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Das Amtsgericht Münster hält die Regelungen des Betäubungsmittelgesetzes, soweit sie Cannabisprodukte in der Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtMG mit der Folge aufführen, dass der unerlaubte Besitz dieser Stoffe den Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes unterliegt, für verfassungswidrig.
Das Verfahren wird ausgesetzt und gemäß Artikel 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.
Gründe:
2I.
3Prozessgeschichte, Sachverhalt und rechtliche Würdigung
41. Prozessgeschichte
5Mit Verfügung vom 15. September 2020 beantragte die Staatsanwaltschaft Münster wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln gemäß §§ 1, 3 Abs. 1 Nr. 1, 29 Abs. 1 Nr. 3, 33 BtMG den Erlass eines Strafbefehls in Höhe von 20 Tagessätzen zu je 10,00 € (gleich 200,00 €). Auch wurde beantragt dem Angeschuldigten die Kosten des Verfahrens gemäß § 465 StPO aufzuerlegen. Dem Angeschuldigten wurde zur Last gelegt, am 20. September 2020 0,4 Gramm Marihuana mit sich geführt zu haben, ohne eine Erlaubnis für den Erwerb von Betäubungsmitteln zu besitzen. Nach Eingang des Strafbefehlsantrages eröffneten sich Bedenken gegen den Erlass des beantragten Strafbefehls, da dem Amtsgericht inzwischen der Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Bernau (2 Cs 226 Js 7322/19) in einem ähnlich gelagerten Sachverhalt zur Kenntnis gelangt war, welcher die seit Jahren gehegten Zweifel des Unterzeichners bezüglich der Verfassungswidrigkeit einer solchen Verurteilung treffen zusammenfasste. Die Staatsanwaltschaft wurde auf diese Bedenken durch Übersendungsverfügung vom 28. September 2020 aufmerksam gemacht, mit dem Hinweis, dass eine Aussetzung in entsprechender Anwendung des § 262 Abs. 2 StPO in Betracht komme, bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Hinsichtlich der Zulässigkeit einer derartigen Aussetzung stützte sich das Gericht auf die Entscheidung des BayOBlG vom 15. April 1994 (3 ObOOWi 15/94). Die Staatsanwaltschaft Münster widersprach einem derartigen Vorgehen mit der Begründung, dass der Angeschuldigte unter laufender Bewährung stünde. Der Angeschuldigte wurde mit Datum vom 5. Oktober 2020 auf das beabsichtigte Vorgehen aufmerksam gemacht. Er äußerte sich nicht.
6Bei nochmaliger Prüfung der Rechtslage kam das Gericht unter Berücksichtigung des Beschlusses des Landgerichts Osnabrück vom 23. Dezember 1985 (22 Qs X 202/85) zu der Schlussfolgerung, dass eine auf § 262 Abs. 2 StPO gestützte Aussetzung nicht zulässig sein dürfte, sondern vielmehr eigene Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der anzuwendenden Rechtsnorm zu treffen hat.
72. Sachverhalt
8Der Angeschuldigte wurde am 20. Juni 2020 in Bahnhofsnähe von Polizeibeamten im Rahmen der Bekämpfung von Betäubungsmitteldelikten angesprochen und die beabsichtigte körperliche Durchsuchung angezeigt. Daraufhin übergab er den Beamten ein Cliptütchen, machte jedoch keine näheren Angaben zum Tatvorwurf. Das Wiegen mit einer nicht geeichten Waage sowie ein Geruchs/Sichttest ließ die Polizeibeamten zu dem Schluss gelangen, dass es sich bei dem Inhalt um 0,4 Gramm Marihuana handelte.
9Der Angeschuldigte, ist in strafrechtlicher Hinsicht bereits mehrfach aufgefallen. Zuletzt wurde vom Jugendschöffengericht des Amtsgerichts Münster am 00. November 2019 wegen schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie Diebstahl ein Schuldspruch gem. § 27 JGG mit einer einjährigen Bewährungszeit gegen ihn ausgesprochen (16 Ls 00/19).
10Im dortigen Urteil hat das Gericht folgende Feststellungen zur Person des Angeschuldigten getroffen:
11„Der Angeklagte X1 war zu den Tatzeitpunkten 19 Jahre und 2 Monate bzw. 19 Jahre und 10 Monate alt.
12Er wuchs gemeinsam mit seinen Eltern und der älteren Schwester in einer Wohnung in Eritrea auf. Als er älter wurde, war sein Vater aufgrund des Einzugs in den Militärdienst selten zu Hause, so dass die Mutter mit den beiden Kindern allein war und keine finanziellen Mittel zur Verfügung standen. Aufgrund dessen trat der Vater nach einem Kurzurlaub bei seiner Familie nicht erneut zum Militärdienst an. Er wurde inhaftiert und floh aus dem Gefängnis. Seither hat die Familie keinen Kontakt mehr zu ihm. Anschließend wurde die Mutter zeitweise inhaftiert und die Schwester wurde nach Abschluss der Schule ebenfalls in den Nationaldienst eingezogen, so dass für etwa zwei Jahre kein Kontakt bestand.
13Da bei dem Angeklagten der Schulabschluss näher rückte und er damit ebenfalls unvermeidlich vom Militär eingezogen worden wäre, beschloss die Familie, dass es das Beste sei, wenn er Eritrea verlässt. So kam er 2014 nach Deutschland.
14Von 2014 bis Sommer 2017 lebte er in einer Wohngruppe des F in Münster. Angaben des damaligen Betreuers Herrn C nach sei er sehr zuverlässig und hilfsbereit.
15Im Sommer 2017 wurde er an die Verselbstständigung herangeführt. So bezog er eine eigene Wohnung und wurde nur noch ambulant betreut.
16In schulischer Hinsicht kam er in Eritrea im Alter von 7 Jahren in die Schule. Die Schule besuchte er bis kurz vor Ende der 8. Klasse und floh vor Abschluss der Schule nach Deutschland. In Deutschland ging er zur K-Schule in Z1. Geplant war der Hauptschulabschluss im Sommer 2017. Diesen hat er nicht erlangt.
17Im Jahr 2018 hat er die Hauptschule ohne den Hauptschulabschluss verlassen. Er hat längere Zeit weder die Schule besucht, noch eine berufliche Tätigkeit ausgeübt.
18Mittlerweile befindet er sich jedoch in einer Ausbildungsvorbereitungsmaßnahme zum Maler- und Lackierer in R.
19Weiterhin lebt er aktuell im Haushalt seiner Freundin Z2 und deren Mutter in X2. Am 00.00.2019 wurde deren gemeinsames Kind geboren. Die Mutter der Freundin unterstützt das Paar aktuell bei bürokratischen Anforderungen und stellt dementsprechend eine wichtige Orientierungsgröße dar.
20In strafrechtlicher Hinsicht ist der Angeklagte X1 folgendermaßen in Erscheinung getreten:
21Verfahren beim AG Münster vom 00.00.2017
22Tatbezeichnung: Diebstahl
23Erbringung von Arbeitsleistungen
24Verfahren eingestellt nach § 47 JGG
25Verfahren bei der StA Münster vom 00.00.2017
26Tatbezeichnung: Unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln
27Von der Verfolgung abgesehen nach § 45 Abs. 1 JGG
28Urteil des AG Münster vom 00.00.2017
29(16 Ls 000 Js 000/17 –AK 000/17)
30Tatbezeichnung: Gewerbsmäßiges Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in 3 Fällen
314 Wochen Jugendarrest
32Verfall oder Einziehung von Taterträgen
33Richterliche Weisung
34Jugendarrest wegen Zuwiderhandlung gegen Auflagen 2 Wochen“
353. Rechtliche Würdigung
36Aufgrund des festgestellten Sachverhalts hat sich der Angeschuldigte gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG in Verbindung mit der Anlage 1 zu § 1 Abs. 1 BtMG wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln strafbar gemacht.
37An dem Erlasse des Strafbefehls sieht sich das Gericht mangels hinreichenden Tatverdachts hinsichtlich der vorgeworfenen Straftat jedoch gehindert, weil es aufgrund allgemein zugänglichen Quellen zur Überzeugung gekommen ist, dass die hier zur Anwendung kommenden Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes und deren hieraus folgenden zuvor aufgezeigten Problematiken nach Maßgabe des Beschlusstenors zur sicheren Auffassung des Amtsgerichts verfassungswidrig sind. Denn wenn die Aufnahme von Cannabis in der Anlage 1 zu § 1 Abs. 1 BtMG mit der Folge der Strafbarkeit gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG gegen das Grundgesetz verstößt, darf das Gericht den Angeklagten nicht bestrafen und auch nicht die Schuld mit der Folge, dass ihm auch die Kosten des Verfahrens auferlegt werden müssten, feststellen. Der Angeklagte wäre damit freizusprechen. Sind die vorgenannten Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes hingegen mit dem Grundgesetz vereinbar, dann ist der Angeklagte zu bestrafen. Das Gericht musste daher das Verfahren aussetzen und mit folgender Begründung gemäß Artikel 100 Abs. 1 Grundgesetz die Sache dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorlegen.
38II.
