Annahme, dass im konkreten Fall medizinische Standards unterschritten sein könnten. Dass das Risiko völlig auszuschließen ist, wird auch klägerseits nicht behauptet.
144Soweit es in der gutachterlichen Stellungnahme vom 05.01.2023 heißt, das von dem Sachverständigen zitierte Praxis-Bulletin des American College of Obstetricians and Gynecologists müsse als ein Papier bewertet werden, das in erster Linie Schadensersatzforderungen abwehren solle und es sei inhaltlich in weiten Teilen abzulehnen, hat der Gutachter diese Annahme nicht näher begründet. Auch hierzu hat der Sachverständige Stellung genommen und die wissenschaftlichen Grundlagen seines Gutachtens – wie bereits ausgeführt – nochmals erläutert. Insofern hat er zudem erklärt, dass ihm durchaus bekannt sei, dass teilweise behauptet werde, dass in Amerika Schulterdystokien nicht immer dokumentiert würden, weil daraus hohe Schmerzensgeldsprozesse entstehen könnten. Allerdings hätten in den zugrunde gelegten Daten für 2012 und 2014 die Verfasser diese Problematik durchaus gesehen und berücksichtigt. Dort sei sehr sorgfältig dokumentiert worden, welche Fälle von Schulterdystokie in dieser Auswertung miteinbezogen worden seien. Des Weiteren hat der Sachverständige (für die Kammer plausibel) deutlich gemacht, dass es ihm ganz wesentlich auf die in den in Bezug genommenen
145Veröffentlichungen enthaltenen wissenschaftlichen Auswertungen angekommen sei. Soweit der Gutachter Prof. Dr. T bemängelt, dass sein eigenes Lehrbuch zu dieser Thematik nicht zitiert worden sei, vermag auch die Kammer in Anbetracht der umfangreichen Auswertung der Datenlage nicht zu erkennen, dass sich hieraus etwas anderes hätte ergeben können. Dass aus dem Lehrbuch andere Daten folgen, die trotz der von dem Sachverständigen ausgewerteten fachwissenschaftlichen Publikationen zu einer abweichenden Einschätzung führen müssten, das ergibt sich auch aus der gutachterlichen Stellungnahme nicht.
146Soweit in der gutachterlichen Stellungnahme vom 05.01.2023 ausgeführt ist, definitiv nicht jede Plexusparese sei Folge einer fehlerhaften Vorgehensweise unter der Geburt, es sei aber eindeutig belegt, dass bei derart schwere Schadensmuster massive Kräfte wirksam geworden sein müssten, hat sich der Sachverständige mit dieser Frage – wie bereits ausgeführt – eingehend befasst.
147Im Übrigen wird auch in dieser Stellungnahme nicht die Auffassung vertreten, dass in diesem konkreten Fall bei der Behandlung der Schulterdystokie fehlerhaft vorgegangen worden sein müsse. Vielmehr geht auch der Gutachter Prof. Dr. T – wie gesagt – von einer erheblichen Krafteinwirkung auf den Plexus aus.
148Zu den Ursachen führt der Gutachter aus, dass diese Krafteinwirkung „häufig“ durch kräftigen und ruckartigen Zug bereits durch die Hebamme aufgebracht werde. Dass das auch vorliegend der Fall war, dass also die Hebamme (oder ggf. der Oberarzt) in der vorliegenden, konkreten Situation übermäßig Kraft angewendet hat, bspw. durch ein kräftiges Ziehen am kindlichen Kopf, hat auch der Gutachter nicht behauptet. Daher ergibt sich auch in der Konsequenz der gutachterlichen Stellungnahme schon nicht, dass bei der hier streitgegenständlichen Geburt fehlerhaft vorgegangen worden sein muss. Vielmehr wird von einer Krafteinwirkung ausgegangen, die, selbst wenn sie (zumindest zum Teil) durch das geburtshilfliche Vorgehen bedingt ist, jedenfalls nicht den Schluss zulässt, dass die medizinischen Standards unterschritten sind.
