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Vor Schulfahrten ist im Regelfall schriftlich nach vor allem gesundheitlichen Beeinträchtigungen der minderjährigen Teilnehmenden zu fragen.
Die Angeklagten sind jeweils der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen schuldig.
Die Angeklagte P. wird zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 130,00 EUR verurteilt.
Die Angeklagte S. wird zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 40,00 EUR verurteilt.
Hiervon gelten jeweils 20 Tagessätze als vollstreckt.
Die Kosten des Verfahrens und die den Nebenklägern erwachsenen notwendigen Auslagen tragen die Angeklagten.
Jeweils angewendete Vorschriften: §§ 222, 13 Abs. 1 StGB.
Gründe:
2I.
3Zur Person der Angeklagten hat die Kammer folgende Feststellungen getroffen:
41. Die am N01 in B. geborene Angeklagte P. ist geschieden und hat zwei erwachsene Kinder. Ihre 26 Jahre alte Tochter lebt in einem eigenen Haushalt. Ihr 20jähriger Sohn absolviert derzeit eine Ausbildung, für die er eine Vergütung von monatlich etwa 1.000,00 EUR erhält. Er lebt (ohne finanzielle Beteiligung) im Haushalt der Angeklagten; Unterhaltsleistungen der Angeklagten erhält er nicht.
5Die Angeklagte ist seit etwa 28 Jahren Lehrerin für die Fächer Deutsch und Englisch und seit dem Jahr 2011 an der ZK.-Gesamtschule in Mönchengladbach tätig. Sie ist in der Besoldungsgruppe A 13, Altersstufe 12, eingruppiert. Ihr monatliches Nettogehalt beläuft sich auf 4.611,68 EUR, wovon sie Beiträge zur privaten Kranken- und Rentenversicherung in Höhe von 461,19 EUR erbringt.
6Die Angeklagte konsumiert keine Drogen und keinen Alkohol. Sie ist strafrechtlich nicht vorbelastet.
72. Die am N02 in R. geborene Angeklagte S. ist verheiratet und hat eine sechs Monate alte Tochter, die in dem Haushalt der Angeklagten und ihres vollschichtig arbeitenden Ehemannes lebt.
8Die Angeklagte ist seit etwa acht Jahren Lehrerin für die Fächer Deutsch und Spanisch und seit dem Jahr 2017 an der ZK.-Gesamtschule beschäftigt. Sie ist in der Besoldungsgruppe A 13 eingruppiert, befindet sich gegenwärtig jedoch in Elternzeit. Das Elterngeld beläuft sich auf (netto) 1.800,00 EUR, von dem sie für sich und ihre Tochter Beiträge zur privaten Kranken- und Rentenversicherung in Höhe von 313,00 EUR erbringt.
9Die Angeklagte konsumiert keine Drogen und keinen Alkohol. Sie ist strafrechtlich nicht vorbelastet.
10II.
11Zur Sache hat die Hauptverhandlung Folgendes ergeben:
12Emilys Diabeteserkrankung
13Die am 00.00.2005 geborene Geschädigte Emily Y. litt seit ihrem siebten Lebensjahr an Diabetes mellitus Typ I. Diese Autoimmunerkrankung macht eine lebenslange Insulinsubstitution notwendig, wobei zwischen der täglichen Insulindosis für den Grundbedarf des Körpers (sog. Basalinsulin) und der in Abhängigkeit von der Nahrungsaufnahme und weiteren Umständen (Sport, Stress, hormonelle Veränderungen) zu ermittelnden Insulindosis (sog. Bolusinsulin) zu unterscheiden ist. Der neben dem Basalinsulinbedarf erforderliche Bedarf an Bolusinsulin wird mittels eines Blutzuckermessgeräts bestimmt, das täglich mehrmalige Messungen erfordert. Emily nutzte seit dem Jahr 2014 ein manuell zu bedienendes Blutzuckermessgerät, für das mit einer Stechhilfe Blut im Bereich der Fingerkuppen entnommen und auf einen Teststreifen aufgebracht wird, sowie für die Gabe von Insulin eine am Körper getragene Insulinpumpe. Mittels der Insulinpumpe erfolgte über einen – jeweils 48 Stunden in der Haut verbleibenden – Katheter die kontinuierliche Gabe des erforderlichen Basalinsulins. Die in Abhängigkeit von Nahrung und ggf. weiteren den Blutzucker beeinflussenden Umständen zu steuernde Zuführung des Bolusinsulins erforderte eine ergänzende Ein- und Freigabe an der Insulinpumpe. Das Blutzuckermessgerät übertrug dabei den manuell gemessenen Blutzuckerwert mittels Funk an die Insulinpumpe. Die Pumpe berechnete daraufhin die erforderliche Bolusinsulindosis und schlug diese als Bolusinsulingabe vor, die Emily händisch freigeben musste. Möglich war aber auch eine eigene oder korrigierende Eingabe von Messwerten in die Pumpe mit der Folge einer abweichenden Bolusinsulindosis.
14Emily war Schülerin an der ZK.-Gesamtschule in Mönchengladbach, an der auch die Angeklagten P. und S. unterrichteten. Bei Aufnahme an der Gesamtschule im Schuljahr 2015/2016 gab Emilys Mutter, die Nebenklägerin und Zeugin T. Y., die Emilys einzige gesetzliche Vertreterin war, im Aufnahmebogen an, dass Emily unter Diabetes Typ I leide und eine Insulinpumpe habe. Dies wurde entsprechend in Emilys Schulakte vermerkt. Die Zeugin Y. informierte zudem die damalige erste Klassenlehrerin, die Zeugin HH. IQ., ausführlich über Emilys Erkrankung, mögliche Warnzeichen für eine Stoffwechselentgleisung (u.a. Verfärbung der Augen, Bauchschmerzen) und das erforderliche Diabetesmanagement. Ein entsprechender „Merkzettel“ befand sich im Klassenbuch, in das auch Fach- und Vertretungslehrer Einsicht nehmen konnten, sich auf diesem Weg über Emilys Erkrankung in Kenntnis setzten und daher von Emilys Erkrankung wussten. Als Emilys Klasse im Schuljahr 2018/2019 durch den Zeugen LI. KJ. übernommen wurde, informierte sich dieser über Emilys Vorerkrankung durch Einsichtnahme in deren Schulakte und einen persönlichen Austausch mit der Zeugin IQ.. Anlassbezogen, z.B. bei einem Elternsprechtag, unterrichtete auch die Zeugin Y. den Zeugen KJ..
15Tatgeschehen
16Im Jahr 2019 veranstaltete die ZK.-Gesamtschule eine klassen- und jahrgangsübergreifende Schulfahrt nach London, Großbritannien. An der Organisation und Durchführung waren die beiden Angeklagten sowie die gesondert Verfolgten VT. DO. und NT. WK. gleichberechtigt beteiligt. Eine Verteilung von Aufgabenbereichen gab es zwischen ihnen nicht; alle vier waren für die gesamte Organisation gemeinsam verantwortlich. Für die Fahrt hatten sich im Vorfeld über 70 Schüler aus den Jahrgängen 8 bis 12, darunter auch die Geschädigte Emily Y., angemeldet. Die Angeklagten kannten Emily nicht, da sie diese zu keinem Zeitpunkt unterrichtet hatten.
17Zur Vorbereitung der Londonfahrt fand am 09.05.2019 in den Räumlichkeiten der ZK.-Gesamtschule eine unverbindliche Informationsveranstaltung für die teilnehmenden Schüler und ihre Eltern statt. In der Einladung zum Informationsabend waren Ort und Zeit der Veranstaltung angegeben sowie der Hinweis, dass die Möglichkeit zur Beantwortung etwaiger Fragen bestehe. Zudem wurde darum gebeten, den Personalausweis mitzubringen. Eine Tagesordnung mit einer programmatischen und zeitlichen Gliederung der unverbindlichen Informationsveranstaltung war nicht beigefügt; einen Hinweis darauf, dass auf der Informationsveranstaltung auch gesundheitliche Themen erörtert würden, gab es in der Einladung dementsprechend nicht.
18Die Veranstaltung wurde von beiden Angeklagten durchgeführt, wobei die Angeklagte S. zu Beginn der Veranstaltung am Eingang der Schule saß, die für die Schulfahrt erforderlichen Ausweisdokumente der anwesenden Teilnehmer einsammelte und hiervon Kopien fertigte. Sie stieß erst gegen Ende der Veranstaltung dazu. Die Angeklagte P. moderierte die etwa 45 Minuten andauernde Informationsveranstaltung, im Rahmen derer sie u.a. über Hin- und Rückfahrtzeiten, erforderliche persönliche Dokumente, notwendiges Gepäck, die Unterkunft und das Programm vor Ort sowie allgemeine Verhaltensregeln (Erkunden von London in Schüler-Kleingruppen, Nachtruhe, keine Drogen, kein Alkohol, keine Zigaretten) informierte. Sie fragte im Plenum zudem nach gesundheitlichen Besonderheiten der Teilnehmer und wies darauf hin, dass etwaig erforderliche Medikamente selbst mitgeführt werden müssten. Im Anschluss daran gab sie den Anwesenden Gelegenheit zur Nachfrage und zu einem Gespräch unter vier Augen. Das nutzten einige Eltern, um die Angeklagte P. auf Vorerkrankungen oder Reiseübelkeit ihrer Kinder hinzuweisen.