39Bezüglich der weiteren Begründung des Beschlusses übernimmt das Gericht unter Berücksichtigung der zeitlichen Ressourcen, welche einem Amtsgericht zur Verfügung stehen und unter Berücksichtigung des weitgehend gleichgelagerten Grundsachverhaltes im Hinblick auf die vorgeworfene strafbare Handlung nach eigener Prüfung im Folgenden wörtliche Teile des Vorlagebeschlusses des Amtsgerichts Bernau bei Berlin vom 18. September 2019 ((2 Cs 226 Js 7322/19 (346/19)) welches wiederum teilweise wortwörtliche Passagen, insbesondere zu den neuen entscheidungserheblichen Tatsachen aus der vom Deutschen Hanfverband durch Rechtsanwälte erstellten Mustervorlage übernommen hat. Diese wurde zuvor bereits Anfang September 2019 in verschiedenen Fachzeitschriften, so der Kritischen Justiz, der NStZ und der Neuen Juristischen Wochenschrift (Jahrgang 2019, Heft 37) veröffentlicht. Auch hat das Amtsgericht Bernau insbesondere hinsichtlich der zur hilfsweise gestellten Überprüfung des § 29 Abs. I Nr. 1 BtMG teilweise auf wörtliche Begründungen aus der Vorlageentscheidung des Amtsgerichts Bernau bei Berlin vom 11. März 2002 zurückgegriffen
40In dem Beschluss vom 18. September 2019 führt das Amtsgericht Bernau aus:
41„Vorwort
42Seit bald einem halben Jahrhundert wird der Umgang mit Cannabis mit Ausnahme des bloßen Konsumierens durch das Betäubungsmittelgesetz in verschiedenen Ausprägungen unter Strafe gestellt. Dies deshalb, weil in der Anlage zum Betäubungsmittelgesetz sämtliche Cannabisprodukte aufgeführt wurden. Seit dem wurden in der Bundesrepublik Deutschland geschätzt weit über 10 Millionen strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen Menschen geführt, die entgegen der bestehenden Gesetzeslage den Umgang mit Cannabis pflegten. Weit über eine halbe Million Menschen sind infolge der Prohibitionsgesetzgebung aufgrund von Verhängung von Freiheitsstrafen, Arresten bzw. des Verbüßens von Ersatzfreiheitsstrafen inhaftiert worden.
43Allein im Jahr 2018 machten konsumbezogene Cannabisdelikte mit 179.700 registrierten Fällen 51% aller Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz aus (insgesamt 350.662 Fälle, vgl.: Polizeiliche Kriminalstatistik 2018). 82% aller erfassten Ermittlungsverfahren wegen Delikten mit Cannabisbezug sind rein auf Konsumenten bezogen (vgl. ebd.).
44Trotz einer Einstellungsquote bei Konsumenten von durchschnittlich 2/3, dürften mit Blick auf die jährlich steigenden Zahlen konsumbezogener Cannabisdelikte ( im Jahr 2019 : 186455 Fälle laut Polizeilicher Kriminalstatistik ) nach wie vor jährlich und zwar überwiegend mittels des Strafbefehlsverfahrens um die zwanzigtausend Menschen auch wegen Besitzes, Erwerbens oder sonstigen Verschaffens von Cannabis, selbst bei sehr geringen Mengen, durch deutsche Straf- und Jugendgerichte verurteilt worden sein (Vgl. insoweit unten Seite 122). In weiteren sicher weit über 10000 Fällen jährlich sind ihre Verfahren durch die Staatsanwaltschaften und Gerichte, nachdem die Angeklagten sich vor ihnen zu verantworten hatten, gegen Geld - oder Arbeitsauflagen eingestellt worden. Durch die erfolgten Verfahren und Verurteilungen wurden ganze Familien betroffen, Menschen in ihren Entwicklungsprozessen behindert und stigmatisiert sowie mit weiteren Rechtsfolgen wie Führerscheinentzug oder Verlustes des Arbeitsplatzes staatlich versehen. Trotz aller wissenschaftlicher Erkenntnisse bezüglich der Pflanze Cannabis und ihrer Gefährlichkeit, der internationalen Entwicklungen, allgemeiner Erkenntnisse sowie der zwischenzeitlich geänderten gesellschaftlichen Auffassungen reagiert der Gesetzgeber der Bundesrepublik Deutschland nicht, bleibt tatenlos und hält an der umfassenden Cannabisprohibition fest.
45Die Väter und die Mütter des Grundgesetzes haben mit Artikel 100 Abs. 1 Grundgesetz unter Beachtung des Gewaltenteilungsprinzips für einen solchen Fall die dritte Gewalt mit dem Recht der Prüfung von möglicherweise ehemals verfassungsgemäßen, aber nunmehr verfassungswidrigen Gesetzen versehen. Artikel 100 Abs. 1 Grundgesetz gibt der 3. Gewalt mithin vorliegend den Straf- und Jugendgerichten nicht nur das Recht, sondern auch die Verpflichtung das Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung einer verfassungswidrigen Strafgesetzgebung anzurufen (vgl. statt aller von Münch/ Kunig Grundgesetz Kommentar zu Art 100 Rdnr. 3 und 4 mit weiteren Nachweisen und Bezügen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Voßkuhle, v MKS, Rn.3. ) Von dieser Verpflichtung macht das vorlegende Gericht nunmehr entsprechend des auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland abgelegten Amtseides Gebrauch. Soweit die gesetzgeberische Gewalt trotz aller Erkenntnisse, wissenschaftlicher und sozialer Veränderungen eine vielleicht ehemals verfassungsgemäße, jetzt aber ein zur Überzeugung des Gerichts verfassungswidrige Gesetzgebung nicht ändert, so muss bei einer von den Verfassern des Grundgesetzes gewollten vernünftigen Gewaltenteilung eine Änderung durch die 3. Gewalt herbeigeführt werden. Hiernach ist es dringend geboten, dass sich das Bundesverfassungsgericht, das sich nun über 26 Jahre nicht mehr mit der Cannabis-Prohibition auseinandergesetzt hat, mit der Frage befasst, ob die Verfolgung von Millionen von Menschen in der Bundesrepublik Deutschland wegen des Umgangs mit Cannabis noch zeitgemäß ist und den Ansprüchen einer freiheitlichen Gesellschaft und dem Auftrag des Grundgesetzes, insbesondere Minderheiten zu schützen, entspricht.“
46(…)
47„B.
48Zulässigkeit der Vorlage bezüglich der hilfsweise zur Überprüfung gestellten
49Norm des § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG
501. Bisherige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
51a. Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 9.3.1994 (BVerfGE 90,145 ff. )
52Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner bereits wiederholt zitierten Entscheidung vom 9.3.1994 die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes soweit der generelle Umgang mit Cannabis unter Strafe gestellt wurde, letztlich für verhältnismäßig erachtet. Allerdings nur deswegen, weil der Gesetzgeber es den Strafverfolgungsorganen ermöglicht hat, durch das Absehen von Strafe (vgl. § 29 Abs. 5 BtMG) oder Strafverfolgung (vgl. §§ 153 ff. StPO, § 31a BtMG) einem geringen individuellen Unrechts- und Schuldgehalt der Tat Rechnung zu tragen. Soweit Verhaltensweisen mit Strafe bedroht seien, die ausschließlich den gelegentlichen Eigenverbrauch geringer Mengen von Cannabisprodukten vorbereiten und nicht mit einer Fremdgefährdung verbunden sind, würden sie deshalb nicht gegen das Übermaßverbot verstoßen. Das Bundesverfassungsgericht hat den Strafverfolgungsorganen aufgegeben, in diesen Fällen nach dem Übermaßverbot von der Verfolgung der in § 31a BtMG bezeichneten Straftaten grundsätzlich abzusehen haben.
53Es mahnte zugleich eine einheitliche Regelung auf der gesamten Bundesebene an (vgl. BVerfGE 90, 145, 190/191).
54Des Weiteren stellte das Bundesverfassungsgericht bereits 1994 fest, dass die Abwägung zwischen dem Eingriff in die Grundrechte und dem Schutz von Rechtsgütern hinsichtlich des Umgangs mit geringen Mengen Cannabis die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der diesbezüglichen Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes zur Folgen haben könnte (vgl. BVerfGE, 90, 145, 185). Insoweit führte das Gericht seinerzeit aus, dass gerade in Fällen, in denen die Cannabisprodukte lediglich in geringen Mengen zum gelegentlichen Eigenverbrauch erworben und besessen würden, das von der Tat ausgehende Maß der Rechtsgütergefährdung und individuellen „Schuld“ sehr gering sein könne. Insgesamt sei der individuelle Beitrag der Kleinkonsumenten zur Verwirklichung der Gefahren, vor denen das Verbot des Umgangs mit Cannabisprodukten schützen solle, gering. Bei welcher Menge die Feststellung einer geringen Schuld zur Folge haben könne ließ das Bundesverfassungsgericht seinerzeit offen.
55Dem Übermaßverbot sollte durch verfahrensbeendende Einstellungsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft bzw. durch das Absehen von Strafe nach § 29 Abs. 5 BtMG letztlich genüge getan werden. Das Bundesverfassungsgericht entschied sich seinerzeit für eine prozessuale Lösung, um dem Übermaßgebot und damit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung zu tragen. Eine materiell - rechtliche Lösung dahingehend, dass der Gesetzgeber verpflichtet sei eine Strafverfolgung von Konsumenten zu verhindern, indem er von vornherein Konsumenten bis zu einer festzusetzenden Menge straflos stellt, wurde zwar diskutiert aber nicht verlangt ( vgl. abweichende Ansicht Sommer BVerfGE 90,145, S. 212 ff.).
56b. Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 29.06.2004 - 2 BVL 8/02 -
57Mit Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29.06.2004 - 2 BVL 8/02 - auf den Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Bernau bei Berlin vom 11.03.2002 wurde im Ergebnis festgestellt, dass die Vorlage den Begründungsanforderungen für eine erneut Richtervorlage nicht ausgereicht habe. In der Entscheidung wurden Begründungsanforderungen wie folgt festgelegt:
58„Das vorlegende Gericht ist gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG an die frühere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gebunden. Ihr kommen gemäß § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft und Rechtskraftwirkung zu (vgl. BVerfGE 33, 199 (203) m. w. N.). Da das vorlegende Gericht im Falle einer erneuten Vorlage einen Spruch begehrt, der im Gegensatz zu der früheren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht, muss es im Einzelnen die Gründe dafür darlegen, dass die Rechtskraft der früheren Entscheidung eine erneute Sachprüfung nicht hindert. Die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung bezieht sich zwar stets auf den Zeitpunkt, in dem sie ergeht; sie erfasst damit nicht solche Veränderungen, die erst später eintreten. Sie steht einer erneuten Vorlage daher nicht entgegen, wenn das vorlegende Gericht sich auf neue Tatsachen beruft, die erst nach der früheren Entscheidung entstanden oder bekannt geworden sind. Eine erneute Vorlage ist in solchen Fällen aber nur dann zulässig, wenn sie von der Begründung der früheren Entscheidung ausgeht; das vorlegende Gericht muss den in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dokumentierten Rechtsstandpunkt einnehmen und neue Tatsachen darlegen, die vor diesem Hintergrund geeignet sind, eine von der früheren Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts abweichende Entscheidung zu ermöglichen.“
59Da das Bundesverfassungsgericht 2004 im Rahmen einer Kammerentscheidung die Vorlage des Amtsgericht Bernau bei Berlin bereits als unzulässig gewertet hatte, erfolgte mithin eine Sachentscheidung nicht. Bezüglich der seinerzeit durch das Amtsgericht Bernau bei Berlin bereits gerügten uneinheitlichen Einstellungspraxis der Strafverfolgungsbehörden führte das Bundesverfassungsgericht lediglich aus, dass die Darlegungen in sich widersprüchlich seien und daher nicht geeignet seien, die gesetzliche Konzeption in Zweifel zu ziehen. Eine Begründung hierfür erfolgte nicht.