149Anhaltspunkte hierfür ergeben sich auch weder aus den Angaben des Vaters des
150Klägers im Rahmen seiner persönlichen Anhörung noch aus den Angaben der Zeugen F und G.
151Der Vater des Klägers hat erklärt, dass er in Erinnerung habe, dass die Geburt nicht leicht gewesen sei, man habe das Manöver dreimal durchgeführt, allerdings habe man ihren Sohn dann schon raus holen müssen und unmittelbar nach der Geburt habe die Hebamme bereits darauf hingewiesen, dass mit dem Arm etwas nicht stimme. Das entspricht durchaus dem dokumentierten Geburtsverlauf, insbesondere im Hinblick darauf, dass hier dreimal das McRoberts-Manöver durchgeführt worden ist. Dass aber aus Sicht des bei der Geburt anwesenden Vaters übermäßig Kraft angewendet worden sein könnte, bspw. durch ein Ziehen am kindlichen Kopf, hat er gerade nicht angegeben. Auch hat er gerade nicht von ihm ersichtlichen
152Komplikationen berichtet, sondern die Annahme, dass die Geburt „schwer“ verlaufen sei, insbesondere mit der dreimaligen Durchführung des Manövers begründet.
153Beide Zeugen haben übereinstimmend und in Übereinstimmung mit dem dokumentierten Geburtsverlauf bekundet, dass dreimal das McRoberts-Manöver durchgeführt worden sei; allerdings sei der Kopf des Kindes immer noch nicht vollständig gekommen, sodass der Zeuge suprasymphysären Druck ausgeübt habe. Besonderheiten habe es hierbei oder danach nicht mehr gegeben, vielmehr sei das Kind anschließend herausgekommen. Weiter haben die Zeugen übereinstimmend bekundet, dass am Kopf des Kindes kein Zug ausgeübt worden und auch kein Kristeller-Handgriff angewendet worden sei.
1545.
155Dass damit ein Behandlungsfehler nicht mit der nötigen Sicherheit festzustellen war, geht zu Lasten des insoweit beweisbelasteten Klägers.
156Beweiserleichterungen oder eine Beweislastumkehr kommen diesbezüglich nicht in Betracht. Was die zwischen den Parteien streitige Frage nach der Dokumentation angeht, ist die klägerseits bestehende Auffassung, ein Behandlungsfehler ergebe sich daraus, dass der dokumentierte Geburtsverlauf in Anbetracht des vorhandenen Verletzungsbildes nicht zutreffen könne, schon im rechtlichen Ansatz nicht zutreffend. Etwaige Mängel in der Dokumentation können gegebenenfalls zu Beweiserleichterungen führen, nicht aber kann aus einer pflichtwidrig unvollständigen oder widersprüchlichen Dokumentation an sich schon ein Behandlungsfehler folgen. Ferner ist die Dokumentation weder pflichtwidrig unvollständig oder widersprüchlich noch lässt sich feststellen, dass der dokumentierte Geburtsverlauf dergestalt nicht zutrifft bzw. nicht zutreffen kann.
157Nach § 630 f Abs. 2 BGB ist der Behandelnde verpflichtet, in der Patientenakte sämtliche aus fachlicher Sicht für die derzeitige und künftige Behandlung wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzuzeichnen, insbesondere die Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen, Untersuchungsergebnisse, Befunde,
158Therapien und ihre Wirkungen, Eingriffe und ihre Wirkungen. Aus § 630 h Abs. 3 BGB folgt hieran anknüpfend, dass, wenn der Behandelnde eine medizinisch gebotene wesentliche Maßnahme und ihr Ergebnis entgegen § 630f Absatz 1 oder Absatz 2 BGB nicht in der Patientenakte aufgezeichnet hat, vermutet wird, dass er diese Maßnahme nicht getroffen hat.
