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Die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Amtsgerichts Warendorf vom 10.04.2024 wird verworfen.
Die Staatskasse trägt die Kosten des Berufungsverfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten.
G r ü n d e :
2(abgekürzt gemäß § 267 Abs. 4 StPO)
3I.
4Die Staatsanwaltschaft Münster hat dem Angeklagten mit Anklageschrift vom 04.05.2023 vorgeworfen, sich zwischen 2014 und 2016 in Dänemark und auf Mallorca in zwei Fällen des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen schuldig gemacht zu haben.
5Konkret wurde dem Angeklagten vorgeworfen, Einrichtungsleiter des Kinderhauses B., einer Betreuungseinrichtung und Wohngruppe für Kinder und Jugendliche in R., gewesen zu sein. In der Einrichtung in der B.-Straße ## in R. habe er zusammen mit seiner Ehefrau und ihnen anvertrauten Pflegekindern gewohnt. Der am ##.##.1999 geborene Zeuge K. habe von 2013 bis 2017 zusammen mit dem Angeklagten in der Wohngruppe gelebt.
61.
7An einem nicht mehr genau bestimmbaren Tag im Jahr 2014 oder 2015 hätten der Angeklagte und der Zeuge K. Urlaub in Dänemark gemacht. Beide seien mit einem Quad gefahren. Der Zeuge K. sei gefahren und der Angeklagte habe hinter ihm gesessen. Während der Fahrt habe der Angeklagte seine Hände von hinten oberhalb der Kleidung auf den Penis des Zeugen gelegt und ihn für ca. 30 Minuten gestreichelt. Den Wunsch des Zeugen, damit aufzuhören, habe er ignoriert.
82.
9In einem weiteren Urlaub auf Mallorca im Jahr 2016 hätten beide wieder eine Tour mit einem Quad gemacht. Abermals sei der Zeuge gefahren und der Angeklagte habe hinter ihm gesessen. Mit seinen Händen habe der Angeklagte die Hüften des Zeugen umfasst und sei weiter bis zum Schritt gewandert. Erneut habe er oberhalb der Kleidung über den Penis des Zeugen gestreichelt. Der Zeuge habe vor Schreck einen Unfall gebaut.
10Von diesem Vorwurf ist der Angeklagte mit Urteil des Amtsgerichts Warendorf vom ##.##.2024 freigesprochen worden.
11Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft form- und fristgerecht Berufung eingelegt.
12In der Hauptverhandlung hat die Kammer den Hinweis erteilt, dass die zeitliche Abfolge der Taten in umgekehrter Reihenfolge in Betracht komme. Zudem könne die zweite Tat allenfalls noch vor November 2015 vorgefallen sein.
13Die Berufung der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg. Der Angeklagte war aus tatsächlichen Gründen freizusprechen.
14II.
15Zur Sache hat die Kammer folgende Feststellungen getroffen:
16Der Angeklagte war seit 199# Einrichtungsleiter des Kinderhauses B., einer Betreuungseinrichtung und Wohngruppe für Kinder und Jugendliche in R., belegen an der B.-Straße ## in R.. Dort wohnte er zusammen mit seiner Ehefrau und ihnen anvertrauten Pflegekindern. Im Zeitraum von 2013 bis November 2015 lebte der am ##.##.1999 geborene Zeuge K. in der Wohngruppe.
17Der Angeklagte machte gemeinsam mit seinen Pflegekindern wiederholt Urlaube, u.a. auf Mallorca und in Dänemark, an denen auch der Zeuge K. teilnahm. In einem Urlaub auf Mallorca im Jahr 2014 oder 2015 lieh sich der Angeklagte zwei Quads, mit denen er – abseits der befestigten Straßen – auch die Pflegekinder fahren ließ. Nach dem Urlaub auf Mallorca erwarb der Angeklagte ein eigenes Quad. Dieses Quad nahm er mit in einen weiteren Urlaub in Dänemark, der jedenfalls noch vor November 2015 stattgefunden hat. Auch dort ließ er mitunter die Pflegekinder fahren.