60Unter Würdigung beider zuvor dargelegten Entscheidungen hat sich das vorlegende Gericht, da 2004 keine Sachentscheidung ergangen ist, mithin lediglich an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 09. März 1994 zu orientieren und von der Begründung dieser Entscheidung auszugehen (vgl. zu Kammerbeschlüssen BVerfGE Bd. 92,91,107).
61Das Bundesverfassungsgericht hatte 1994 festgestellt, dass die Vorschriften des „CannabisStrafrechts“, die ausschließlich den gelegentlichen Eigenverbrauch geringer Mengen von Cannabis vorbereiten und nicht mit einer Fremdgefährdung verbunden sind, deshalb nicht gegen das Übermaßverbot verstoßen, weil der Gesetzgeber es den Verfolgungsorganen ermögliche, durch das Absehen von Strafe oder Strafverfolgung einem geringen individuellen Unrechts- und Schuldgehalt der Tat Rechnung zu tragen. Das Bundesverfassungsgericht verpflichtete insoweit die Strafverfolgungsorgane nach dem Übermaßverbot von der Verfolgung der in § 31 a BtMG bezeichneten Straftaten grundsätzlich abzusehen (BVerfGE Urteil vom 9.03.1994, 2 BvR 2031/92, Leitsatz Nr. 3). In seiner Begründung hat das Bundesverfassungsgericht es als bedenklich angesehen, wenn es bei einer 1994 festgestellten unterschiedlichen Einstellungspraxis in den verschiedenen Bundesländern bliebe ( BVerfGE 90,145,190). Als zentrale Differenzpunkte wurden dabei die Bestimmungen zur geringen Menge und die rechtliche Behandlung von Wiederholungstätern genannt (BVerfGE Urteil vom 09.03.1994, 2 BvR 2031/92, Rn. 167). Das Bundesverfassungsgericht verpflichtete insoweit die Länder, für eine im Wesentlichen einheitliche Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaften zu sorgen. Eine solche im Wesentlichen einheitliche Einstellungspraxis sei nicht gewährleistet, sofern „die Behörden in den Ländern durch allgemeine Weisungen die Verfolgung bestimmter Verhaltensweisen nach abstrakt-generellen Merkmalen wesentlich unterschiedlich vorschrieben oder unterbänden“ (BVerfGE 90,145,190). Das Bundesverfassungsgericht hat mithin 1994 deutlich gemacht, dass im Bereich der Strafverfolgung und speziell auch bei der verfassungsrechtlich gebotenen Anwendung der diversen Einstellungsvorschriften aufgrund des Übermaßverbotes im Bereich der mit dem Umgang mit Cannabisprodukten aufgeführten Strafvorschriften eine einheitliche Rechtsanwendungspraxis geboten sei.
622. Neue entscheidungserhebliche Tatsachen
6326 Jahre nach Ergehen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1994 und unter der Berücksichtigung der oben dargelegten neueren wissenschaftlichen und tatsächlichen Erkenntnisse ist das Amtsgericht Bernau bei Berlin zur festen Überzeugung gelangt, dass jedenfalls heute neue entscheidungserhebliche Tatsachen vorliegen (vgl. oben zu II) und dass die damals durch das Bundesverfassungsgericht gewählte sogenannte prozessuale Lösung verfassungswidrige Eingriffe in die Rechte von Bürgern nicht zu verhindern vermochte. Bereits der hier dem Bundesverfassungsgericht vorgelegte Fall zeigt, dass nach wie vor trotz der Einstellungsmöglichkeiten durch die Staatsanwaltschaft gegen das Übermaßverbot verstoßen wird. Abgesehen davon wird - insofern gerichtsbekannt - in tagtäglicher Praxis jährlich in zehntausenden Fällen gegen das Übermaßverbot verstoßen. Dies wird bereits durch die regelmäßig durch das statistische Bundesamt jährlich veröffentlichten Strafverfolgungsstatistiken belegt.
64So wurden alleine wegen konsumnaher Delikte nach § 29 BtMG in den Jahren 2009 bis 2015 laut Strafverfolgungsstatistik folgende Zahlen an Verurteilten und Abgeurteilten bezüglich aller Betäubungsmittel festgestellt. (vgl. Körner/Patzak/Volkmer Kommentar zum Betäubungsmittelgesetz 9. Auflage zu § 29 Rdnr. 21, vgl. auch https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Justiz-Rechtspflege/Publikationen/Downloads- Strafverfolgung-Strafvollzug/strafverfolgung-2100300177004.pdf?__blob=publicationFile).
65Jahr |
2009 |
2010 |
2011 |
2012 |
2013 |
2014 |
2015 |
Straftaten nach dem |
|||||||
BtMG insgesamt |
67.025 |
62.404 |
62.148 |
60.230 |
60.242 |
55.793 |
47.380 |
§ 29 Abs. 1 Satz 1 |
|||||||
Nr. 1 BtMG |
32.375 |
28.011 |
27.101 |
25.465 |
24.577 |
21.035 |
15.694 |
§ 29 Abs. 1 Satz 1 |
|||||||
Nr. 3 BtMG (Besitz) |
22.339 |
22.773 |
23.864 |
23.598 |
25.062 |
24.864 |
22.594 |
§ 29 Abs. 1 Satz 1 |
|||||||
Nr. 2 und Nr. 5 ff. BtMG |
|||||||
(andere Begehungsweise |
|||||||
nach § 29 Abs. 1 BtMG) |
374 |
363 |
320 |
262 |
312 |
219 |
152 |
§ 29 Abs. 3 Nr. 1 |
|||||||
BtMG (gewerbsmäßige |
|||||||
Begehungsweise) |
1.583 |
1.412 |
1.355 |
1.281 |
1.172 |
979 |
694 |
§ 29 Abs. 3 Nr. 2 |
|||||||
BtMG (Gefährdung |
|||||||
der Gesundheit |
|||||||
mehrerer Menschen) |
14 |
14 |
14 |
11 |
9 |
13 |
10 |
§ 29 Abs. 4 BtMG |
|||||||
(Fahrlässige Begehung) |
4 |
1 |
2 |
4 |
2 |
1 |
0 |
Auch wenn es in der Strafverfolgungsstatistik keine konkrete Aufschlüsselung nach der Art des Betäubungsmittels gibt, wegen dem verurteilt wurde, dürften, trotz einer Einstellungsquote bei Cannabiskonsumenten von durchschnittlich 2/3, mit Blick auf die jährlich steigenden Zahlen konsumbezogener Cannabisdelikte (laut Polizeilicher Kriminalstatistik im Jahr 2018 : 179700 Fälle und im Jahr 2019 : 186455 Fälle ) nach wie vor jährlich und zwar überwiegend mittels des Strafbefehlsverfahrens zwischen zwanzig und dreißigtausend Menschen auch wegen Besitzes, Erwerbens oder sonstigen Verschaffens von Cannabis, selbst bei sehr geringen Mengen, durch deutsche Straf- und Jugendgerichte verurteilt worden sein.
67So machten im Jahr 2018 konsumbezogene Cannabisdelikte mit 179.700 registrierten Fällen 51% aller Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz aus (insgesamt 350.662 Fälle, vgl.: Polizeiliche Kriminalstatistik 2018, abrufbar unter:
68https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstat istik/PKS2018/Standardtabellen/standardtabellenFaelle.html?nn=108686). Hiervon sind 82% aller erfassten Ermittlungsverfahren wegen Delikten mit Cannabisbezug rein auf Konsumenten bezogen (vgl. ebd.). Dies entspricht etwa einer jährlichen Zahl von 70000 Fällen. Selbst bei einer hoch geschätzten Einstellungsquote in 2/3 aller Fälle verbleiben noch konservativ berechnet um die 20000 Fälle, in denen verurteilt wird. Dies entspricht in etwa auch der Anteile bezüglich der zuvor dargestellten polizeilichen Strafverfolgungsstatistik.
69Entgegen den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes sind die Einstellungsrichtlinien der Länder noch immer uneinheitlich, soweit es geringe Mengen zum Eigenbedarf betrifft. Bundeseinheitliche Richtlinien gibt es nicht. Regelmäßige Versuche der Länder im Rahmen der Justizministerkonferenzen, eine einheitliche bundesweit geltende Regelung zu verabschieden, scheiterten immer wieder an den jeweils durch vorhandene unterschiedlichen Ansichten bezüglich der zugrunde zu legenden Mengen bzw. der gegebenenfalls zu privilegierenden Personen. Vielmehr gaben sich die Bundesländer unterschiedliche Richtlinien (Körner, Hans-Harald/Patzak, Jörn/Volkmer, Mathias, BtmG Kommentar, § 31a BtMG, Rn. 42 ff., 9. Aufl. 2019 nachfolgend zitiert als Körner). Die Versuche der Beschränkung eines Tatbestandes mit Mitteln des Prozessrechts durch Weisungen der Staatsanwaltschaften der Länder führte und führt dazu, dass die befassten Strafverfolgungsbehörden über die uneinheitliche Anwendung des Opportunitätsprinzips auch uneinheitlich bestimmen; aufgrund des Föderalismus kann es so gut wie keine richterliche, insbesondere höchstrichterliche und schon gar nicht bundeseinheitlich höchstrichterliche Kontrolle der Einstellungen geben. Die Strafverfolgungsbehörden bestimmen daher weitgehend unkontrolliert selbst, was strafbar ist (vgl. hierzu auch Möller, S. 72 ff, 124 ff.).