159Insofern steht aber zwischen den Parteien zunächst nicht in Streit, dass die dokumentierten Maßnahmen, nämlich insbesondere das dreimalige Mc-RobertsManöver bzw. die Ausübung des suprasymphysären Drucks tatsächlich auch erfolgt sind. Auch steht der Befund einer Schultersystokie zwischen den Parteien nicht in Streit. Seitens der Beklagten wird auch nicht geltend gemacht, es seien über die Dokumentation hinausgehende Befunde erhoben oder Maßnahmen ergriffen worden. Vielmehr ist hier entsprechend des voneinander abweichenden Parteivortrags ausschlaggebend, ob die unstreitig durchgeführten (und auch dokumentierten) Maßnahmen zur Behandlung der Schulterdystokie ausreichten und ob hierbei fehlerhaft vorgegangen worden ist.
160Das unterscheidet den vorliegenden Sachverhalt auch von dem den klägerseits in Bezug genommenen Entscheidungen zugrunde liegenden Sachverhalt.
161In dem Urteil des OLG München vom 08.07.2020 (siehe Anlage A 3.1, Bl. 537 ff. d.A.), ist ausgeführt, dass die Anwendung von speziellen Handgriffen erforderlich sei, die geeignet seien, die Verkeilung zu lösen, insbesondere die Manöver nach McRoberts (mehrmaliges Beugen/Strecken der Beine der Mutter) und nach Woods/Rubin (Eingehen in die Vagina mit der Hand und Versuch der Rotation der hinteren Schulter) sowie die Ausübung von suprasymphysären Drucks mit der Faust bei gebeugten Beinen der Mutter. In dem dortigen Fall konnte die Frage, welche Maßnahmen ergriffen wurden, um die Schulterdystokie bei der Klägerin zu lösen, weder der Dokumentation entnommen werden, die dazu überhaupt keine Informationen enthielt, noch war der präzise Verlauf anhand der Anhörung der Parteien und Zeugen aufklärbar.
162Anders liegt es – wie gesagt – hier: Die Diagnose und die ergriffenen Maßnahmen sind gerade dokumentiert.
163Das gilt auch für die Entscheidung des OLG Oldenburg vom 15.10.2014 (Anlage A 3.2, Bl. 543 ff. d.A.). Auch dort ist in Bezugnahme auf das dortige
164Sachverständigengutachten ausgeführt, dass bei Vorliegen einer Schulterdystokie umgehend dokumentationspflichtige Maßnahmen zu ergreifen seien, nämlich das Mc-Roberts-Manöver, das Abstellen eines evtl. laufenden Wehentropfes, ggf. Wehenhemmung, großzügige Erweiterung der Episiotomie, ggf. suprasymphysärer Druck, innere Rotation der vorderen Schulter (Rubin-Manöver), Lösen der hinteren Schulter (Woods-Manöver). In dem dortigen Verfahren waren diese nicht dokumentiert, weswegen man davon ausgehen müsse, dass sie nicht ergriffen worden seien. Der Beklagte habe die Schulterdystokie also entweder nicht erkannt oder nicht ordnungsgemäß auf diese reagiert.
165Das trifft auch auf das in Bezug genommene Urteil des OLG Hamm vom 23.05.2012 – 3 U 174/11 (Anlage A 3-3, Bl. 558 ff. d.A.) zu. Denn dort waren im Geburtsprotokoll eine drohende Schulterdystokie aufgeführt und weiter vermerkt, dass das Kind nach sofortiger Erweiterung der Episiotomie ohne weitere Maßnahmen („Mc Rob. etc“) hinterher gekommen sei. Hierzu hat der Senat in dem dortigen Verfahren unter Bezugnahme auf das dortige Sachverständigengutachten ausgeführt, dass es zu einem solchen iatrogenen Zug gekommen sein müsse und die Darstellung des Beklagten einer Spontangeburt nach Erweiterung der Episiotomie ohne jedes weitere Zutun nicht zutreffend sein könne, stehe fest, weil der Sachverständige ein Entstehen des Plexusabrisses im Rahmen eines normalen Geburtsvorganges ohne iatrogenen Zug ebenfalls definitiv ausgeschlossen habe.