18Dass der Angeklagte in diesen Urlauben den Zeugen K. während des Quadfahrens unsittlich berührte, ihm insbesondere – hinter ihm sitzend – den Penis streichelte, konnte die Kammer hingegen nicht feststellen.
19Am ##.##.2015 wurde der Zeuge K. im Wege der Krisenintervention aus der Wohngruppe des Angeklagten herausgenommen und im Krisenhaus C. in S. in Obhut genommen. Vorausgegangen waren Vorwürfe gegen den Zeugen K., wonach dieser nicht einvernehmliche sexuelle Handlungen an einem ebenfalls in der Wohngruppe des Angeklagten lebenden Mädchen vorgenommen haben soll. Zudem soll er heimlich Aufnahmen von Gesprächen mit der Ehefrau des Angeklagten angefertigt und verbreitet haben.
20Im Rahmen dieser Inobhutnahme beschuldigte der Zeuge K. den Angeklagten, ihm während eines Urlaubs beim Quadfahren in den Schritt gefasst zu haben. Entsprechende strafrechtliche Ermittlungen schlossen sich hieran zunächst nicht an, weil den Angaben des Zeugen kein Glauben geschenkt wurde.
21Das vorliegende Verfahren wurde aufgrund von Aussagen der Zeugen F. und J. in Gang gesetzt. Im Zuge des sodann eingeleiteten Ermittlungsverfahrens wurde die Wohnanschrift des Angeklagten am ##.##.2022 durchsucht. Dabei wurden verschiedene Datenträger sichergestellt. Soweit diese ausgewertet werden konnten, konnten dabei keine inkriminierten Dateien festgestellt werden. Im weiteren Verlauf wurde der Zeuge K. am ##.##.2023 polizeilich vernommen. Dabei schilderte er die in der Anklageschrift vom 04.05.2023 dargestellten Sachverhalte.
22Am ##.##.2022 wurde der vom Angeklagten geführten Einrichtung die Betriebserlaubnis entzogen. Grundlage der Entziehung waren nicht die streitgegenständlichen Vorwürfe aus der Anklageschrift vom 04.05.2023, sondern der Umgang des Angeklagten mit einem von ihm erkannten Missbrauchsvorfall zwischen zwei Bewohnern seiner Wohngruppe Anfang ##.2022.
23Über die vom Angeklagten gegen die Betriebsentziehung eingereichte Klage wurde noch nicht entschieden.
24III.
25Die Feststellungen zur Sache beruhen auf der nach Maßgabe des Hauptverhandlungsprotokolls durchgeführten Beweisaufnahme.
26Der Angeklagte hat die Vorwürfe zurückgewiesen und sich zur Sache selbst nicht eingelassen.
27Er ist konkret belastet worden durch den Zeugen K.. Die Kammer ist aber nicht davon überzeugt, dass sich die von diesem geschilderten Vorfälle auch tatsächlich ereignet haben. Aus Sicht der Kammer verbleiben durchaus erhebliche Zweifel.
28Die Aussage des Zeugen K. zeichnet sich dadurch aus, dass er sich auf konkrete Nachfrage immer wieder darauf zurückzog, sich nicht mehr genau erinnern zu können. Das ist einerseits aufgrund des verstrichenen Zeitablaufs durchaus plausibel, führt aber andererseits dazu, dass seine Schilderung relativ flach, wenig authentisch und ohne lebensnahe Details bleibt. Insbesondere die konkrete Interaktion zwischen ihm und dem Angeklagten bei den jeweiligen Tatausführungen konnte er nicht nachvollziehbar wiedergeben. Stattdessen verbleiben in seiner Aussage erhebliche Ungereimtheiten.