70Bei Sichtung der Richtlinien offenbaren sich bei der Bestimmung der geringen Mengen von Cannabisprodukten sowie weiterer Voraussetzungen erhebliche Unterschiede. Trotz des Umstandes, dass mittlerweile 12 Bundesländer 6 Gramm Bruttogesamtgewicht an Cannabis als einstellbare Menge ausweisen, zeigen sich doch erhebliche Unterschiede in den Richtlinien ( Vgl. zu den bis 2019 bestehenden Richtlinien Körner zu § 31a BtMG Rdnr. 43 ) Ausnahmen hiervon sind Berlin, Rheinland-Pfalz, Thüringen und Nordrhein-Westfalen. Zum 1.4. 2020 änderte das Bundesland Bremen seine Richtlinien im Sinne einer Verbesserung für den Konsumenten dahingehend, dass nunmehr bei Mengen bis zu 15 Gramm eingestellt werden kann, womit zur Zeit noch 11 Bundesländer die 6 Gramm Regelung haben.
71Die Schwankungsbreite von Kann-Einstellungen variieren von 6 über 10 bis 15 Gramm, wobei Berlin als einziges Bundesland eine Regelung hat, wonach bei einem Bruttogewicht von bis zu 10 Gramm eingestellt werden muss und einer Menge von bis zu 15 Gramm, bei der eingestellt werden kann. In den übrigen Bundesländern wird jedwede Einstellung in das Ermessen der Staatsanwaltschaft gestellt, wobei die Richtlinien nicht zeigen, in welch unterschiedlichem Ausmaß die Staatsanwaltschaften von dem gewährten Ermessen Gebrauch zu machen haben. Die Richtlinien zeigen weiter bedeutsam-unterschiedliche Vorgaben für „Wiederholungstäter“ (vgl. etwa Baden-Württemberg: eine Anwendung des 31a BtMG auf Dauerkonsumenten und Wiederholungstäter ist grundsätzlich nicht vorgesehen, siehe Körner a.a.O. Rn. 46, andererseits Berlin: Der Anwendung des § 31a BtMG steht grundsätzlich nicht entgegen, dass die beschuldigte Person bereits mehrfach wegen Straftaten gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt wurde oder dass das Ermittlungsverfahren nach § 31a BtMG eingestellt wurde, Körner, a. a. O. Rn. 48).Im Rahmen der unterschiedlich ausgestalteten Richtlinien der Länder( vgl. zu den Einzelheiten Körner a.a.O zu § 31a BtMG Rdnr. 46 bis 64) werden Wiederholungstäter trotz der Vorgabe des Bundesverfassungsgericht wie der vorliegende Fall eindeutig zeigt unterschiedlich behandelt. Dies eindeutig in Verkennung des Wortes „ Gelegentlich „ aus der Vorgabe des Bundesverfassungsgericht. Denn gelegentlich bedeutet nun mal, dass Menschen wiederholt Cannabis gebrauchen und infolge auch mehrmals polizeilich festgestellt werden können. Schon hier wird deutlich ohne dass derzeit empirisches Material zu der Rechtswirklichkeit zu den Einstellungspraxen vorliegt, dass unterschiedliche Grenzbestimmungen der Länder, unterschiedliche Richtlinien hinsichtlich der Gewährung der Einstellungsmöglichkeit bei „Wiederholungstätern“ vorliegen. Neben den Unterschieden bei den Richtlinien kann unterstellt werden, dass es auch unterschiedliche Strafverfolgungskulturen der Staatsanwaltschaften in den jeweiligen Bundesländern gibt, die bei gleichem Sachverhalt Kleinstbesitzer unterschiedlich und nicht einheitlich behandeln. Ob eine regelmäßige Anwendung des § 31a BtMG etwa in Berlin bei „Wiederholungstätern“ regelmäßigen Anklagen und gegebenenfalls auch Urteilen etwa in Baden-Württemberg gegenüberstehen, liegt nahe. Die Richtlinien aller Bundesländer - außer Berlins - lassen es offen, ob auch bei nur geringen Mengen bisweilen angeklagt wird und abgeurteilt werden kann. Aktuelle Studien zur Strafverfolgungspraxis liegen trotz des bestehenden Prüfauftrages durch das Bundesverfassungsgericht aus dem Jahre 1994 nicht vor. Die letzte insoweit durch das Bundesministerium für Gesundheit in Auftrag gegebene Studie wurde im Jahre 2006 von Schäfer/ Paoli unter dem Titel Drogenkonsum und Strafverfolgungspraxis veröffentlicht. Im Auftrag gegeben wurde diese Studie im Herbst des Jahres 2002 und im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Bernau bei Berlin vom 11.03.2002 (vgl. - BVerfGE zu 2 Bvl 8/02 -). Seinerzeit hatte das Amtsgericht Bernau bei Berlin bereits die unterschiedlichen Richtlinien der Bundesländer gerügt
72Im Ergebnis kam die Studie von Schäfer/ Paoli dazu, dass eine im Jahre 1997 bereits erfolgte Studie der Autorin Aulinger ( vgl. Aulinger, Rechtsgleichheit und Rechtswirklichkeit bei der Strafverfolgung von Drogenkonsumenten), die von einer im wesentlich gleichen Strafverfolgung ausging, keine Bestätigung finden konnte. Vielmehr kommt die Schäfer/Paoli Studie dazu, dass es eine zwar „weitgehende „ aber eben keine einheitliche Einstellungspraxis nur bis zu einer Menge von 6 Gramm bei Ersttätern und Ausschluss weitere Einflussfaktoren gebe. Bei Wiederholungstätern und auch bei Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende gäbe es dagegen große Unterschiede. Diese seien auch teilweise von Staatsanwaltschaft zur Staatsanwaltschaft unterschiedlich. Auch gebe es Unterschiede bezüglich der Frage, ob mit oder ohne Geld- oder Arbeitsauflage eingestellt würde (vgl. Schäfer/ Paoli Seite 316/317).
73Insgesamt und mit der Kenntnis des Gerichts wird jedoch, wie auch der vorliegende Fall zeigt, gegen die Vorgaben des Bundesverfassungsgericht verstoßen. Es ist einfach nicht nachvollziehbar, weswegen Bürger von Bundesland zu Bundesland sowohl hinsichtlich der Mengen als auch bezüglich weiterer Faktoren unterschiedlich behandelt werden und trotz weitgehender Praxis - eben nur weitgehende Praxis - in sehr vielen Fällen bundesweit gegen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts verstoßen wird.
74Hinzu kommen, neben unterschiedlichen Einstellungsvorgaben und Einstellungspraxen, erhebliche Unterschiede in der Strafverfolgungswirklichkeit. Durchsuchungen der Person und der Wohnung, erkennungsdienstliche Maßnahmen, Beschuldigtenvernehmungen, Fragen, die über den Besitz geringer Mengen zum Eigenbedarf hinausgehen und etwa Fragen nach dem Verkäufer, der Erwerbshäufigkeit, Fragen nach der Einfuhr etc. nach sich ziehen, gehen einer Einstellung in vermutlich allen Bundesländern - außer Berlin, wenn es sich um eine Bruttomenge von weniger als 10 Gramm handelt und die weiteren Voraussetzungen der Richtlinie Berlin gegeben sind - vorweg. In den Fällen der Ermessensausübung haben die Einstellungsvorgaben der anderen Bundesländer Auswirkungen auf die Ermittlungstätigkeit der Polizei. Diese ermittelt, bis die Staatsanwaltschaft ihr Ermessen ausübt, gegebenenfalls bis zur Wohnungsdurchsuchung oder gar Körpervisitation auf der Suche nach mehr. Besitzer geringer Mengen zum Eigenbedarf, fern von Schulen und Vollzugsanstalten und ohne Erzieher oder Beamter zu sein, wissen nicht, ob ihr Ermittlungsverfahren eingestellt werden wird. Die Angst vor straf-, berufs- oder aufenthaltsrechtlichen Folgen wird nach der „prozessualen Lösung“ des § 31a BtMG nicht vermieden. Für Beschuldigten ist die drohende Strafverfolgung in Baden-Württemberg und Bayern wie auch in Brandenburg eine andere Last und Sorge, als für die Beschuldigte in Berlin.
753. Zusammenfassung
76Untern Berücksichtigung der oben zu II dargelegten neuen Erkenntnisse, der nach wie vor nicht bestehenden unterschiedlichen Einstellungspraxis der Bundesländer, der hiermit verbundenen tagtäglichen Verfolgung von Konsumenten und der oben dargelegten Verurteilungszahlen ist die erneute Vorlage zur Auffassung des Gerichts auch bezüglich des hilfsweise zur Überprüfung gestellten § 29 BtMG auch zulässig
77C
78Begründetheit der hilfsweise zur Überprüfung gestellten Norm.
79Unter genauer Betrachtung des zuvor dargelegten Geschehens und der gewonnenen Erkenntnisse hat der Staat durch seine vielfältigen Eingriffe in die Rechte des von Amtswegen zu verfolgenden Bagatellkonsumenten eingegriffen und nach Ansicht des Amtsgerichts Bernau bei Berlin regelmäßig deren verfassungsrechtlich verankerte Grundrechte außer Acht gelassen.
80So steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Regelungen des § 29 Abs. 1 Nr.1 BtMG und des Auffangtatbestandes der Nr. 3 BtMG, soweit sie zur Entscheidung vorgelegt wurden, jedenfalls hilfsweise gegen folgende Grundrechte und verfassungsrechtliche Regelungen verstoßen:
811.Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG
82Der § 29 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 BtMG i.V. m mit der Anlage I zu § 1 ABs. 1 BtMG verstößt, soweit das Umgehen mit dem Betäubungsmittel Cannabis unter Strafe gestellt wird, gegen das Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit.