19An der Informationsveranstaltung am 09.05.2019 nahmen auch die damals 13jährige Geschädigte Emily Y. sowie der Lebensgefährte von Emilys Mutter, der Zeuge LI. MT., teil. Weder Emily noch der Zeuge MT. teilten den Angeklagten an dem Abend (mündlich oder schriftlich) mit, dass Emily unter Diabetes Typ I leide. Ob sie die mündliche Abfrage der Angeklagten P. nach gesundheitlichen Besonderheiten der Teilnehmer im Vortragsteil der Veranstaltung und den Hinweis auf die Möglichkeit eines persönlichen Gesprächs im Anschluss an die Veranstaltung überhaupt wahrnahmen, konnte nicht festgestellt werden.
20Anders als bei Klassenfahrten an der ZK.-Gesamtschule üblich und verpflichtend fragten die Angeklagten weder vor oder während noch nach dem Informationsabend im Mai 2019 das Vorliegen von chronischen Erkrankungen, Vorerkrankungen oder gesundheitlichen Besonderheiten und die Notwendigkeit einer bestimmten Medikation schriftlich bei den Erziehungsberechtigten der minderjährigen Schüler, also auch nicht bei der Erziehungsberechtigten von Emily, der Zeugin Y., und den volljährigen Schülern ab. Wäre eine solche verbindliche schriftliche Abfrage – insbesondere unter Hinweis auf den Umstand, dass die Angeklagten und die gesondert Verfolgten DO. und WK. als begleitendes Lehrpersonal nicht alle der teilnehmenden Schüler kannten, wie auch Emily nicht – erfolgt, hätte die Zeugin Y. jedenfalls Emilys Diabeteserkrankung angegeben, wenn nicht sogar das erforderliche Diabetesmanagement (regelmäßige Blutzuckermessungen, Insulingabe über Insulinpumpe, Warnzeichen für Über- und Unterzuckerung) ergänzend mündlich oder schriftlich dargelegt. Die beiden Angeklagten nahmen auch nicht Einsicht in Emilys Schulakte oder informierten sich bei Emilys damaligen Klassen- und Fachlehrern über gesundheitliche Besonderheiten. Hätten sie die vorstehend beschriebene schriftliche Abfrage bei der Zeugin Y. durchgeführt, in die Schulakte Einsicht genommen oder sich bei Emilys Klassen- bzw. Fachlehrern informiert, wäre ihnen Emilys Diabeteserkrankung vor Beginn der Londonfahrt bekannt geworden. Tatsächlich erfuhren sie hiervon erst am Tag der Rückfahrt aus London (siehe unten).
21Bereits im Zeitpunkt der Durchführung der Informationsveranstaltung im Mai 2019 und auch noch danach war den Angeklagten die immens wichtige Bedeutung der Kenntnis von gesundheitlichen Besonderheiten, Vorerkrankungen und chronischen Erkrankungen und einer ggf. notwendigen Medikation der mitfahrenden Schüler, darunter auch Emily, bewusst. Dass eine chronisch erkrankte, erst 13 Jahre alte Schülerin wie Emily, die auf die regelmäßige Gabe eines lebenswichtigen Medikaments – hier: Insulin – angewiesen ist und von deren Erkrankung die begleitenden Lehrer aufgrund der unterlassenen schriftlichen Gesundheitsdatenabfrage jedoch nichts wussten, im Rahmen einer Schulfahrt gerade aufgrund dieser Unkenntnis und dadurch bedingtem Fehlverhalten in der Betreuung einer solchen Schülerin sterben könnte, war objektiv und für die Angeklagten nach ihren subjektiven Kenntnissen vorhersehbar.
22Einige Tage vor der Londonfahrt zeigte Emilys bisher im Wesentlichen stabile Stoffwechsellage – möglicherweise aufgrund der Aufregung mit Blick auf die Londonfahrt und/oder hormonelle Veränderung infolge der Pubertät – Entgleisungen nach oben (Überzuckerung) und nach unten (Unterzuckerung). Emily und/oder ihrer Mutter bzw. dem Zeugen MT. gelang es jedoch, die entgleisten Werte durch entsprechende Gabe von Insulin oder Aufnahme von Nahrung zu regulieren und die instabile Stoffwechsellage jeweils zu stabilisieren.
23Die Londonfahrt fand im Zeitraum vom 26. bis zum 29.09.2019 statt. Sie nahm im Einzelnen folgenden Verlauf:
24Mittwoch, 26.06.2019
25Am Mittwochabend begann die Fahrt nach London, an der Emily Y. sowie die Angeklagten und die gesondert Verfolgten DO. und WK. als Lehrpersonal teilnahmen. Im Zeitpunkt der Abreise in Mönchengladbach lag keinem der vorgenannten Lehrer eine schriftliche Erklärung der Zeugin Y. zu Vorerkrankungen, chronischen Erkrankungen oder gesundheitlichen Besonderheiten betreffend Emily vor. Auch hatten sie zu diesem Zeitpunkt nicht in Emilys Schulakte Einsicht genommen oder sich bei Emilys Klassen- und Fachlehrern bezüglich gesundheitlicher Besonderheiten informiert.
26Donnerstag, 27.06.2019
27Am Donnerstagmorgen erreichte der Reisebus London. Emily bezog mit den damals 14jährigen Zeuginnen GW. RU. und SE. KR., mit denen sie befreundet war, ein gemeinsames Hotelzimmer. Eine Blutzuckermessung um 12:15 Uhr ergab einen Wert von 542 mg/dl, was gegenüber dem angestrebten Normalwert von 90 bis 180 mg/dl schon deutlich erhöht war. Emily veranlasste daraufhin die Gabe von 12 Insulineinheiten (IE) über ihre Insulinpumpe. Bei der weiteren Blutzuckermessung um 14:12 Uhr verzeichnete das Messgerät einen Wert von 283 mg/dl. Emily veranlasste die Gabe von 12,3 IE. Bei der Messung um 14:12 Uhr handelte es sich um die letzte vom Messgerät auf die Insulinpumpe automatisch übertragene Blutzuckermessung auf der gesamten Reise.
28Nach dem verpflichtenden Ausflugsprogramm begaben sich Emily, die Zeuginnen KR. und RU., die Zeugen AH. YN., GY. XG. und OT. OI. etwa gegen 17/17:30 Uhr in ein chinesisches Restaurant. Dort aßen Emily und die Zeugin KR. das gleiche scharf gewürzte Essen. Nach der Rückkehr ins Hotel fühlten sich beide unwohl und erbrachen sich. Während es der Zeugin KR. bereits am späten Abend wieder besser ging, setzte sich bei Emily ein regelmäßiges Erbrechen am Abend und in der Nacht fort.
29Als es der Zeugin KR. besser ging, informierte sie noch am späten Donnerstagabend die im Aufenthaltsraum des Hotels befindlichen Angeklagten darüber, dass Emily und sie sich übergeben hätten und es vermutlich an dem zuvor eingenommenen chinesischen Essen liege. Eine Nachschau seitens der Angeklagten und der gesondert Verfolgten DO. und WK. erfolgte hierauf nicht.
30Freitag, 28.06.2019
31Am frühen Morgen des Freitags ging es Emily weiterhin schlecht: Zwar hatte das Erbrechen zwischenzeitlich aufgehört, sie litt jedoch weiterhin unter Übelkeit und Kopfschmerzen. Im Rahmen des Frühstücks gegen 07:30/08:00 Uhr wies die Zeugin KR. die Angeklagte P. auf Emilys Erbrechen in der Nacht und deren anhaltendes Unwohlsein hin. Die Angeklagte P. erklärte, sie werde nach Emily schauen, was sie jedoch nicht tat.
32Die Zeugin RU. fühlte sich an diesem Morgen wegen einer erkältungsbedingten Entzündung am Auge unwohl. Sie war daher nicht zuvor mit zum Frühstück gegangen, sondern im Zimmer geblieben. Etwa gegen 09:30/10.00 Uhr begaben sich die Zeuginnen KR. und RU. zu den Angeklagten und erklärten erneut, dass es Emily aufgrund des nächtlichen Erbrechens nicht gut gehe und sie beide – Emily und die Zeugin RU. – krankheitsbedingt nicht am Ausflugsprogramm teilnehmen könnten. Die Angeklagten erlaubten Emily und der Zeugin RU., auf dem Hotelzimmer zu bleiben, wiesen sie aber an, sich bei einer Verschlechterung ihres Zustands zu melden. Eine Nachschau der Angeklagten und der gesondert Verfolgten DO. und WK. erfolgte auch zu diesem Zeitpunkt nicht.