166Im Gegensatz dazu ließ sich vorliegend ein von der Dokumentation abweichender Geschehensablauf aber gerade nicht feststellen, denn – wie bereits ausgeführt – sind die in der Dokumentation aufgeführten Maßnahmen unstreitig auch ausgeführt worden. Insofern ist dokumentiert, dass nach Auftreten des Turtle-Signs eine Schulterdystokie festgestellt und die Oxytocingabe abgestellt wurde; sodann ist die dreimalige Durchführung des Mc Roberts Manövers dokumentiert. Weiter ist dokumentiert, dass die Schulter nicht folgte und unter der Symphyse festhing. Nach Feststellung einer hohen Schulterdystokie ist ausweislich der Dokumentation dann suprasymphysärer Druck angewandt worden. Diesen Ablauf der Geburt haben die Zeugen F und G bestätigt. Auch aus dem Sachverständigengutachten Prof. Dr. L hat sich nicht ergeben, dass der dergestalt dokumentierte Ablauf der Geburt in Anbetracht des eingetretenen Schadens nicht zutreffen kann. Insofern wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Demnach ergibt sich aus dem Gutachten, dass für den eingetretenen Schaden des Klägers mehrere Ursachen bzw. deren Zusammenwirken in Betracht kommen, ohne dass das den Rückschluss erlaubt, es sei behandlungsfehlerhaft vorgegangen worden. Insbesondere ließ sich in Anbetracht des Sachverständigengutachtens eben nicht feststellen, dass entgegen des dokumentierten Geburtsverlaufs und entgegen der Angaben der Zeugen F und G mit unzulässig hoher Kraft an dem kindlichen Kopf gezogen worden sein könnte.
167Dieses schon aus dem schriftlichen Gutachten folgende Ergebnis hat der Sachverständige in der mündlichen Erläuterung des Gutachtens nochmals bekräftigt und klarstellend ausgeführt, dass im Hinblick auf den hier eingetretenen Schaden kein Ziehen am Kopf des Kindes habe erfolgen müssen, damit der Schaden erklärbar sei. Weiter hat der Sachverständige erklärt, dass sich auch aus der dokumentierten Zeit von drei Minuten, den Apgarwerten und der Schädigung des Kindes keine Widersprüche zu der Dokumentation ergeben würden.
168Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass klägerseits gerade geltend gemacht wird, dass die Anwendung der gebotenen (und dokumentierten) Maßnahmen mit zu viel Kraftanwendung erfolgt sei und den Schaden verursacht habe. Unklar bleibt dann aber, wie das Maß der Kraftanwendung hätte dokumentiert werden sollen. Wenn der Vortrag des Klägers so zu verstehen ist, dass es in Anbetracht des Schadensbildes zu (dokumentationspflichtigen) weiteren Komplikationen gekommen sein müsse, so lässt sich das auch anhand der eingeholten gutachterlichen Stellungnahmen nicht nachvollziehen, denn auch dort ist beschrieben, dass (vgl. Stellungnahme vom 05.01.2023, dort S. 4, Bl. 535 d.A.) „häufig eine weitgehend unkomplizierte Geburt dokumentiert wird, tatsächlich aber eine massive und fehlerhafte Krafteinwirkung auf das Kind vorgenommen wurde.“ Damit wäre aber auch aus Sicht des Gutachters die Dokumentation nicht falsch oder lückenhaft, sondern würde eben korrekt dasjenige beschreiben, was an gebotenen Maßnahmen erfolgt ist. Ein davon zu unterscheidender Gesichtspunkt ist die Frage, ob die dokumentierten Maßnahmen womöglich fehlerhaft ausgeführt worden sind. Ein solcher Schluss lässt sich nach den obigen Ausführungen aber gerade nicht ziehen.
169Soweit der Gutachter Prof. Dr. T insofern weiter formuliert, dass man es hier mit einer typischen Fallkonstellation zu tun habe, bei der die Dokumentation der Geburt und das Schadensmuster in eklatantem Widerspruch stünden und in diesen Fällen immer die Annahme gerechtfertigt sei, dass vermeidbar fehlerhaft mit zu hohem Kraftaufwand der Schaden herbeigeführt wurde, vermag die Kammer dieser Schlussfolgerung in Anbetracht der vorhergehenden Ausführungen gerade nicht zu folgen. Es lässt sich nämlich – wie bereits im Einzelnen ausgeführt – weder feststellten, dass die Dokumentation nicht zutrifft, weil sie im Widerspruch zum Schadensmuster stehe, noch dass vermeidbar fehlerhaft mit zu hohem Kraftaufwand der Schaden herbeigeführt worden sei bzw. worden sein müsse.