83Unter Berücksichtigung des bereits dargelegten Erkenntnisstandes des Gerichts sind die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes, soweit sie Verhaltensweisen mit Strafe bedrohen, die ausschließlich den gelegentlichen Eigenverbrauch geringer Mengen von Cannabisprodukten vorbereiten und nicht mit einer Fremdgefährdung verbunden sind mit dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht mehr in Einklang zu bringen. Da die Strafverfolgung bereits mit der Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden von der Tat beginnt und Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürger bedingen, müssen diese zur Prüfung gestellten Strafvorschriften daher bereits mangels Vorliegen eines legitimen Zwecks als verfassungswidrig bezeichnet werden. Sie sind darüber hinaus nicht geeignet und auch nicht erforderlich (vgl. insoweit oben zu A.1.) und insgesamt nicht verhältnismäßig.
84So hat sich der Cannabiskonsument zunächst einer polizeilichen Überprüfung zu unterziehen, die in jedem Fall mit einer Beschuldigtenvernehmung und gegebenenfalls auch mit seiner vorläufigen Festnahme verbunden ist. Im Rahmen der Strafprozessordnung besteht sodann die Möglichkeit, erkennungsdienstlichen Maßnahmen, Personenkontrollen und auch Hausdurchsuchungen seitens der Ermittlungsbehörden durchzuführen. Nachdem diese Maßnahmen getroffen und mithin bereits diverse Eingriffe in die Grundrechte der Bürger erfolgt sind, ist die Staatsanwaltschaft nach dem Legalitätsprinzip gemäß § 152 Abs. 2 StPO zunächst einmal verpflichtet einzuschreiten. In Durchbrechung des Legalitätsprinzips kann sie nach dem so genannten Opportunitätsprinzip sodann hinsichtlich des Umgangs mit geringer Mengen Cannabis gemäß §31 a Abs. 1 BtMG von der Verfolgung absehen. Macht sie dies nicht, hat sie noch die Möglichkeit gegebenenfalls mit Zustimmung des Gerichts gemäß den §§ 153, 153 a StPO von der Verfolgung abzusehen. Wendet sie § 153 a StPO an, so ist auch damit bereits ein Eingriff in die Grundrechte des Beschuldigten verbunden. Denn Auflagen, die ihm gemäß dieser Vorschrift auferlegt werden können, haben zwar keinen Strafcharakter, sind jedoch immer noch als besondere nichtstrafrechtliche Sanktion „zu kennzeichnen“ (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO Kommentar, 61 Aufl. zu § 153 a, Rdnr. 12). Erhebt die Staatsanwaltschaft sodann unter Verletzung des Übermaßverbotes Anklage oder beantragt den Erlass eines Strafbefehls wie im vorliegenden Verfahren, so hat sich der Bürger bereits einem gerichtlichen Verfahren zu unterziehen. Er hat den Ladungen des Gerichts Folge zu leisten und kann gegebenenfalls mittels Zwang zu einer Hauptverhandlung zugeführt werden, so mit den Mitteln des Vorführungsbefehls oder dem Erlass eines Haftbefehls. Erst hiernach kommt es zur Hauptverhandlung und der Angeklagte, der mittlerweile einer vielfältigen Eingriffsserie in seinen Grundrechten unterzogen wurde, kann darlegen, dass das gesamte Verhalten der Staatsanwaltschaft gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot verstoße. Im Falle, dass das Gericht sodann gleichfalls von einer Verletzung des Übermaßverbotes ausgeht und gem. §29 Abs. 5 BtMG die Schuld des Angeklagten feststellt und von der Strafe absieht, hat es dem Angeklagten weiter mit der Kostenfolge des § 465 Abs. 1 Satz 2 zu belegen. Auch dies stellt eine sanktionsähnliche und mit einem in das Grundrecht des angeklagten Bürger verbundenen Eingriff dar. Schließlich wird hinsichtlich aller zuvor beschriebener Verfahrensbeendigungen gem. § 474 ff. StPO die Eintragung in das länderübergreifende staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister veranlasst, womit der Bürger zu mindestens intern weiterhin mit einem Strafverfahrensmakel belastet wird.
85Soweit das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1994 die Strafvorschriften letztlich dennoch als verhältnismäßig im engeren Sinne betrachtet und das Übermaßverbot nicht für verletzt gesehen hat, vermag dies möglicherweise 1994 noch eine Berechtigung gehabt haben, nicht jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt.
86Denn wenn die Gefährdung der geschützten Güter ein so geringes Maß erreicht, dass die generalpräventiven Gesichtspunkte, die eine generelle Androhung der Strafe rechtfertigen, an Gewicht verlieren, kann eine grundsätzlich angedrohte Strafe im Blick auf die Freiheitsrechte des Betroffenen und unter Berücksichtigung der individuellen Schuld des Täters eine verfassungswidrige Situation darstellen. Danach ist mit Blick auf die Strafandrohung gegen den Umgang mit geringen Mengen von Cannabisprodukten zum Zwecke des Eigenkonsums festzuhalten, dass Gefahren letztlich nur entstehen, wenn der Konsument nicht nur gelegentlich Haschisch oder Marihuana zu sich nimmt, sondern erst bei übermäßigem, in kurzem Abstand stattfindenden Gebrauch - was letztlich aber nicht wissenschaftlich gesichert ist. Weitere Gefahren für die Allgemeinheit oder auch für den Einzelnen ergeben sich nach heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen durch den Konsum von Cannabisprodukten nicht.
87Dagegen ist die Intensität des Eingriffs in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 insgesamt, jedenfalls solange lediglich der Umgang mit geringen Mengen von Cannabisprodukten verfolgt wird, sehr erheblich. Wie oben dargelegt, muss der Betroffene sich ein polizeiliches und staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren gegen sich erdulden, gegebenenfalls anschließend die gerichtliche Hauptverhandlung und danach die Vollstreckung einer in diesem Verfahren ausgesprochenen Geld- oder Freiheitsstrafe. Und auch eine Auflage nach § 153 a StPO hat letztlich Strafcharakter. All diese Eingriffe in das Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit sind zur Überzeugung des Amtsgericht Bernau bezüglich Konsumentenverhalten heute nicht mehr als verfassungsgemäß zu werten. Eine Verfassungswidrigkeit ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn, wie im vorliegenden Fall, eine Fremdgefährdung allein als abstrakte Gefahr vorliegt und die Strafbarkeit des Erwerbens und Besitzens geringer Mengen daran anknüpft, dass diese abstrakte Gefahr zwar noch zu keiner konkreten Gefahr wird, aber allein das besessenen Cannabis die Fremdgefährdung wahrscheinlicher werden lässt.
88Abgesehen davon, dass das Übermaßverbot regelmäßig - wie der vorliegende Fall zeigt - verletzt wird, führt eine sachgemäße Abwägung heutzutage dazu, dass mittels der Ermessensentscheidungen bei Staatsanwaltschaft und Gericht die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Prinzipien nicht herbeigeführt werden kann. Insoweit verstoßen die zur Überprüfung gestellten Strafvorschriften gegen das Übermaßverbot und verletzen damit den Bürger und vorliegend den Angeklagten in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG.
892. Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. mit dem Recht auf Rausch
90Bezüglich der Verletzung des Rechts auf Rausch wird auf die Ausführungen zu II Seite 99 Bezüglich des Konsumentenverhaltens gelten die obigen Ausführungen angesichts der durch Konsumenten nicht herbeigeführter Gefährdungen Anderer noch mehr.
913. Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 GG
92Die Strafverfolgung der Cannabiskonsumenten verstößt angesichts des heutigen Wissens gegen das Freiheitsrecht der Bürger gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Wie oben bereits ausgeführt, ist gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz. 2 GG die Freiheit der Person unverletzlich. In dieses Freiheitsrecht darf nur aufgrund des Gesetzesvorbehalts des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG eingegriffen werden. Im vorliegenden Fall hatte sich der Angeklagte bereits mehrerer Freiheitsbeeinträchtigungen zu unterziehen. Er könnte - sofern das Gericht diesbezügliche Anträge positiv bescheiden würde - mittels des Erlasses eines Vorführungsbefehls oder gar Haftbefehls weiter in seiner Freiheit beeinträchtigt werden. Das Gericht wäre in der Lage Freiheitsstrafe oder Geldstrafe zu verhängen. Letztere wäre für den Fall der Nichtbezahlung mit Ersatzfreiheitsstrafe verbunden.
93Wie oben bereits ausgeführt sind Freiheitsentziehungen nur zulässig, wenn der Schutz anderer oder der Allgemeinheit dies unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfordern. Soweit Handlungsweisen im Umgang mit Cannabis unter Strafe gestellt werden, die lediglich dem Eigenkonsum dienen, stellt sich diese Strafverfolgung angesichts des wissenschaftlichen Standes als nicht mehr verhältnismäßig dar. Die Gefahren für Dritte oder für die Allgemeinheit sind bei geringen Mengen Cannabis zum Eigenverbrauch dermaßen gering, dass sie die Androhung oder Verhängung von freiheitsentziehenden Maßnahmen in keinem Fall mehr rechtfertigen. Dem Gesetzgeber dürfte es mittlerweile verwehrt sein, den Staatsanwaltschaften und Gerichten die Möglichkeit zu geben, Konsumenten mit Freiheitsentzug zu belegen. Es ist nicht verfassungsgemäß, dass es im Ermessen der unterschiedlichsten subjektiven Wertungen verschiedener Staatsanwälte und Richter steht, ob jemand einer freiheitsentziehenden Maßnahme zugeführt wird oder nicht.
94Wenn dies aber der Fall ist, dann verstoßen die zur Überprüfung gestellten Strafvorschriften auch gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.
954. Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG in Bezug auf die Rechtsanwendungspraxis des §31 a BtMG
96Die Praxis der Bundesländer bei der Umsetzung der Vorgaben der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1994 genügt den zuvor dargelegten Anforderungen nicht und verstößt deshalb gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Wesentlich gleiche Sachverhalte werden durch unterschiedliche Verwaltungsrichtlinien und das sich darauf stützende Handeln der Ermittlungsbehörden ungleich behandelt. Die ungleiche Behandlung der Beschuldigten durch die Staatsanwaltschaften der verschiedenen Bundesländer ist offensichtlich. Für die Ungleichbehandlung durch die unterschiedlichen Bundesländer ist keine sachliche Rechtfertigung erkennbar. Die - geringen - Gefahren, die von Cannabisprodukten ausgehen, existieren jedenfalls in Baden-Württemberg genauso wie in Berlin oder in Rheinland-Pfalz. Die durch die verschiedenen Bundesländer bzw. deren Justizminister oder Generalstaatsanwälte erlassenen Richtlinien umfassen eine zu große Spannbreite. Für Betroffene führt dies zur willkürlich unterschiedlichen Rechtsanwendung. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Tatsache mit einbezieht, dass es letztlich nur von Zufälligkeiten abhängt, ob eine Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz von einer Staatsanwaltschaft verfolgt wird, die eher einen niedrigen Grenzwert annimmt, oder von einer Staatsanwaltschaft, die in dieser Hinsicht großzügigere Anweisungen hat. Im Fall von jugendlichen und heranwachsenden Straftätern hängt dies nur davon ab, in welchem Bundesland sie bei Begehen der Tat wohnen. Bei Erwachsenen greift das Tatortprinzip, unter Umständen aber auch das Wohnortprinzip. Eine Vorhersehbarkeit für betroffene Besitzer kleiner Mengen an Cannabis existiert daher nicht. Im Ergebnis ist festzustellen, dass die prozessuale Lösung nicht zu dem erhofften Erfolg geführt hat und gleiche Personen für das Gleiche unterschiedlich verfolgt und diskriminierenden Eingriffen ausgesetzt oder bestraft werden bzw. verfolgt und diskriminierenden Eingriffen ausgesetzt oder bestraft werden können. Der Rechtszustand ist seit der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts durch die Entscheidung von 1994 bekannt. Vereinheitlichungsbemühungen sind seit 26 Jahren nur teilweise erfolgt. Die Fortdauer dieser uneinheitlichen Rechtsanwendung zur Vermeidung unnötiger Strafverfolgung und Strafverfolgungsmaßnahmen gegenüber Bagatellfällen, also dem Besitz geringer Mengen zum Eigenkonsum, die als Fälle eigenverantwortlicher Selbstgefährdung gewertet werden müssen, wird bereits durch den Zeitablauf von nunmehr 26 Jahren grob willkürlich.
97Das Maß der Ungleichbehandlung ist durch die „prozessuale Lösung“ der Einstellung nach § 31a BtMG, nach §§ 153, 153a StPO, §§ 45, 47 JGG nicht beseitigt.
98a. Gegenwärtige Praxis
99Entgegen der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes verliefen die Bemühungen der Länder, zu einheitlichen Richtlinien zu gelangen, bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt erfolglos ( Vielmehr gaben sich die Bundesländer die unterschiedlichsten Richtlinien Vergleicht man diese Richtlinien, so offenbart sich bereits bei einer ersten Sichtung ein erheblicher Auffassungsunterschied bei der Bestimmung der geringen Mengen von Cannabisprodukten. Des Weiteren zeigen die Richtlinien bereits eine unterschiedliche Behandlung von Wiederholungstätern einerseits und auch eine unterschiedliche Behandlung von Jugendlichen und Heranwachsenden andererseits . In der Folge der unterschiedlichen Grenzbestimmungen durch die Länder behandeln die Staatsanwaltschaften der jeweiligen Bundesländer Konsumenten von Cannabisprodukten unterschiedlich. Während es in einem Bundesland zur Anklage und in der Folge in aller Regel zu einer Verurteilung kommt, wird in einem anderen Bundesland eingestellt. So zeigt bereits das zur Entscheidung vorgelegte Verfahren exemplarisch, die unterschiedliche Behandlung über die Bundesländergrenzen hinweg. Abgesehen hiervon lassen die in den Ländern bestehenden Richtlinien seit Jahren die unterschiedliche Behandlung von Cannabiskonsumenten im Bereich der gesamten strafrechtlichen Verfolgungspraxis zu. So finden sich nicht nur auf Länderebene regionale Unterschiede in der Einstellungspraxis, sondern darüber hinaus auch auf der Ebene der einzelnen Staatsanwaltschaften in den Ländern. Es sind zum Teil stark abweichende Sanktionsstile innerhalb eines Bundeslandes bei der Behandlung von Drogenfällen festzustellen (vgl. Aulinger, Rechtsgleichheit und Rechtswirklichkeit bei der Strafverfolgung von Drogenkonsumenten, S. 189, vgl. auch Schäfer/Paoli, S. 361). Obwohl die zuvor zitierte Studie von Aulinger aus dem Jahr 1997 ergab, dass eine im wesentlichen einheitliche Einstellungspraxis bei Cannabisfällen bis zu 10 g vorliegt (vgl. Aulinger, NStZ 1999, 111, 114) und die spätere von Schäfer/ Paoli aus dem Jahr 2006 bis zu 6 g, heißt dies nicht, dass nicht dennoch stark unterschiedliche Einstellungspraxen von Staatsanwaltschaft zu Staatsanwaltschaft und von Gericht zu Gericht bestehen. Denn die Richtlinien lassen es zumindest offen, dass auch bei nur sehr geringen Mengen bisweilen angeklagt wird, wie der vorliegende Fall zeigt. Die durch das Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebene Studien enthalten ferne keine Daten darüber, in wie vielen Fällen im Bereich von bis zu 6 g oder bis zu 10 g gegen das Übermaßverbot verstoßen und konkret verurteilt wurde. Dies wäre allerdings entscheidend für die Frage, ob aufgrund der durch die Bundesländer nicht erfolgten Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes weiterhin im Bereich des Bagatellkonsums regelmäßig gegen das verfassungsmäßige Übermaßverbot verstoßen wird.
100Unter Berücksichtigung der zuvor zu B 2 aufgelisteten Zahlen bezüglich der Verfolgung von Konsumenten dürfte über 20000 Fälle vorliegen. Allerdings zeigt bereits jeder Einzelfall - wie auch der vorliegende -, dass die gegenwärtige Rechtslage jedenfalls die Möglichkeit beinhaltet, einzelne Bürger unterschiedlich zu behandeln. Dies und nicht etwa die Annahme einer im Wesentlichen gleichen Rechtsanwendungspraxis dürfte entscheidend sein.
101b.) Formelle Prüfung des Gleichheitsgrundsatzes
102Abgesehen hiervon verstößt die bestehende Praxis nach Auffassung des Amtsgerichts Bernau bei Berlin auch bei formeller Prüfung gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
103aa.) Verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Gleichheitsgrundsatzes
104Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verlangt zum einen eine Rechtsanwendungsgleichheit (Gleichheit vor dem Gesetz) und zum anderen eine Rechtssetzungsgleichheit (Gleichheit des Gesetzes).
105Das Bundesverfassungsgericht hat diese verfassungsrechtlichen Gebote regelmäßig dahingehend konkretisiert, dass der Gleichheitssatz es dem Gesetzgeber verbiete, wesentlich Gleiches willkürlich ungleich oder wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln (BVerfGE 1, 14, 16, 49, 148, 195). Dabei soll nicht jede Ungleichbehandlung den Gleichheitssatz verletzen. So soll es grundsätzlich dem Gesetzgeber obliegen, bestimmte Sachverhalte als gleich oder differenzierungsbedürftig einzuordnen. Dabei kommt ihm ein weitreichender Beurteilungsspielraum zu. Auch dieser Beurteilungsspielraum unterliegt allerdings der Schranke des Willkürverbots, so dass bei der Frage einer Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG es entscheidend darauf ankommt, ob die Ungleichbehandlung mit sachlich vernünftigen Gründen zu rechtfertigen ist (so die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. BVerfGE 17, 122, 130; 71, 39, 53). In der sogenannten „Neuen Formel“ hat das Bundesverfassungsgericht diese sachlichen Gründe weiter präzisiert. Demnach ist eine ungleiche Behandlung dann gerechtfertigt, wenn zwischen zwei Gruppen „Unterschiede in solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen“ (vgl. BVerfGE 55, 72, 88; 85, 238, 244). Dabei ist der regelnde und gestaltende Staat im Grunde genommen frei, Unterschiede zu schaffen. Dies jedoch nur, sofern unterschiedliche Behandlungen Zwecken, die mit der Ungleichbehandlung verfolgt werden, dienen. In diesen Fällen kann allerdings die Rechtfertigung nicht mehr in den Unterschieden selbst liegen, sondern nur in den Zwecken, die mit der Ungleichbehandlung verfolgt werden (vgl. Pieroth-Schlink, Grundrechte 17. Auflage, 2001, Rdnr. 441).