33Emily und die Zeugin RU. legten sich zunächst schlafen. Nachdem sie erwacht war, musste Emily sich erneut übergeben. Um 11:49 Uhr gab sie in die Insulinpumpe manuell den Wert „151 mg/dl“ ein, der nicht dem tatsächlichen – deutlich höheren – Blutzuckerwert entsprach. Es erfolgte eine Abgabe von 15 IE Bolusinsulin. Um 13.43 Uhr erfolgte eine weitere manuelle Eingabe des Wertes „188 mg/dl“ in die Insulinpumpe. Auch insoweit entsprach der eingegebene Wert nicht dem zu diesem Zeitpunkt schon deutlich erhöhten Blutzuckerwert. Bei der hierauf erfolgten Abgabe von 12 IE Bolusinsulin handelte sich um die letzte Gabe von Bolusinsulin auf der gesamten Reise.
34Am Nachmittag begaben sich Emily und die Zeugin RU. zu Fuß zu dem Café „Starbucks“ und zu einem Supermarkt, wo sie Getränke und Obst erwarben. Der Fußweg vom Hotel weg und zum Hotel zurück war für Emily so beschwerlich, dass sie mehrmals pausieren musste. Ihre Atmung war mittlerweile schwer und tief, was sie zusätzlich erschöpfte. Emily hatte große Mühe, mit der Zeugin RU. Schritt zu halten. Zurück im Hotel verzehrte sie die Getränke und das Obst.
35Um 18:00 Uhr legte sich Emily erneut schlafen, gegen 19.00 Uhr erbrach sie sich wieder. Die zu diesem Zeitpunkt von dem Tagesausflug zurückgekehrte Zeugin KR. wandte sich nochmals an die Angeklagten und wies darauf hin, dass sich Emily erneut mehrfach erbrochen habe. Die Angeklagten erklärten, sie, die Zeugin, solle Cola und Salzstangen besorgen, was die Zeugin KR. gemeinsam mit dem damals 14jährigen Zeugen IJ. QP. tat. In der Nacht von Freitag auf Samstag erbrach sich Emily erneut mindestens einmal.
36Hätten die Angeklagten von Emilys Diabeteserkrankung – infolge der schriftlichen Abfrage bei der Zeugin Y. oder der Einsichtnahme in die Schulakte – gewusst, hätten sie den wiederholten Mitteilungen der Zeuginnen KR. und RU. stärkere Beachtung geschenkt und bereits am Freitagmorgen (28.06.2019) hierauf dadurch reagiert, dass sie ärztliche Hilfe hinzugezogen und die Zeugin Y. über Emilys andauernden Krankheitszustand (anhaltendes Erbrechen, Kopf- und Bauchschmerzen, Müdigkeit, Erschöpfung und körperliche Schwäche) informiert hätten. Emilys Tod hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert werden können, wenn sie spätestens am Abend des Freitags, 28.06.2019, stationär aufgenommen und (intensiv-)medizinisch versorgt worden wäre.
37Samstag, 29.06.2019
38Am Samstagmorgen hatte sich Emilys Zustand ganz erheblich verschlechtert, sie war schläfrig, matt, verwirrt und kaum ansprechbar. Als die Angeklagten dies im Rahmen einer Zimmerkontrolle nach dem Frühstück erkannten, verständigten sie den Notarzt. Gleichzeitig telefonierten sie mit der Zeugin Y., die ihnen dabei mitteilte, dass Emily unter Diabetes leide.
39Die Rettungskräfte stellten bei Emily einen „Zuckerschock“ mit einem Wert von 1.333 mg/dl fest und veranlassten eine umgehende Krankenhauseinweisung. Die Angeklagten und die Zeugin KR. begleiteten Emily im Rettungswagen zunächst in das nahegelegene BM., von wo sie nach kurzer Zeit in das QL., ein auf Kinderheilkunde – und auch Diabetes – spezialisiertes Lehrkrankenhaus in London, verlegt wurde.
40Nach anfänglicher Besserung ihres Zustandes verstarb Emily am Sonntagmittag (30.06.2019). Emilys Tod beruhte auf einem durch eine schwerwiegende Stoffwechselentgleisung ausgelösten Herzinfarkt. Infolge der jedenfalls seit Donnerstag (27.06.2019) unzureichenden Gabe von Insulin und des starken Erbrechens nach dem chinesischen Essen trat bei Emily bereits am Donnerstagabend ein starker Insulinmangel auf, der sich im Laufe der Nacht zum Freitag (28.06.2019) zu einer schwerwiegenden Stoffwechselentgleisung, einer schweren diabetischen Ketoazidose, entwickelte, weshalb Emily – auch aufgrund von damit einhergehenden kognitiven Einschränkungen – selbst nicht mehr in der Lage war, sich adäquat um ihr Diabetesmanagement zu kümmern, sondern Hilfe gebraucht hätte. Die mit der Ketoazidose einhergehenden Stoffwechselprozesse verursachten die seit Donnerstagabend einsetzenden Bauchschmerzen, die Übelkeit, das Erbrechen und die Kopfschmerzen. Bei der Untersuchung im QL. am Samstagmittag (29.06.2019) waren Emilys Blutwerte deutlich außerhalb der Normwerte, was eine maligne Herzrhythmusstörung auslöste. Der hierdurch ausgelöste Herzinfarkt (Myokardinfarkt) führte schließlich zu ihrem Versterben am 30.06.2019 um 14:12 Uhr. Fehler der Ärzte der dortigen Krankenhäuser bei Emilys Behandlung gab es keine.
41III.
421. Die Feststellungen zur Person beruhen auf den glaubhaften, insbesondere in sich stimmigen, Angaben der beiden Angeklagten. Soweit es ihre Vermögensverhältnisse betrifft, machten die Angeklagten umfassende und nachvollziehbare Angaben. Ihre bisherige Straffreiheit folgt aus der Verlesung der jeweiligen Bundeszentralregisterauszüge vom 30.01.2024.
432. Die Feststellungen zur Sache hat die Kammer wie folgt getroffen:
44a. Die Feststellungen zu Emilys Diabeteserkrankung hat die Kammer im Wesentlichen auf Grundlage der glaubhaften und sachkundig überzeugenden Angaben der sachverständigen Zeugin Dr. QA. EP., Emilys behandelnder Oberärztin im OF.-Krankenhaus in FD., sowie der glaubhaften Aussagen ihrer damaligen Klassenlehrer, der Zeugen HH. IQ. und LI. KJ., getroffen.
45aa. Die sachverständige Zeugin Dr. EP., Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Oberärztin der Abteilung für Kinder- und Jugendmedizin am OF.-Krankenhaus FD., machte sehr detaillierte, stimmige und nachvollziehbare Angaben zum erstmaligen Auftreten von Emilys Stoffwechselerkrankung Diabetes mellitus Typ 1 und dem Behandlungsverlauf seit 2011. Sie legte im Einzelnen dar, dass sie Emily in 2011 kurz nach der Erstdiagnose (im Urlaub in Polen) kennengelernt und sie seitdem medizinisch betreut habe. Emily habe zunächst einen Insulin-Pen gehabt, um sich das notwendige Basal- und Bolusinsulin zu verabreichen. Von Anfang an habe sie – was für das Alter untypisch gewesen sei – das Insulin selbst gespritzt. Im Jahr 2014 sei Emily auf eine Pumpe umgestellt worden, was sie selbstständiger und unabhängiger gemacht habe. Die sich bei der Darstellung der Krankengeschichte ergebenden medizinischen Zusammenhänge legte die sachverständige Zeugin Dr. EP. schlüssig, überzeugend und widerspruchsfrei dar. So erläuterte sie beispielsweise gut nachvollziehbar den Unterschied zwischen Basal- und Bolusinsulin, die Schwierigkeiten bei der Herstellung eines ausgewogenen Zucker-Insulin-Spiegels und die Funktionsweise der von Emily genutzten medizinischen Geräte, namentlich des Blutzuckermessgeräts und der Insulinpumpe, welche sie in der Hauptverhandlung mitführte und deren Zusammenspiel sie der Kammer überzeugend und anschaulich erklärte. Ihren entsprechenden sachverständigen Feststellungen schließt sich die Kammer in eigener Würdigung an.