170Der Sachverständige Prof. Dr. L hat in seinem schriftlichen Gutachten ferner ausgeführt, dass der Geburtsbericht sehr kurz gefasst sei und keine Einzelheiten zur genauen Manöverausführung und der Kindsstellung enthalte. Bei
171Auftreten einer Komplikation sei prinzipiell eine inhaltlich und zeitlich genaue Dokumentation über Kindsstellung, Ablauf und genaue Maßnahmen gefordert, die hier nur wenig ausführlich erfolgt sei. In der mündlichen Erläuterung des Gutachtens hat der Sachverständige ausgeführt, dass ihn durchaus interessiert hätte, wo der Rücken des Kindes gewesen sei. In der Literatur seien nämlich auch Plexusläsionen an der anderen Seite beschrieben, und zwar nicht an der feststeckenden Schulter. Hinzugesetzt hat der Sachverständige, dass, wenn es tatsächlich so abgelaufen sei, wie es dokumentiert sei, und wie es die Zeugen geschildert hätten, dann sei aus seiner Sicht die Dokumentation ausreichend, er – der Sachverständige – hätte sich im Grundsatz allerdings noch weitere Angaben gewünscht.
172Hieraus folgt aber im Hinblick auf die bei dem Kläger liegende Beweislast und im Hinblick auf § 630 h Abs. 3 BGB und § 630f Absatz 1 oder Absatz 2 BGB nichts anderes. Ziel und Zweck der Dokumentation sind nämlich nicht die forensische Beweissicherung, sondern die Gewährleistung sachgerechter medizinischer
173Behandlung durch den Erstarzt und den weiterbehandelnden Arzt; eine
174Dokumentation, die unter diesem Gesichtspunkt medizinisch nicht erforderlich ist, ist auch aus Rechtsgründen nicht geboten (Geiß/Greiner, a.a.O., B Rn. 202 m.w.N.).
175Hieraus folgen generelle Grenzen des Umfangs der Dokumentation;
176Aufzeichnungspflichtig sind die aus medizinischer Sicht für die ärztliche Diagnose und Therapie wesentlichen medizinischen Fakten mit der Maßgabe, dass die Dokumentationspflicht rechtlich nicht weiter reicht als das medizinische Erfordernis (Geiß/Greiner, a.a.O., B Rn. 203 m.w.N.). Diesem medizinischen Erfordernis ist aber dadurch Rechnung getragen, dass die vorliegend aus medizinischer Sicht relevanten Befunde und die in der Reaktion darauf erfolgten Behandlungsmaßnahmen in der Dokumentation erfasst sind. Dies erlaubte insbesondere den nachbehandelnden Kinderärzten (auch noch im Hause der Beklagten) eine weitere Einschätzung betreffend die gesundheitliche Situation des Klägers und hinsichtlich zu ergreifender Behandlungsmaßnahmen. So erfolgte ausgehend von dem Geburtsverlauf und dem daraus resultierenden Verdacht auf eine Plexusparese eine weitere Abklärung, anhand derer eine Claviculafraktur und Plexusparese links bei dem Kläger festgestellt sowie hinsichtlich der Plexusparese eine Vorstellung in der Universitätsklinik B zur Planung einer operativen Versorgung angeraten wurde.
177Soweit es also aus Sicht des gerichtlich bestellten Sachverständigen wünschenswert gewesen wäre, dass noch weitere Einzelheiten in die Dokumentation aufgenommen worden wären, folgt hieraus aber keine Dokumentationspflicht. Insofern hat der Sachverständige aus der maßgeblichen medizinischen Sicht – wie gesagt – ausgeführt, dass, wenn es tatsächlich so abgelaufen sei, wie es dokumentiert sei, und wie es die die Zeugen geschildert hätten, dann sei die Dokumentation ausreichend.