29So hat der Angeklagte sich bei seiner polizeilichen Vernehmung am ##.##.2023 darauf festgelegt, dass die Vorfälle sich – wie in der Anklageschrift wiedergegeben – zunächst in Dänemark und dann auf Mallorca ereignet hätten. Am Amtsgericht und auch in der Berufungsverhandlung hat er stattdessen klargestellt, dass der erste Vorfall auf Mallorca und erst der zweite Vorfall in Dänemark stattgefunden hätte. Auch seine eigene Reaktion hat er unterschiedlich beschrieben. Am Amtsgericht hatte der Angeklagte noch geschildert, er habe bei einem der Vorfälle das Quad gestoppt, angehalten und dem Angeklagten erklärt, dass er sich an den vorgesehenen Griffen festzuhalten habe. In der Berufungsverhandlung – ca. fünf Monate später – hat er dergleichen nicht berichtet und sich auf Vorhalt auch nicht an eine Anhaltesituation erinnern können. Bei seiner polizeilichen Vernehmung hat er zudem davon gesprochen, sich auf Mallorca derart erschrocken zu haben, dass er deswegen einen „Unfall gebaut“ habe. Am Amtsgericht und in der Berufungsverhandlung hat er hingegen geschildert, dass er als Reaktion auf den Übergriff aggressiv und schnell gefahren sei und es deshalb zum Unfall gekommen sei. In der Berufungshauptverhandlung hat der Zeuge außerdem zu Protokoll gegeben, der Angeklagte habe ihm – noch während der Fahrt – zugerufen: „Ich dachte, dir hätte das gefallen.“ Abgesehen davon, dass ein solcher Wortlaut (in der Vergangenheitsform) während der Fahrt kaum Sinn ergibt, hatte der Angeklagte bei der Polizei noch angegeben, dass der Angeklagte eine solche Äußerung erst im Anschluss getätigt habe. Auch die Dauer der Vorfälle hat der Zeuge sehr unterschiedlich beschrieben. So hat er bei der Polizei angegeben, der Angeklagte habe ihn die gesamte Fahrt über – für ca. 30 Minuten – gestreichelt. In der Berufungsverhandlung hat er stattdessen von fünf bis zehn Minuten gesprochen. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass die Dauer eines solchen Vorfalls subjektiv schwer einzuschätzen sein kann. Die bei dem Zeugen vorhandenen großen Differenzen in seiner zeitlichen Einordnung erscheinen aber nicht mehr nachvollziehbar.
30Hinzu kommt, dass die angeblich tatzeitnahen Schilderungen des Zeugen gegenüber anderen Personen bzw. dem Jugendamt nicht bestätigt worden sind.
31Die Zeugen O. und A., denen der Angeklagte sich unmittelbar (O.) bzw. direkt nach dem Urlaub (A.) offenbart haben will, haben jeweils angegeben, sich an ein solches Gespräch nicht erinnern zu können. Der Zeuge A., dem sich der Zeuge K. gleich mehrfach anvertraut haben will, hat sogar ausgesagt, dass der Zeuge K. damals vieles erzählt habe, was er ihm nicht geglaubt habe. Ein angeblicher Missbrauchsvorfall sei aber nicht dabei gewesen. Auch sein Vormund, die Zeugin G., der gegenüber sich der Angeklagte ebenfalls offenbart haben will, hat ausgesagt, dass sie lediglich im Rahmen der Inobhutnahme im ##.2015 von Dritten – nicht aber vom Zeugen selbst – von den Vorwürfen erfahren habe.
32Und auch beim Jugendamt ist eine entsprechende Anzeige nicht aktenkundig. Erst im Zuge der Herausnahme des Zeugen K. aus der Wohngruppe des Angeklagten hat er ausweislich des Trägerberichts vom 24.06.2016 von einem In-den-Schritt-fassen während einer Quadfahrt im Urlaub berichtet. In diesem Zusammenhang hat die Zeugin G. ausgeführt, dass sie diese Vorwürfe nicht ernst genommen habe. Sie sei zehn Jahre lang als Vormund für den Zeugen und auch dessen Schwester zuständig gewesen. Er habe in seiner Ursprungsfamilie massive Vernachlässigung und Misshandlung erfahren, möglicherweis auch sexuellen Missbrauch. Dies habe zu einer erheblichen Störung seines sozial-emotionalen Verhaltens geführt. Auf Zurückweisung habe er massiv reagiert, u.a. mit Hass und wiederholt auch mit falschen Vorwürfen. Vor diesem Hintergrund kann sich die Kammer gut vorstellen, dass der Angeklagte die Vorwürfe damals als Retourkutsche auf den Streit zwischen ihm und der Ehefrau des Angeklagten sowie die Verweisung aus der Wohngruppe formuliert hat. Jedenfalls lässt sich eine solche These nicht eindeutig widerlegen.