46bb. Die Feststellungen zur Angabe von Emilys Diabeteserkrankung durch die Zeugin Y. bei der Anmeldung an der ZK.-Gesamtschule im Schuljahr 2015/2016 sowie zu der Unterrichtung der Klassenlehrerin durch die Zeugin Y. beruhen auf den glaubhaften, insbesondere stimmigen und konkreten, Angaben der Zeugin HH. IQ.. Die Zeugin IQ. war Emilys erste Klassenlehrerin an der ZK.-Gesamtschule. Sie schilderte im Einzelnen, dass Emilys Diabeteserkrankung nicht nur in der Schulakte vermerkt worden sei, sondern auch, dass die Zeugin Y. sie hierzu umfassend informiert habe. Um diese Informationen auch den Fachlehrern zukommen zu lassen, habe es einen im Klassenbuch verwahrten „Merkzettel“ der Zeugin Y. gegeben.
47Dass auch der ab der 7. Klasse zuständige Klassenlehrer, der Zeuge LI. KJ., über Emilys Diabeteserkrankung im Bilde war, bestätigte dieser gegenüber der Kammer glaubhaft. Er legte anschaulich und stimmig dar, er habe bei Übernahme von Emilys Klasse nicht nur in die Schulakten der Schüler, darunter auch Emilys Schulakte, Einsicht genommen, sondern sich in Bezug auf Emily auch bei seiner Kollegin, der Zeugin IQ., informiert. Dieses Vorgehen habe er als selbstverständlich angesehen. Zudem sei Emilys Mutter – bei Klassenfahrten oder Elternsprechtagen – eigeninitiativ auf ihn zugekommen und habe ihn über Emilys Diabeteserkrankung ergänzend unterrichtet.
48cc. Die Angaben der Zeugen Dr. EP., IQ. und KJ. werden durch die in der Hauptverhandlung nach § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO verlesenen Protokolle der polizeilichen Vernehmung der Zeugin Y. vom 06. und 10.09.2019 (Bl. 25-33, 75-76 GA) bestätigt. Die Zeugin Y. machte gegenüber der Polizei umfassende und sehr detaillierte Angaben zu Emilys Anamnese und zu dem offenen Umgang der Familie mit der Diabeteserkrankung. Hierzu gab sie beispielsweise an, dass Emily schon mit acht Jahren alleine an mehrtägigen Freizeitfahrten teilgenommen habe und das entsprechende Betreuungspersonal zuvor umfassend von ihr informiert worden sei. Die Kammer ist sich des eingeschränkten Beweiswertes der verlesenen Aussageprotokolle der Zeugin Y. bewusst, die hierzu durch die Prozessbeteiligten nicht ergänzend befragt werden konnte. Die Überzeugungsbildung der Kammer stützt sich jedoch nicht allein auf die Aussage der Zeugin Y., sondern maßgeblich auf die in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen Dr. EP., IQ. und KJ., deren Angaben durch die verlesenen Aussagen der Zeugin Y. jedoch bestätigt werden.
49b. Die Feststellungen zum Tatgeschehen beruhen auf den geständigen Einlassungen der Angeklagten und – soweit die Feststellungen über die Einlassungen hinausgehen oder diesen widersprechen – auf dem Ergebnis der in der Hauptverhandlung durchgeführten Beweisaufnahme.
50aa. Die Angeklagten haben sich zum Tatgeschehen im Wesentlichen wie folgt übereinstimmend eingelassen:
51Für die Organisation und Durchführung der seit mehreren Jahren an der Schule angebotenen Londonfahrt 2019 seien sie, die Angeklagten, und die gesondert Verfolgten VT. DO. und NT. WK. gemeinsam verantwortlich gewesen. Verbindliche Absprachen mit dem Inhalt einer Aufgabenverteilung – z.B. wer sich um welche organisatorische Aufgabe, mithin auch die Abfrage von Vorerkrankungen und gesundheitlichen Besonderheiten der Teilnehmer, kümmern sollte – habe es zwischen ihnen nicht gegeben.
52Im Vorfeld der im Juni 2019 stattfindenden Londonfahrt habe es am 09.05.2019 eine unverbindliche Informationsveranstaltung gegeben. Die Angeklagte P. habe die Veranstaltung moderiert, während die Angeklagte S. die Ausweispapiere der teilnehmenden Schüler kontrolliert habe. Im Rahmen der Veranstaltung habe die Angeklagte P. darauf hingewiesen, dass die Eltern/Schüler ihr im Nachgang gesundheitliche Besonderheiten mitteilen sollten. Dieses Angebot hätten drei Eltern, nämlich die Zeugin CX. BQ. MC., die Zeugin OD. GT. und eine weitere Mutter, wahrgenommen. Die Angeklagte P. habe auch erklärt, das erforderliche Medikamente durch die Schüler eigenverantwortlich mitgeführt werden müssten. Eine verbindliche schriftliche Abfrage von Gesundheitsdaten, Erkrankungen und Medikamenten habe es nicht gegeben. Auch bei früheren Londonfahrten sei stets nur eine mündliche Abfrage erfolgt, um so einen persönlichen Austausch zwischen Lehrpersonal und Eltern/Schülern zu ermöglichen. In die Schulakten der teilnehmenden Schüler hätten sie keine Einsicht genommen, also auch nicht in Emilys Schulakte. Von Emilys Diabeteserkrankung hätten sie vor der Fahrt daher keine Kenntnis gehabt.
53Auf der Londonfahrt hätten sie erstmals am Freitagmorgen (28.06.2019) Kenntnis davon erlangt, dass es Emily nicht gut gehe. Gegen 09:00 Uhr hätten die Zeuginnen KR. und RU. sie beide im Frühstücksraum angesprochen und erklärt, der Zeugin KR. und Emily sei wegen chinesischen Essens vom Vorabend übel geworden. Die Zeugin RU. habe über ein entzündetes Auge geklagt. Da es der Zeugin KR. an diesem Morgen wieder bessergegangen sei, habe sie am Ausflugsprogramm teilgenommen. Im Hinblick auf die Zeugin RU. und Emily, der immer noch übel gewesen sei, hätten sie erklärt, diese könnten im Hotel bleiben, sollten sich aber melden, wenn etwas sei. Die beiden Mädchen seien angewiesen worden, nicht zu zweit das Hotel zu verlassen. Eine Nachschau bei Emily sei weder am Morgen noch am Nachmittag des Freitags durch sie, die Angeklagten, erfolgt. Weitere Mitteilungen seitens der Mitschüler über ein Unwohlsein Emilys oder gar ein (andauerndes) Erbrechen hätten sie weder am Donnerstag (27.06.2019) noch am Freitag (29.06.2019) erhalten.
54Hätten sie bereits am Freitagmorgen von Emilys Diabeteserkrankung gewusst, hätten sie auf die Mitteilung der Zeuginnen KR. und RU. hin unmittelbar reagiert, indem sie einen Arzt kontaktiert bzw. einen Rettungswagen gerufen sowie Emilys Mutter verständigt und diese über Emilys Zustand informiert hätten.
55Am Samstagmorgen (29.06.2019) nach der Frühstückszeit hätten sie Emily im Hotelzimmer schlafend und laut atmend zwischen den lautstark redenden Zeuginnen KR. und RU. vorgefunden. Da ihnen Emilys Zustand besorgniserregend vorgekommen sei, hätten sie gemeinsam mit den gesondert Verfolgten DO. und WK. entschieden, den Notarzt zu rufen. Zudem habe man mit der Zeugin Y. telefoniert, die mitgeteilt habe, dass Emily unter Diabetes leide. In diesem Zeitpunkt hätten sie erstmals von Emilys Diabeteserkrankung erfahren. Emily sei unmittelbar ins Krankenhaus transportiert worden, wo sie bis zum Eintreffen der Zeugin Y. und des Zeugen MT. bei ihr geblieben seien.
56bb. Die Kammer ist der geständigen Einlassung der Angeklagten gefolgt in Bezug auf die Organisation der Londonfahrt, den Informationsabend am 09.05.2019 sowie die Ereignisse ab der Verständigung des Notarztes am Vormittag des Samstags in London (hierzu unter (1)). Nicht gefolgt ist die Kammer hingegen der Darstellung der Angeklagten, sie seien nur einmal am Freitagmorgen durch die Zeuginnen KR. und RU. auf Emilys Unwohlsein hingewiesen worden (hierzu unter (2)).
57(1) Die Angeklagten haben übereinstimmende und in sich stimmige Angaben zu der allgemeinen Planung, Organisation und Vorbereitung der Londonfahrt gemacht. Sie haben insbesondere – sich insoweit selbst belastend – eingeräumt, dass die gesamte Organisation, einschließlich der Abfrage von für die Ausübung der Aufsicht über die teilnehmenden Schüler erforderlichen Informationen, allen vier beteiligten Lehrkräften oblegen habe.