178Dass die Dokumentation den Verlauf unzutreffend wiedergegeben hätte, ließ sich aber – wie bereits dargestellt – gerade nicht feststellen.
179II.
180Da damit dem Kläger ein Schadensersatzanspruch bereits dem Grunde nach nicht zusteht, besteht auch kein Anspruch auf Zahlung von Zinsen, auf Feststellung der Ersatzpflicht (Klageantrag zu 2.), auf Freistellung von außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren (Klageantrag zu 3.) sowie auf Freistellung von Kosten für die herangezogenen Gutachter (Klageanträge zu 4. und 5.).
181III.
182Entsprechend der vorhergehenden Ausführungen war die Kammer auch nicht gehalten, gemäß § 412 ZPO eine neue Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen anzuordnen. Hierbei hat die Kammer berücksichtigt, dass sich die Einschätzung des gerichtlich bestellten Sachverständigen Prof. Dr. L in gewissen Teilen von der Einschätzung der Gutachter Prof. Dr. S und Prof. Dr. T unterscheidet. Die Kammer hat jedoch bereits im Einzelnen dargelegt, aus welchen Gründen vorliegend der Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. L zu folgen ist, ohne dass es der Einholung eines weiteren Gutachtens bedurft hätte.
183IV.
184Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1, 709 S. 1 ZPO.
185V.
186Der Streitwert wird auf 1.200.000,- € festgesetzt.
187Insofern entfällt auf den Klageantrag zu 1. ein Betrag von 500.000,- €. Mangels anderweitiger Anhaltspunkte hat die Kammer für den Klageantrag zu 2. das vom Kläger im Hinblick auf den Klageantrag zu 2. angegebene Interesse von 700.000,- € zugrunde gelegt. Die Kammer hat jedoch, da dieses angegebene Interesse schon großzügig bemessen ist, davon abgesehen, die Anträge zu 4. und 5. auf Freistellung von den Gutacherkosten nochmals darüber hinausgehend streitwerterhöhend zu berücksichtigen.
188Rechtsbehelfsbelehrung:
189Gegen dieses Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung für jeden zulässig, der durch dieses Urteil in seinen Rechten benachteiligt ist,
1901. wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 600,00 EUR übersteigt oder
1912. wenn die Berufung in dem Urteil durch das Landgericht zugelassen worden ist.
192Die Berufung muss innerhalb einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung dieses Urteils schriftlich bei dem Oberlandesgericht Hamm, Heßlerstr. 53, 59065 Hamm, eingegangen sein. Die Berufungsschrift muss die Bezeichnung des Urteils (Datum des Urteils, Geschäftsnummer und Parteien) gegen das die Berufung gerichtet wird, sowie die Erklärung, dass gegen dieses Urteil Berufung eingelegt werde, enthalten.
193Die Berufung ist, sofern nicht bereits in der Berufungsschrift erfolgt, binnen zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils schriftlich gegenüber dem Oberlandesgericht Hamm zu begründen.
194Die Parteien müssen sich vor dem Oberlandesgericht Hamm durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen, insbesondere müssen die Berufungs- und die Berufungsbegründungsschrift von einem solchen unterzeichnet sein.
195Mit der Berufungsschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des angefochtenen Urteils vorgelegt werden.
196Hinweis zum elektronischen Rechtsverkehr:
197Die Einlegung ist auch durch Übertragung eines elektronischen Dokuments an die elektronische Poststelle des Gerichts möglich. Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 130a ZPO nach näherer Maßgabe der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (BGBl. 2017 I, S. 3803) eingereicht werden. Auf die Pflicht zur elektronischen Einreichung durch professionelle Einreicher/innen ab dem 01.01.2022 durch das Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10. Oktober 2013, das Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 5. Juli 2017 und das Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 05.10.2021 wird hingewiesen.
198Weitere Informationen erhalten Sie auf der Internetseite www.justiz.de.