33Auch die Aussagegenese erscheint der Kammer – ebenso wie die Aussagekonstanz (s.o.) – nicht unproblematisch.
34Zwar hat der Zeuge nicht von sich aus Anzeige erstattet, sondern ist erst im laufenden Ermittlungsverfahren als Zeuge gehört worden. Das erscheint aber auch nicht weiter verwunderlich, nachdem er die Vorwürfe bereits Ende 2015 erhoben hatte, ohne dass ihm damals Glauben geschenkt worden ist. Vor seiner amtsgerichtlichen Aussage hat es demgegenüber nachweislich einen inhaltlichen Austausch mit den Zeugen F. und J. gegeben, wie der Zeuge F. im Rahmen der Berufungsverhandlung selbst zu Protokoll gegeben hat. Insbesondere sei der chronologische Ablauf noch einmal durchgesprochen worden, was dann ja auch zu einer Klarstellung des Zeugen K. in der zeitlichen Abfolge vor dem Amtsgericht geführt hat (s.o.). Damit hat es also eindeutig eine Absprache zwischen den Zeugen K., F. und J. gegeben. Ausweislich der Aussage der Zeugin G. ist außerdem ein weiteres ihrer Mündel von dem Zeugen J. dahingehend angesprochen worden, ob dieses sich ihrer Aussage gegen den Angeklagten nicht anschließen wolle.
35Die Kammer sieht – anders als die Staatsanwaltschaft – auch durchaus Belastungstendenzen bei dem Zeugen K..
36So hat er zwar deutlich gemacht, dass es auch gute Momente in der Wohngruppe gegeben habe und der Angeklagte grundsätzlich ein guter Mensch sei und ihm dessen Bestrafung nicht wichtig sei. Gerade an letzterer Darstellung bestehen ausweislich des Chatverkehrs mit dem Zeugen F. aber erhebliche Zweifel. So hat der Zeuge F. dem Zeugen K. am ##.##.2024 – im Anschluss an den ersten Verhandlungstag vor dem Amtsgericht – einen Artikel des WDR über den Prozess weitergeleitet mit der Bemerkung: „Auf jeden Fall überall posten und teilen! Der soll kein Fuß mehr fassen können!“, woraufhin der Zeuge K. antwortete: „Mach ich schon. Mach ich. Keine Sorge.“ und „Ich kann das ganz auch an den Banditos leiten die werden ihn kastrieren. 100 %. Wenn ich einmal mein Mund öffne dann ist vorbei“. Derartige Äußerungen lassen nur den Schluss zu, dass dem Zeugen K. eine Verurteilung des Angeklagten jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt wichtig war, wenngleich er nunmehr – nachdem ihm weder Ende 2015 noch am Amtsgericht geglaubt worden ist – resigniert haben mag.
37Ob die Angaben der weiteren Zeugen F. und J. überzeugen können, kann aus Sicht der Kammer im Ergebnis dahinstehen. Denn entscheidend ist, dass diese Zeugen bei den streitgegenständlichen Vorfällen nicht zugegen waren und daher insoweit kein eigenes Erleben schildern können. Sie haben allgemein eine problematische homosexuelle und auch pädophile Präferenz des Angeklagten beschrieben, ohne dass daran konkrete strafrechtliche Vorwürfe angeknüpft werden könnten.
38Keinesfalls können ihre Angaben über die Ungereimtheiten in der Aussage des Zeugen K. hinweghelfen.
39Die weiteren Feststellungen zu der Inobhutnahme des Zeugen K. und dem hiesigen Verfahrensgang beruhen auf den hierzu verlesenen Dokumentationen.
40IV.
41Nach den getroffenen Feststellungen war der Angeklagte vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in zwei Fällen aus tatsächlichen Gründen freizusprechen.
42V.
43Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 467 Abs. 1, 473 Abs. 1 und Abs. 2 StPO.