58Die Feststellungen zum konkreten Ablauf der Informationsveranstaltung und zu der Beteiligung der Angeklagten daran beruhen ebenso auf ihrer geständigen Einlassung. Die Angeklagten schilderten jede für sich glaubhaft, insbesondere detailliert und stimmig, wie der Informationsabend im Einzelnen ablief und welche Aufgaben sie hierbei wahrnahmen. Dabei sieht es die Kammer als erwiesen an, dass die Angeklagte P. die Frage nach gesundheitlichen Besonderheiten der Teilnehmer und nach notwendigen Medikamenten ansprach und den anwesenden Eltern/Schülern das Angebot zu einem persönlichen Gespräch machte.
59Dass auch Emily und/oder der Zeuge MT. diese mündliche Abfrage wahrnahmen, konnte die Kammer hingegen nicht feststellen. Der Zeuge MT. erinnerte sich zwar glaubhaft daran, dass er gemeinsam mit Emily an der Informationsveranstaltung am 09.05.2019 teilgenommen habe. Einzelheiten der Veranstaltung (z.B. Namen der anwesenden Lehrer, besprochene Inhalte) waren ihm hingegen nicht erinnerlich. Dies erklärte er nachvollziehbar damit, dass er versucht habe, vieles rund um die Londonfahrt zu verdrängen und zu vergessen. Der Zeuge MT. bestätigte aber, dass weder er noch Emily den Lehrkräften auf der Informationsveranstaltung mitgeteilt hätten, dass Emily unter Diabetes mellitus Typ I leide. Dies begründete er damit, dass er davon überzeugt gewesen sei, Emily gehe – wie bisher bei Klassen- und Freizeitfahrten – auch im Rahmen einer klassen- und stufenübergreifenden Schulfahrt gewissenhaft und verantwortungsbewusst mit ihrer Erkrankung um. Gleichzeitig betonte er, dass Emily mit ihrer Erkrankung stets offen umgegangen sei und dies auch im Schulalltag nicht verheimlicht habe.
60Von einem verantwortungsbewussten Umgang Emilys mit ihrer Diabeteserkrankung ging auch Emilys Mutter, die Zeugin Y., aus. Darüber hinaus nahm sie an, dass auf Seiten der Schule schon kein Informationsdefizit bestanden habe, das Veranlassung dazu gegeben hätte, die Angeklagten und die gesondert Verfolgten DO. und WK. über Emilys Diabeteserkrankung zu informieren. Hiervon ist die Kammer aufgrund der verlesenen polizeilichen Aussage der Zeugin Y. überzeugt, die durch die oben getroffenen Feststellungen zum offenen Umgang der Familie Y. mit der Diabeteserkrankung im schulischen Kontext (siehe bereits oben) getragen und bestätigt wird.
61Nach der geständigen Einlassung der Angeklagten steht zur Überzeugung der Kammer weiter fest, dass weder im Vorfeld oder während noch nach der Informationsveranstaltung eine verbindliche schriftliche Abfrage durch die Angeklagten zu Vorerkrankungen, chronischen Erkrankungen oder sonstigen gesundheitlichen Besonderheiten und zu einer sich hieraus ergebenden notwendigen Medikation bei der Erziehungsberechtigten von Emily Y., der Zeugin Y., erfolgte. Zudem steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Angeklagten vor der Londonfahrt weder Einsicht in Emilys Schulakte nahmen noch durch Nachfrage bei/Mitteilung durch andere Lehrkräfte von Emilys Diabeteserkrankung Kenntnis erhielten. Vor diesem Hintergrund erachtet die Kammer die Aussage der Angeklagten, ihnen sei Emilys Diabeteserkrankung bis zum letzten Tag der Londonfahrt (Samstag, 29.06.2019) nicht bekannt gewesen, als glaubhaft.
62Dass eine verbindliche schriftliche Abfrage zu gesundheitlichen Besonderheiten und notwendigen Medikamenten weder gegenüber der Zeugin Y. als Emilys Erziehungsberechtigter noch gegenüber einem anderen Erziehungsberechtigten bzw. volljährigen Schüler erfolgte, wird zur Überzeugung der Kammer durch die glaubhafte Aussage der Zeugin HC. KI., der damaligen und heutigen Rektorin der ZK.-Gesamtschule, bestätigt. Die Zeugin KI. legte detailliert und anschaulich dar, dass sie alle Unterlagen betreffend die Londonfahrt 2019 in einem Ordner zusammengestellt habe, eine schriftliche Abfrage von gesundheitlichen Besonderheiten – betreffend Emily Y. oder anderer Schüler – sich darin jedoch nicht finde. Dies erläuterte sie nachvollziehbar damit, dass es bei der Londonfahrt 2019 wie auch bei früheren Londonfahrten – in Abweichung zum Prozedere der schriftlichen Abfrage bei Klassenfahrten – immer „nur“ einen Informationsabend mit den Schülern und Eltern gegeben habe. In dessen Rahmen hätten die erforderlichen Informationen, so auch zu Vorerkrankungen/chronischen Erkrankungen, mündlich ausgetauscht werden können und sollen. Eine schriftliche Abfrage folgt im Übrigen auch nicht aus dem von der Zeugin CX. BQ. MC. verfassten Protokoll zum Informationsabend.
63Soweit zwei Teilnehmer des Informationsabends, die Zeuginnen NF. QG. und CX. BQ. MC., – auch entgegen dem Protokoll – sich an eine schriftliche Abfrage von gesundheitlichen Besonderheiten vor der Londonfahrt 2019 zu erinnern meinten, folgt die Kammer dem nicht. Die Erinnerung der Zeuginnen war aufgrund des Zeitablaufs so getrübt, dass sie sich lediglich an wenige Einzelheiten (wie z.B. die anwesenden Lehrkräfte oder ihre eigene Anwesenheit) erinnerten. Zudem zogen die Zeuginnen, wie sie selbst einräumten, Rückschlüsse aus dem Prozedere der schriftlichen Abfrage bei Klassenfahrten, von dem bei der Londonfahrt jedoch – wie festgestellt – gerade abgewichen wurde.
64Dass den Angeklagten die Bedeutung der Kenntnis von gesundheitlichen Besonderheiten und einer ggf. notwendigen Medikation der mitfahrenden Schüler, darunter auch Emily, bewusst war, ergibt sich zur Überzeugung der Kammer aus dem Umstand, dass jedenfalls – was die Kammer zu Gunsten der Angeklagten als erwiesen ansieht – eine mündliche Abfrage seitens der Angeklagten P. im Plenum des Informationsabends erfolgte und den anwesenden Eltern und Schülern die Möglichkeit für ein persönliches und vertrauliches Gespräch hierüber eröffnet wurde, worauf sich auch die Angeklagte S. berief. Die Angeklagten überließen es damit nämlich nicht allein den Schülern und ihren Erziehungsberechtigten, sie, die Angeklagten, über gesundheitliche Besonderheiten in Kenntnis zu setzen. Vielmehr thematisierten die Angeklagten von sich aus die Bedeutung einer umfassenden Unterrichtung der aufsichtführenden Lehrkräfte über einen besonderen Gesundheitszustand der teilnehmenden Schüler.
65Die Feststellung, dass bei einer unterbliebenen Abfrage von Vorerkrankungen und einer deswegen erforderlichen Medikation bzw. einem Unterlassen, sich durch Einsichtnahme in die Schulakte über Erkrankungen und einer hierdurch erforderlichen Medikation zu informieren, ein tödlicher Verlauf einer solchen – nicht bekannten – Vorerkrankung aufgrund eines Fehlverhaltens in der Betreuung des/der betreffenden SchülerIn aufgrund jener Unkenntnis eintreten konnte und dies objektiv und für die Angeklagten nach ihren subjektiven Kenntnissen vorhersehbar war, steht zur Überzeugung der Kammer aus den vorstehenden Erwägungen ebenfalls fest. Dies wird dabei insbesondere auch durch den – von der Kammer als erwiesen angesehenen – Hinweis der Angeklagten P. auf das eigenverantwortliche Mitführen von Medikamenten deutlich. Denn gerade bei Erkrankungen, die eine dauerhafte oder regelmäßige Medikation erfordern – wie bei Emilys Diabeteserkrankung die dauerhafte Gabe von Insulin –, ist es naheliegend, dass das Fehlen oder die unzureichende Gabe der notwendigen Medikation gravierende Folgen haben kann, dies daher jedenfalls bei Anhaltspunkten für eine falsche oder unzureichende Medikation durch die aufsichtsführenden Lehrkräfte zu kontrollieren ist.
66Auch das Geschehen am Samstagvormittag ab dem Zeitpunkt, als Emilys Gesundheitszustand den Angeklagten nach Betreten des Hotelzimmers als außergewöhnlich und besorgniserregend auffiel, haben sie – wie festgestellt – glaubhaft eingeräumt.