106bb. Bundesweite Vergleichbarkeit als Maßstab der Gleichbehandlung
107Grundsätzlich ist eine Ungleichbehandlung durch staatliche Stellen verfassungsrechtlich nur relevant, wenn sie durch die gleiche Rechtssetzungsgewalt erfolgt. Insbesondere für die Behandlung durch staatliche Gewalt verschiedener Bundesländer gilt dieser Grundsatz, was sich aus der föderalen Gliederung der Bundesrepublik Deutschland, wie sie in Art. 20 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegt wurde, ergibt. Demnach ist es grundsätzlich möglich, dass die verschiedenen Bundesländer bei der Ausübung ihrer Gesetzgebungskompetenzen ebenso wie in ihrer Verwaltungspraxis von den gesetzlichen Spielräumen unterschiedlich Gebrauch machen. Allerdings findet auch dieses Recht zur Differenzierung seine Grenzen in dem in Art. 72 Abs. 2 GG anklingenden Gebot zur Wahrung bzw. Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse. Gerade im Bereich der Strafrechtspflege, die eine der härtesten Eingriffe des Staates in die Freiheitsrechte seiner Bürger darstellt, muss dieses Gebot aber - trotz des föderativen Staatsaufbaus der Bundesrepublik Deutschland - besondere Beachtung finden. So hat es auch speziell für den Bereich der Strafverfolgung in gesetzlichen Regelungen Niederschlag gefunden, insbesondere durch die Vorlagepflicht der Oberlandesgerichte an den Bundesgerichtshof, wenn sie von einer Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts oder des Bundesgerichtshofes abweichen wollen. So soll diese Verpflichtung dazu beitragen, solche Divergenzen bei der Rechtsanwendung zu vermeiden, die durch das föderative Gefüge der Strafrechtspflege bedingt sind. Führt die Praxis in den einzelnen Ländern hingegen nicht zu nicht mehr hinnehmbaren Unterschieden, was der Fall ist, wenn zwischen den einzelnen Bundesländern extreme Gefällesituationen bzw. unerträgliche Verschiedenheiten auftauchen, dann sind diese Unterschiede jedenfalls nicht mehr mit der Gliederung der Bundesrepublik in die Länder in Einklang zu bringen (vgl. Maunz / Dürig / Lerche Grundgesetzkommentar zu Art. 83, Rdnr. 10).
108Im Beschluss vom 09.03.1994 hat das Bundesverfassungsgericht unter Berücksichtigung der zuvor dargelegten Ausgestaltung des Gleichheitsgrundsatzes deutlich gemacht, dass bei der Anwendung der diversen Einstellungsvorschriften im Bereich der mit dem Umgang mit Cannabisprodukten aufgeführten Strafvorschriften eine einheitliche Rechtsanwendungspraxis geboten ist.
109cc. Gleichheitssatz und Verfahrensweisen der Länder
110Die Praxis der Bundesländer bei der Umsetzung der Vorgaben des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 09.03.1994 genügt nach Ansicht des Amtsgerichts Bernau bei Berlin den zuvor dargelegten Anforderungen nicht und verstößt deshalb gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Wesentlich gleiche Sachverhalte werden durch Verwaltungsrichtlinien ungleich behandelt.
111So sind zunächst die in den 16 Bundesländern verfolgten Sachverhalte im Wesentlichen gleich. Die Beschuldigten sind bei polizeilichen Maßnahmen im Besitz von Cannabisprodukten aufgegriffen worden, wobei die festgestellten Mengen sich in den gleichen Rahmen bewegten. In vielen Fällen sagen die Beschuldigten in den sich anschließenden polizeilichen Vernehmungen freimütig aus und erklären oftmals auch, wie oft sie Cannabisprodukte konsumiert haben. In allen diesen Fällen sind keine wesentlichen Unterschiede erkennbar, die dazu führen könnten, dass die in verschiedenen Bundesländern verfolgten Fälle nicht unter einem gemeinsamen sinnvollen Bezugspunkt, und zwar durch den Gesetzgeber, gefasst werden könnten. Dieser Bezugspunkt besteht in dem Konsum geringer Mengen von Cannabisprodukten und den damit verbundenen Vorbereitungshandlungen.
1125. Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG
113- Gesetzlichkeitsprinzip -
114Gemäß Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Das Gesetzlichkeitsprinzip, das nicht nur in Art. 103 Abs. 2 GG, sondern auch in § 1 StGB gleichlautend formuliert wurde, setzt für die Bestrafung eines Verhaltens die vorherige gesetzliche Bestimmung der Strafbarkeit und auch deren mögliche Strafsanktionen voraus (vgl. Fischer, StGB, 65. Auflage, zu § 1, Rndr. 1). Diese Verpflichtung bezieht sich auf jede staatliche Maßnahme, „die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein schuldhaftes Verhalten enthält“ (vgl. BVerfGE 26, 186, 203 ff. 45, 346, 351).
115Die Verfassungsgarantie des Art. 103 Abs. 2 GG dient dabei einem doppelten Zweck: Einerseits soll jedermann vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe versehen ist. Andererseits soll sichergestellt werden, dass über die Strafbarkeit durch die verfassungsmäßig dazu berufene Institution, nämlich dem Gesetzgeber, bestimmt wird. Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der vollziehenden und rechtssprechenden Gewalt verwehrt, selbstständig über die Voraussetzung der Strafbarkeit zu entscheiden (vgl. Hill, Rechtsschutz und Staatshaftung, Rndr. 61, mit weiteren Nachweisen; Isensee / Kirchhoff, Handbuch des Strafrechts Band VI, 1989).
116Die gegenwärtige Praxis im Umgang mit Cannabiskonsumenten verstößt gegen beide Aspekte des Gesetzlichkeitsprinzips.
117a. Vorhersehbarkeit
118Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts führt das Erfordernis der Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit für die Normadressaten dazu, dass der Einzelne die Möglichkeit hat, sein Verhalten auf die Rechtslage einzurichten; er soll die Tragweite und den Anwendungsbereich des Straftatbestandes erkennen oder durch Auslegung ermitteln können (vgl. BVerfGE 87, 224 ff.). „Jeder soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Im Rahmen des Bestimmtheitsgrundsatzes ist es dem Gesetzgeber zwar grundsätzlich erlaubt, seine Vorgaben abstrakt zu umreißen und dabei insbesondere auf unbestimmte Gesetzesvorschläge zurückgreifen“ (Maunz - Dürig, Art. 103 Abs. 2, Rdnr. 186). Dies darf er allerdings nur dann, wenn die unbestimmten Rechtsbegriffe der näheren Deutung im Wege der Auslegung zugänglich sind. Maßgebendes Kriterium ist dabei der Gesetzestext: Der mögliche Wortsinn markiert die äußere Grenze zulässiger richterlicher Interpretation (vgl. BVerfGE 71, 108, 115; 73, 206, 235). Demnach steht eine Verurteilung, die auf einer objektiv unhaltbaren und damit willkürlichen Auslegung des geschriebenen materiellen Strafrechts beruht, erst recht in Widerspruch zu Art. 103 Abs. 2 GG (vgl. Hill a. a. o., Rdnr. 61). Für die Normadressaten der hier aufgegriffenen Normen des Betäubungsmittelgesetzes ist nicht mehr vorhersehbar, mit welchem Verhalten sie sich der Strafverfolgung unterziehen. Sie können nicht erkennen, welche Mengen Cannabis sie bei sich führen dürfen, ohne sich der Gefahr eines gerichtlichen Strafverfahrens und evtl. anschließender Verurteilung auszusetzen.
119Bereits die unterschiedlichen Richtlinien in den Bundesländern sind für die Bürger dermaßen unübersichtlich, dass kaum ein Bürger weiß, ob er sich und vor allen Dingen wo er sich gerade wegen welcher Menge einer Strafverfolgung unterziehen muss oder aber nicht. So wissen selbst Fachdezernenten oder Richter, die jahrelang mit Betäubungsmittelverfahren zu tun haben, oftmals nicht, welche Regelungen in anderen Bundesländern gelten. Wenn dies allerdings noch nicht einmal bei Fachpersonal der Fall ist, wie soll dann der Bürger, der ohne Zugang zu Rechtsliteratur ist, wissen, wie und wo er sich gerade strafbar macht. Während jeder Bürger weiß, dass er sich strafbar macht, wenn er auch nur die geringste Sache wegnimmt, ist dies im Bereich von Cannabispönalisierung nicht mehr der Fall. Politiker aller Parteien wie selbst Drogenbeauftragte erklären öffentlich, dass der Konsum von Cannabis nicht strafbar sei. Dies in Unkenntnis, das dem Konsum in aller Regel strafbares Vorbereiten des Konsums und auch strafbarer Besitz vorausgeht. Lehrer unterrichten Schüler gerichtsbekannt dahingehend, dass der Besitz von bis zu 6 Gramm nicht strafbar sei. Dies in Unkenntnis, dass selbst die kleinste Menge sicher zur polizeilichen, und auch zur staatsanwaltschaftlichen und insbesondere bei Jugendlichen und Heranwachsenden auch zu einer gerichtlichen Verfolgung führen kann. Die vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 1994 gewählte prozessuale Lösung hat eine Verwirrung für den Normadressaten geschaffen. Sehr, sehr viele Menschen und insbesondere auch Jugendliche denken, dass eine Strafverfolgung nicht droht. Man stelle sich einen Schausteller vor, der mit 9 g Cannabis durch die Bundesländer zieht. Er würde sich bei einem Wechsel über die Grenzen der verschiedenen Bundesländer mal der gerichtlichen Strafverfolgung aussetzen und mal wieder nicht. Und wäre er bereits einmal wegen eines Betäubungsmitteldeliktes in Erscheinung getreten oder stünde unter Bewährung noch mehr. Vorhersehen und damit sein Verhalten darauf abstimmen, indem er z.B. einen Teil des Betäubungsmittels vernichtet, könnte er nicht. Einer Verurteilung könnte er als Konsument nur vermeiden, sofern er die jeweiligen Richtlinien der verschiedenen Staatsanwaltschaften bzw. Bundesländer kennen würde. Da diese noch dazu jederzeit geändert werden können wie noch das Bundesland Bremen Anfang des Jahres 2020 gezeigt hat, müsste er darüber hinaus sicher stellen, auch immer die allerneuste Fassung der Richtlinie zur Hand zu haben. Allein dieses Beispiel zeigt, dass von einer hinreichenden Bestimmtheit, die dem Gesetzgeber obliegt, nicht gesprochen werden kann. Der Normadressat kann nicht mehr einschätzen, ob seine Verhaltensweise tatbestands- oder sanktionsrelevant ist. Er unterliegt mithin der Willkür und den jeweiligen Moralvorstellungen der verschiedenen Justizminister, Landesregierungen oder Generalstaatsanwälten und darüber hinaus auch den der verschiedenen tätig werdenden Richter oder Staatsanwälte.