67(2) Nicht gefolgt ist die Kammer hingegen den Einlassungen der Angeklagten, sie seien von den Zeuginnen KR. und RU. nur einmal am Freitagmorgen (28.06.2019) auf Emilys Übelkeit hingewiesen worden. Die Kammer geht hier – wie festgestellt – von einer ersten Mitteilung am Donnerstagabend und mehreren Meldungen im Laufe des Freitags aus, in denen es zudem nicht nur um Unwohlsein/Übelkeit, sondern jeweils auch um ein anhaltendes Erbrechen Emilys ging.
68(a) Zu der Überzeugung, dass es bereits am Donnerstagabend (27.06.2019) eine erste Unterrichtung der Angeklagten über Emilys Erbrechen gab, ist die Kammer auf Grundlage der glaubhaften Angaben der Zeuginnen KR. und RU. gekommen.
69Die Zeugin KR. legte detailliert und handlungsstimmig dar, dass Emily und ihr nach dem Genuss des gleichen chinesischen Essens am Donnerstagabend kurz nach der Rückkehr ins Hotel übel geworden sei und sie sich beide erbrochen hätten. In diesem Zusammenhang erinnerte die Zeugin mehrere originelle Details, die für eine Erlebnisbasiertheit sprechen, so z.B., dass es mit einer gemeinsam genutzten Toilette schwierig gewesen sei und dass sie Emily beim Erbrechen zweimal die Haare gehalten habe. Dass sie sich, nachdem es ihr besserging, sodann – wie aufgrund der dementsprechenden Aussage der Zeugin festgestellt – an die Angeklagten als die für sie zuständigen Lehrkräfte wandte, erscheint der Kammer aufgrund Emilys weiterbestehender Übelkeit plausibel und lebensnah. Ebenso erachtet es die Kammer als lebensnah und einleuchtend, dass die Zeugin KR. gegenüber den Angeklagten – ebenfalls wie aufgrund der dementsprechenden Aussage der Zeugin festgestellt – nicht von einem bloßen Unwohlsein oder einer Übelkeit, sondern von einem mehrfachen Erbrechen Emilys berichtete. Dies auch vor dem Hintergrund, dass bei Emily das Erbrechen weiterging und es damit nicht nur ein (vorübergehendes und harmloses) „Unwohlsein“ gewesen war. Es ist auch plausibel, dass, wenn man schon die Angeklagten aufsuchte und sich Hilfe erhoffte, Emilys Erbrechen deutlich schilderte und nicht verharmloste. Hätte die Zeugin KR. vermeiden wollen, dass die Lehrkräfte auf sie und Emily aufmerksam würden und hinter ihrer Übelkeit einen – tatsächlich nicht, auch nicht durch Emily, erfolgten – verbotenen Konsum von Alkohol vermuten würden, hätte sie von einer Mitteilung an die Angeklagten einfach absehen können. Aufgrund ihrer Mitteilung musste die Zeugin KR. hingegen damit rechnen, dass die Angeklagten sich Emily anschauen und diese und die Zeugin zu der Ursache des Erbrechens näher befragen würden, was sie indes – wie die Zeugin glaubhaft schilderte und wie festgestellt – nicht taten.
70Die Darstellung der Zeugin KR. ist darüber hinaus auch deswegen glaubhaft, weil sie ihre Erinnerung an die Londonfahrt zunächst in Gestalt einer in sich geschlossenen Darstellung stimmig darlegen und ihre ausführliche, detailreiche und in sich schlüssige Schilderung auf Nachfrage der Kammer und der anderen Prozessbeteiligten sinnvoll und mit zahlreichen Details ergänzen konnte. Hieraus ergab sich für die Kammer ein stimmiges und uneingeschränkt glaubhaftes Gesamtbild. Ihre umfassende und detaillierte Erinnerung erklärte die Zeugin KR. damit, dass sie sich das Geschehen unmittelbar nach der Fahrt aufgeschrieben habe, da sie bereits im Jahr 2019 davon ausgegangen sei, dass ihre Schilderung wichtig werden könne. Ihr sei bereits damals klar gewesen, dass Emilys Tod vermeidbar gewesen sei und dass das Geschehen aufgeklärt werden müsse. Hinzukommt, dass die Zeugin ihr eigenes Verhalten nicht nur reflektieren und einordnen konnte, sondern auch gegenüber den Angeklagten keine überzogenen Belastungstendenzen zeigte. So räumte sie ein, sie sei damals noch sehr jung gewesen, habe sich überfordert und allein gelassen gefühlt. Sie habe Emilys Situation falsch eingeschätzt, sie habe allenfalls an eine Lebensmittelvergiftung gedacht. Die Zeugin erklärte weiter, die Lehrkräfte hätten nach Emily schauen müssen. Dabei war sie sich – nach dem Eindruck der Kammer – der Tragweite ihrer belastenden Aussage durchaus bewusst: Es gehe ihr nicht darum, einen Lehrer zu diskreditieren, sondern um die Aufklärung der Umstände um Emilys Versterben. Die Angeklagten habe sie durchaus gemocht – das sei aber von dem Geschehen auf der Londonfahrt zu trennen.
71Die glaubhaften Angaben der Zeugin KR. werden durch die glaubhafte Schilderung der Zeugin RU. bestätigt. Wie die Zeugin KR. erinnerte sich auch die Zeugin RU. ausführlich und detailliert an den ersten Abend in London, den sie zunächst in einer in sich schlüssigen und nachvollziehbaren Erzählung darlegte und auf Nachfragen sinnvoll und stimmig ergänzte. Wie der Zeugin KR. waren auch der Zeugin RU. einzelne, darunter auch originelle Details zum Zustand Emilys am Donnerstagabend im Hotel erinnerlich. So erläuterte sie, dass Emily sich zunächst einmal im Badezimmer erbrochen und später, im Bett liegend, hierfür einen Mülleimer verwendet habe. Das fügt sich stimmig in die Darstellung der Zeugin KR. ein, wonach es mit zwei sich erbrechenden Personen und nur einem Badezimmer schwierig gewesen sei. Ebenso bestätigte die Zeugin RU. die Schilderung der Zeugin KR., dass die beiden Angeklagten bereits am Donnerstagabend durch die Zeugin KR. über Emilys Erbrechen unterrichtet worden seien. Auch die Zeugin RU. vermittelte mit ihrer Schilderung glaubhaft den Eindruck, dass die Situation in dem Hotelzimmer mit zwei erkrankten Personen sehr unangenehm und belastend gewesen sei, was zur Überzeugung der Kammer plausibel macht, dass die Zeugin KR., sobald es ihr besserging, die Angeklagten hierüber informierte und sie diesen (unverschuldeten) Krankheitszustand nicht gegenüber den Lehrkräften verschwieg oder verharmloste.
72Wie bei der Zeugin KR. spricht für die Glaubhaftigkeit der Darstellung der Zeugin RU., dass sie, wie sie schilderte, die Geschehnisse auf der Londonfahrt unmittelbar danach mit eigenen Worten zusammengefasst und in einem der Polizei überlassenen Bericht niedergelegt habe. Wie die Zeugin KR. zeigte sich auch die Zeugin RU. selbstreflektiert. Sie schilderte, sie sei damals erst 14 Jahre alt gewesen und habe sich mit der Aufsicht über Emily überfordert gefühlt.
73Die glaubhaften Aussagen der Zeuginnen KR. und RU. werden – soweit es Emilys Erbrechen bereits am Donnerstagabend betrifft – durch die glaubhaften Angaben der Zeugen GY. XG., AH. YN. und OT. OI., drei Mitschülern von Emily, bestätigt. Den drei Zeugen war übereinstimmend erinnerlich, dass sich Emily bereits ab Donnerstagabend im Hotel übergeben habe, sie insoweit aber von einem Magen-Darm-Infekt o.Ä. ausgegangen seien. Der Zeuge XG. schilderte darüber hinaus – die glaubhaften Angaben der Zeuginnen KR. und RU. bestätigend –, dass den Lehrkräften bereits am Donnerstag und erneut am Freitag Emilys schlechter Zustand mitgeteilt worden sei. Sie hätten paarweise „Leute“ zu den Lehrern geschickt, um diesen Bescheid zu geben, auch wenn er die Namen der Bescheid gebenden Schüler nicht erinnerte. Die Kammer verkennt nicht, dass es sich insoweit (zumindest teilweise) um eine Aussage vom Hörensagen handelt, der Zeuge XG. also nicht bei jedem Mal selbst an der Unterrichtung der Angeklagten beteiligt war, sondern ihm von anderen Schülern hierzu nur berichtet wurde. Dennoch war der Zeuge, wie er selbst einräumte, in das Kümmern um Emily und das Benachrichtigen der Lehrkräfte eng eingebunden. Auch dies belegt zur Überzeugung der Kammer, dass Emilys Mitschüler ab dem Zeitpunkt ihres fortdauernden Erbrechens darum bemüht waren, von Seiten der Lehrkräfte, hier der für sie zuständigen Angeklagten, Hilfe zu erhalten.
74(b) Die Kammer ist auf Grundlage der glaubhaften Aussagen der Zeuginnen KR. und RU. weiter davon überzeugt, dass es im Laufe des Freitags nicht nur eine, sondern drei Meldungen betreffend Emilys Gesundheitszustand gab und sich diese – wie die Unterrichtung am Donnerstagabend – nicht auf Übelkeit/Unwohlsein beschränkten, sondern es vielmehr auch um ein andauerndes bzw. wiederholtes Erbrechen zunächst in der Nacht von Donnerstag auf Freitag und erneut beginnend am Freitagmittag ging.
75Die Zeuginnen konnten sich jeweils präzise und konkret an die Situation der Unterrichtung der Angeklagten am Freitagmorgen erinnern. So gab die Zeugin KR. anschaulich an, zunächst habe sie alleine die Angeklagten über Emilys andauernde Übelkeit und das nächtliche Erbrechen unterrichtet. Später sei sie zusammen mit der am Vorabend noch gesunden Zeugin RU., die den Angeklagten gegenüber erklärt habe, dass sie seit dem Morgen ein entzündetes Auge habe, zu den Angeklagten gegangen. Als die Zeugin RU. dabei war, erfolgte, wie diese glaubhaft schilderte, auch eine erneute Erinnerung an Emilys schlechten Zustand. In der Zusammenschau der Schilderungen der beiden Zeuginnen ist die Kammer – wie festgestellt – von zwei Ansprachen der Angeklagten am Freitagmorgen ausgegangen, zunächst um 07:30/08:00 Uhr allein durch die Zeugin KR. und anschließend um etwa 09:30/10:00 Uhr durch die Zeuginnen KR. und RU. gemeinsam. Bei der letztgenannten Mitteilung handelt es sich um diejenige, die auch die Angeklagten einräumten. Dass es am Morgen – wie festgestellt – zwei, und nicht nur eine Ansprache gab, ist vor dem Hintergrund des von den Zeuginnen geschilderten Ablaufs handlungsstimmig. Dieser plausible Geschehensablauf fügt sich zudem in das von den Zeuginnen KR. und RU. glaubhaft geschilderte Geschehen am Donnerstagabend ein: Auch am Freitagmorgen, an dem Emilys schlechter Gesundheitszustand fortdauerte, waren die Zeuginnen ernsthaft bemüht, von den Angeklagten Unterstützung und Hilfe zu erhalten, die Emily jedoch – auch am Freitag – versagt blieb. Glaubhaft war insoweit auch die Schilderung der Zeugin RU. betreffend den Freitagnachmittag, als sie mit Emily zu Starbucks ging, was dieser – wie festgestellt – auffällig schwerfiel. Auch insoweit zeichnete sich die Darstellung der Zeugin RU. durch eine differenzierte und präzise Wiedergabe ihrer Erinnerung aus, die auch viele originelle Details enthielt, aus der die Kammer ebenfalls schließt, dass die Schilderung erlebnisbasiert war. Die Schilderung, wie körperlich schwer Emily der Weg zu Starbucks fiel, fügt sich nahtlos in die Schilderung der sachverständigen Zeugin Dr. EP. ein, die darlegte und in der Hauptverhandlung eindrücklich vormachte, wie schwer vor allem das Atmen jemandem fällt, der sich in einer Ketoazidose befindet.
76Schließlich ist die Kammer überzeugt, dass es – wie festgestellt – ein drittes Mal am Freitagabend zu einer Unterrichtung der Angeklagten kam. Insoweit schilderte die Zeugin KR. handlungsstimmig, dass sie sich veranlasst gesehen habe, erneut zu den Angeklagten zu gehen, weil es Emily am Abend (noch) schlechter gegangen sei. Auch diese Schilderung ist für die Kammer plausibel und stimmig. Sie bestätigt das bisherige Handeln der Zeugin KR., die sich aus Sorge um Emily wiederholt hilfesuchend an die untätig bleibenden Angeklagten wandte. Auch im Kontext der Meldung am Freitagabend waren der Zeugin KR. besondere Details erinnerlich, wie z.B., dass von Seiten der Lehrer lediglich der Vorschlag gekommen sei, Cola und Salzstangen zu besorgen. Das Detail, dass Emily am Freitagabend Cola und Salzstangen zu sich genommen hatte, erinnerten anschaulich auch die Zeugen RU. und XG.. Dem Zeugen QP. war darüber hinaus – die Angaben der Zeugin KR. bestätigend – konkret erinnerlich, dass den Angeklagten jedenfalls am Freitag nach dem Tagesausflug u.a. durch die Zeugin KR. berichtet worden sei, dass Emily sich mehrfach erbrochen habe. Dies konnte er aus eigener Wahrnehmung bekunden, da er bei der Mitteilung der Zeugin KR. am Freitag nach dem Tagesausflug dabei gewesen sei.
77(c) Soweit die Angeklagten sich lediglich an eine Unterrichtung am Freitagmorgen, etwa gegen 09:00/09:30 Uhr erinnerten und weitere Meldungen betreffend Emilys Gesundheitszustand durch Mitschüler in Abrede stellten, geht die Kammer von Erinnerungslücken und nicht von (bewussten) Lügen aus. Für Erinnerungslücken sprechen aus Sicht der Kammer die folgenden Umstände:
78Die Angeklagten waren auf der klassen- und jahrgangsübergreifenden Schulfahrt als zwei von vier Lehrkräften für über 70 Schüler verantwortlich. Während des Aufenthalts kam es zu Zwischenfällen, denen sie keine hinreichende Aufmerksamkeit schenkten und die sie im Zeitpunkt der Hauptverhandlung nicht zu erinnern schienen. So konsumierten einige der jüngeren Schüler, u.a. die damals 15jährigen Zeugen YN. und XG., so offenkundig Alkohol, dass es den Angeklagten, wie die Zeugen selbst einräumten, hätte bereits aufgrund des Geruchs auffallen müssen. Tatsächlich seien die Angeklagten nicht eingeschritten, sondern hätten sich mit einer offensichtlichen Ausrede („Es handelt sich um Eistee“) zufriedengegeben. Auch entging es den Angeklagten, dass die Zeugen YN. und XG. den Donnerstagabend in Emilys Zimmer waren und sodann in der Nacht von Donnerstag auf Freitag in Emilys Hotelzimmer übernachteten, wie die Zeugin KR. glaubhaft schilderte. Dass die Zeugen YN. und XG. die Nacht nicht in ihrem eigenen Hotelzimmer verbracht hatten, bestätigte zudem der Zeuge QP., der sich mit diesen ein Zimmer teilte und die beiden Zeugen erst am Freitagmorgen dort wieder antraf. Hieraus schließt die Kammer, dass es Zimmerkontrollen – entgegen der (vermeintlichen) Erinnerung der Angeklagten – jedenfalls bei Emily am Donnerstagabend nicht gab, weil andernfalls die Anwesenheit der beiden Zeugen aufgefallen wäre.
79Hinzukommt, dass sich die Angeklagten nicht mehr erinnern konnten oder wollten, dass es bereits im Rahmen des gemeinsamen Frühstücks am Samstagmorgen, den 29.06.2019, (und nicht erst später in Emilys Hotelzimmer) zu einem sehr auffälligen Verhalten Emilys gekommen war, von dem ihnen seitens der Schüler berichtet worden war. Die Zeuginnen KR. und RU. legten in der Hauptverhandlung differenziert und stimmig dar, dass Emily am Samstagmorgen nicht richtig ansprechbar gewesen sei, schläfrig und lethargisch gewirkt habe. Nur mit ihrer Unterstützung sei es Emily gelungen, in den Frühstücksraum zu gelangen. Dort habe sie versucht zu frühstücken, habe sich jedoch unmittelbar in eine Spucktüte erbrochen und sodann dazu angesetzt, ihr Erbrochenes zu trinken. Auf Ansprache habe Emily nur noch mit Zahlen reagiert, wobei sich die Zeugin RU. konkret an die Zahl „75“ erinnerte. Dieses außergewöhnliche Verhalten Emilys war auch den Zeugen YN. und OI. dem Grunde nach erinnerlich. Dass die Zeugin KR., wie sie und die Zeugin RU. übereinstimmend und präzise schilderten, die Angeklagten hierauf explizit hinwiesen, erscheint vor dem Hintergrund des von den Zeuginnen glaubhaft beschriebenen Verhaltens am Donnerstag und Freitag (wiederholte Ansprachen) plausibel und lebensnah. Es ist für die Kammer weder vorstellbar, dass die vorbenannten Zeugen einen solchen Sachverhalt übereinstimmend konstruierten noch, dass sie die anwesenden Lehrkräfte über diesen – zur Überzeugung der Kammer festgestellten – außergewöhnlichen Sachverhalt im Unklaren ließen. Dass sich die Zeuginnen KR. und RU. wegen der Untätigkeit der Lehrkräfte spätestens am Samstagmorgen nachvollziehbar überfordert fühlten, wie sie glaubhaft einräumten, wird durch eine in der Hauptverhandlung in Augenschein genommene WhatsApp-Sprachnachricht, die die Zeugin KR. am Samstagmorgen gegen 09:35 Uhr an ihre Mutter schickte, anschaulich belegt. In dieser heißt es sinngemäß, dass Emily kaum noch ansprechbar sei, sie, die Zeuginnen, Angst hätten, dass Emily bewusstlos werde, und die Lehrer sich – trotz Hinweises auf ihre Aufsichtspflicht – nicht kümmern würden.