120b. Bestimmung der Strafbarkeit durch den Gesetzgeber
121Weiterhin verstößt die derzeitige Verfahrensweise auch insoweit gegen den Bestimmungsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG, als das nicht mehr der Bundesgesetzgeber die Grenzen der Strafbarkeit bestimmt, sondern die Generalstaatsanwaltschaften oder die Justizminister der Länder (vgl. Büttner, S. 155, m. w. N.). Durch den Gesetzlichkeitsgrundsatz soll aber sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber selber über die Strafbarkeit entscheidet. (BVerfGE 78, 374, 382 unter Bezugnahme auf BVerfGE 47, 109, 201).
122Mit seinem Beschluss vom 09.03.1994 hat das Bundesverfassungsgericht letztlich aber den Strafverfolgungsbehörden und mithin der Exekutive die Funktion zugeordnet, mittels des in der Regel zu erfolgenden Strafverfolgungsverzichts die legitimen Grenzen eines zu weit geratenen materiellen Tatbestands zu gewährleisten (vgl. Büttner, S. 153). Damit unterliegt die Bestimmung der Strafbarkeit nicht mehr dem Gesetzgeber, sondern der Exekutive, nämlich den Staatsanwaltschaften und Justizministern.
123Zwar kam dem Bestimmtheitsgebot und auch dann genüge getan sein, wenn im Rahmen der gesetzlichen Regelung auf ungesetzliche Normen verwiesen wird. So geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die gesetzliche Strafandrohung mit einem Verweis auf eine Verordnung oder auch einen erst noch zu erlassenen Verwaltungsakt verknüpft sein könne. Aber auch insoweit müssten nach den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts die Voraussetzung der Strafbarkeit und die Art der Strafe für den Bürger bereits aufgrund des Gesetzes und nicht erst aufgrund der hierauf gestützten Verordnung erkennbar sein. Der Gesetzgeber habe die Voraussetzungen der Strafbarkeit selbst zu bestimmen und dürfe diese Entscheidung nicht den Organen der vollziehenden Gewalt überlassen. Gleiches gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entsprechend auch für die Knüpfung der Strafandrohung an die Nichtbefolgung eines Verwaltungsaktes (vgl. BVerfGE 78, 374, 382).
124Nach diesen Grundsätzen verstößt die derzeitige Praxis bei der Strafverfolgung des Umgangs mit geringen Mengen Cannabis gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Denn die Grenzen der Strafbarkeit werden nicht durch den Gesetzgeber, sondern durch Richtlinien der Bundesländer und deren Staatsanwaltschaften als Teil der Exekutive bestimmt (vgl. auch Sondervotum Sommer BVerfGE 90, 145, 224). Diese entscheiden nicht nur - wie bereits dargestellt - von Bundesland zu Bundesland äußerst unterschiedlich, sondern sind auch in der Lage ihre behördeninternen Vorschriften jederzeit - insbesondere auch ohne für Außenstehende nachvollziehbare Gründe - zu verändern.
125Die Frage, bis zu welchen Mengen Cannabis von geringen Mengen ausgegangen werden soll, entscheidet darüber, ob ein Angeklagter sich eines strafrechtlichen Verfahrens auszusetzen hat oder ob das Verfahren eingestellt wird. Damit stellt die Einstufung einer Cannabismenge als „gering“ die entscheidende Voraussetzung der Strafbarkeit dar. Diese wird aber derzeit nicht durch den Gesetzgeber nach den dafür vorgesehenen Formen und Verfahren bestimmt. Dies würde dazu führen, dass in einem der Öffentlichkeit nachvollziehbaren Prozess durch die zuständigen Gremien, insbesondere dem Bundestag und seinen Ausschüssen, über die Frage befunden würde, bis zu welchem Wert jeder einzelne straffrei mit Cannabisprodukten umgehen kann. Vielmehr entscheiden derzeit Vertreter der Exekutive in einem nicht nachvollziehbaren und durch die Öffentlichkeit nicht zu kontrollierenden, wohl schon als willkürlich zu bezeichnenden Verfahren über dieses entscheidende Kriterium der Strafbarkeit.
126Die prozessuale Lösung des Bundesverfassungsgerichts vermochte nicht der Doppelfunktion des gesetzlichen Bestimmtheitsgebotes des Grundgesetzes gerecht zu werden, da die Grenzen der Strafbarkeit von falschen Institutionen, ohne Öffentlichkeit und nach Auffassung des Amtsgerichts Bernau bei Berlin wiederholt bundesweit in willkürlicher Weise festgelegt wurden und werden .
127IV
128Verfassungskonforme Auslegung
129Opportunitäts- und Strafzumessungserwägungen
130Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht ist ein Vorlageverfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dann nicht zulässig, wenn eine verfassungskonforme Auslegung möglich ist ( vgl. BVerfGE 32,373,383; 54,251,273).
131Zunächst ergibt sich vorliegend nicht die Möglichkeit, im Rahmen von Opportunitätsentscheidungen und Strafzumessungserwägungen auf den individuellen Unrechts- und Schuldgehalt einzugehen. So ist etwa im vorliegenden Fall dem vorlegenden Gericht eine Entscheidung nach §§ 153,153 a Abs. 2 StPO und § 31a Abs. 2 BtMG verwehrt, da es an der mangelnden Zustimmung der Beteiligten fehlt.
132Eine verfassungskonforme Auslegung dahingehend, dass bei geringen Mengen freizusprechen ist, scheitert an einer Auslegungsfähigkeit des § 29 BtMG. So darf nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht eine verfassungskonforme Auslegung nicht dazu führen, dass der normative Gehalt und der Zweck der Rechtsvorschrift geändert wird (vgl. BVerfGE 78,20,24; 71,81,105) Dies gilt insbesondere dann, wenn es dem Gesetzgeber freigestellt ist, eine Regelung zu ändern oder durch eine verfassungsgemäße Norm zu ersetzen. Das will der gewärtige Gesetzgeber trotz verschiedener Gesetzesinitiativen gerade nicht. Er möchte erklärtermaßen an der Cannabispönalisierung fest festhalten.
133Auch die Möglichkeit des Gerichts gemäß § 29 Abs. 5 BtMG von Strafe abzusehen, kann nicht zu einer verfassungsgemäßen Auslegung und Anwendung der vorgelegten Norm führen. Denn diese Norm setzt voraus, dass sich der Angeklagte gemäß § 29 Abs. 1 BtMG grundsätzlich strafbar gemacht hätte. Das vorlegende Gericht geht aber, wie dargestellt von der Verfassungswidrigkeit dieser Vorschrift in Bezug auf Cannabis aus. Auch müsste der Angeklagte schuldig gesprochen und ihm die Kosten des Verfahrens auferlegt werden. Schließlich hätte die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit, ein Rechtsmittel einzulegen, was zu einer weiteren Belastung des Angeklagten führen würde.
134Soweit das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 9.3.1994 auf die Möglichkeit des § 29 Abs. 5 BtMG hingewiesen hat ist diese Möglichkeit angesichts des zuvor Ausgeführten nicht zielführend, um die verfassungswidrigen Eingriffe in die Rechte des Angeklagten zu beseitigen. Das zeigt im Übrigen auch die Strafrechtspraxis. So machten die Gerichte lediglich in 0,1 % aller Fälle bei konsumnahen Delikten im Bereich des § 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG gebrauch (vgl. Möller S. 65).
135Im Ergebnis bleibt festzustellen, dass vorliegend eine verfassungskonforme Auslegung nicht möglich ist.
136Nach alldem steht zur Überzeugung des vorlegenden Gerichts fest, dass die vorliegend zur Anwendung kommende Vorschrift des § 29 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. Anlage I (hier Cannabis) BtMG in der Handlungsalternative des Besitzes nicht geringer Mengen aus den oben Punkten aufgeführten Gründen gegen die dort aufgeführten Grundgesetzartikel verstoßen. Eine erneute Entscheidung über die vorgelegten Normen ist aufgrund der dargelegten neuen sowie entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlich und geboten.
137Abhilfe kann auch nicht mit dem Mittel der verfassungskonformen Auslegung geschaffen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Vorlageverfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dann nicht zulässig, wenn eine verfassungskonforme Auslegung möglich ist. Eine solche verfassungskonforme Auslegung kommt dann in Betracht, wenn eine auslegungsfähige Norm nach den üblichen Interpretationsregeln mehrere Auslegungen zulässt, von denen eine oder mehrere mit der Verfassung übereinstimmen, während andere zu einem verfassungswidrigen Ergebnis führen; solange eine Norm verfassungskonform ausgelegt werden kann und in dieser Auslegung sinnvoll bleibt, darf sie nicht für nichtig erklärt werden (vgl. BVerfGE 48, 45 m. w. N.). Die hier zu Anwendung kommenden Normen des Betäubungsmittelstrafrechts lassen keine verfassungskonforme Auslegung im vorgenannten Sinne zu. Sie sind bei dem hier festgestellten Sachverhalt nach den üblichen Interpretationsregeln eindeutig und ermöglichen keine Auslegung, die zur Straffreiheit der Angeklagten führt.
138Unter Berücksichtigung aller gewonnenen Erkenntnisse kommt das Amtsgericht zur Überzeugung, dass seit dem Jahre 1994 regelmäßig zu mindestens was Konsumentenverhalten betrifft gegen Grundrechte der Bürger verstoßen wurde und weiter wird. Nur das Bundesverfassungsgericht ist in der Lage, dem Gesetzgeber deutlich zu machen, dass es seine Aufgabe ist, Bürger vor verfassungswidrigem Handeln der Exekutive und der Justiz zu bewahren.“
139Dieser Überzeugung schließt sich das Amtsgericht nach eigenständiger Würdigung der Sach- und Rechtslage im vorliegenden Verfahren an, insbesondere im Hinblick auf die in diesem und zahlreichen vorangegangenen Verfahren zu Tage tretenden uneinheitliche Richtlinien der Länder und die uneinheitliche Rechtsanwendungspraxis der örtlichen Staatsanwaltschaften in Bezug auf § 31a BtmG.