80Auch das Geschehen in Emilys Hotelzimmer gab jedenfalls die Angeklagte P. lückenhaft wieder. So schilderte sie, sie könne sich nur an Emily und die Zeuginnen KR. und RU. in Emilys Hotelzimmer erinnern, als sie das Zimmer nach dem Frühstück aufgesucht und Emilys kritischen Zustand erstmals mit eigenen Augen wahrgenommen habe. Zur Überzeugung der Kammer steht aufgrund der glaubhaften Angaben der Zeugen KR. und YN. indes fest, dass sich auch der Zeuge YN. im Zimmer befand, als die Angeklagte P. eintraf. Grund für die Anwesenheit des Zeugen YN. war, wie die Zeugin KR. anschaulich darlegte, der folgende: Nachdem sie ihrer Mutter die vorerwähnte Sprachnachricht geschickt habe, habe ihre Mutter die Zeugin Y. verständigt, die auf Emilys Telefon angerufen habe. Diese habe sie, die Zeuginnen KR. und RU., gebeten, Emilys Blutzucker zu messen. Da sie sich die Messung nicht zugetraut hätten, hätten sie den Zeugen YN. hinzugerufen, der hierzu – aufgrund seiner Tätigkeit bei der Jugendfeuerwehr – in der Lage zu sein schien. Eine Messung durch den Zeugen YN. sei jedoch gescheitert, da nicht genug Blut aus der Fingerkuppe von Emily gekommen sei. In dem Moment der Messung sei die Angeklagte P. aufgetaucht und habe sie des Zimmers verwiesen. Die auf telefonische Veranlassung von Emilys Mutter unternommene, aber fehlgeschlagene Blutzuckermessung sowie das Eintreffen der Angeklagten P. schilderte übereinstimmend so auch der Zeuge YN..
81In der Gesamtschau misst die Kammer damit der Einlassung der Angeklagten, jedenfalls soweit es das Geschehen in London betrifft, – wie dargelegt – weniger Gewicht bei, weil ihre Erinnerung – anders als vor allem die der Zeuginnen KR. und RU. – von Erinnerungslücken geprägt war. Dass sich hingegen die genannten Zeuginnen an das Geschehen in London so gut erinnern konnten, erscheint der Kammer insgesamt auch vor dem Hintergrund glaubhaft, dass die Situation seit bereits Donnerstagabend für sie jedenfalls ungewöhnlich bzw. zum Schluss erheblich beängstigend war, weshalb sie sich so genau erinnerten, während sich die Angeklagten auch um andere Schülerinnen und Schüler und um das Programm in London kümmerten.
82cc. Die Feststellungen zur Kausalität, namentlich zu der Kenntniserlangung bei Durchführung einer verbindlichen schriftlichen Abfrage von gesundheitlichen Besonderheiten (hierzu unter (1)) und zu dem Alternativverhalten der Angeklagten bei Kenntnis von Emilys Diabeteserkrankung (hierzu unter (2)), beruhen zur Überzeugung der Kammer auf den nachfolgenden Erwägungen.
83(1) Wäre eine verbindliche schriftliche Abfrage zu Vorerkrankungen, chronischen Erkrankungen, gesundheitlichen Besonderheiten und einer ggf. erforderlichen Medikation im Vorfeld der Londonfahrt – insbesondere unter Hinweis auf den Umstand, dass die Angeklagten und die gesondert Verfolgten DO. und WK. als begleitendes Lehrpersonal nicht alle der teilnehmenden Schüler kannten, so auch Emily nicht – erfolgt, so hätte die Zeugin Y. Emilys Diabeteserkrankung angegeben und höchstwahrscheinlich sogar weitere, für das Lehrpersonal relevante Angaben zum erforderlichen Diabetesmanagement (regelmäßige Blutzuckermessungen, Insulingabe über Insulinpumpe, Warnzeichen für Über- und Unterzuckerung) gemacht.
84Hiervon geht die Kammer vor dem Hintergrund des vorstehend bereits festgestellten offenen und proaktiv-informativen Umgangs der Familie Y. mit Emilys Diabeteserkrankung aus: Die Zeugin Y. gab im Rahmen der Anmeldung von Emily an der ZK.-Gesamtschule nicht nur die Diabeteserkrankung als solche an, sondern instruierte auch die erste Klassenlehrerin ausführlich über das erforderliche Diabetesmanagement und Warnzeichen einer Stoffwechselentgleisung (siehe hierzu bereits oben die Aussage der Zeugin IQ.). Auch im weiteren Verlauf des Schulbesuchs war die Zeugin Y. gegenüber Nachfragen des Lehr- und Schulpersonals offen, wie der Zeuge KJ. glaubhaft darlegte (siehe bereits oben). Schließlich schilderte die Zeugin Y. selbst, wie aus dem in der Hauptverhandlung verlesenen Protokoll ihrer polizeilichen Vernehmung vom 06.09.2019 hervorgeht, dass sie bei Freizeit- und Klassenfahrten das Betreuungspersonal grundsätzlich über Emilys Diabeteserkrankung informierte, hier aber deshalb davon abgesehen hatte, weil sie davon ausging, dass es genügt habe, Emilys Diabeteserkrankung zur Schulakte mitzuteilen.
85Dass eine unaufgeforderte Unterrichtung der Schule durch die Zeugin Y. in Bezug auf die Londonfahrt unterblieb, steht hierzu für die Kammer nicht in Widerspruch. Denn nach dem Verständnis der Kammer ging die Zeugin Y. davon aus, dass angesichts der schriftlichen Abfrage nur des Einverständnisses betreffend die Teilnahme an der Londonfahrt bei gleichzeitig fehlender schriftlicher Abfrage von gesundheitlichen Besonderheiten kein Informationsdefizit auf Seiten der Schule – hier konkret der Angeklagten – bestand und dass daher ein Tätigwerden ihrerseits durch Information der Lehrkräfte über Emilys Diabeteserkrankung nicht erforderlich war. Daran, dass sie bei einer verbindlichen schriftlichen Abfrage zu Erkrankungen und zu einer notwendigen Medikation wahrheitsgemäße und vollständige Angaben zu Emilys Diabeteserkrankung gemacht hätte, hat die Kammer vor diesem Hintergrund keinen Zweifel. Denn durch eine schriftliche Abfrage wäre ihr die Wichtigkeit der Angabe von Emilys Diabeteserkrankung bewusst geworden, und es ist nach allem nicht ersichtlich, dass sie die schriftliche korrekte und vollständige Mitteilung daraufhin unterlassen hätte. Bei dieser Würdigung ist sich die Kammer des geminderten Beweiswertes der verlesenen Aussage der Zeugin Y. bewusst und stützt sich nicht allein auf diese. Die sehr ausführlichen, stimmigen und konkreten Angaben der Zeugin Y. bestätigen vielmehr ein bereits auf Grundlage der glaubhaften Aussagen der Zeugen Dr. EP., IQ., KJ. und MT. gewonnenes Gesamtbild betreffend den offenen und Dritte einbeziehenden Umgang der Zeugin Y. mit Emilys Diabeteserkrankung, insbesondere auch im schulischen Kontext.
86(2) Dass die Angeklagten bei Kenntnis von Emilys Diabeteserkrankung – wie festgestellt – die wiederholten Mitteilungen der Zeuginnen KR. und RU. ernst genommen, Emily aufgesucht und infolgedessen bereits am Freitagmorgen (28.06.2019), reagiert und dann nicht nur einen Rettungswagen bzw. ärztliche Hilfe hinzugezogen, sondern auch die Zeugin Y. verständigt hätten, steht zur Überzeugung der Kammer aufgrund ihrer geständigen Einlassungen fest.
87Für die Glaubhaftigkeit ihrer Einlassungen spricht aus Sicht der Kammer, wie die beiden Angeklagten nach Erkennen der Notlage Emilys am Samstagmorgen, als sie diese erstmals aufsuchten und Emilys nun äußerst schlechten Gesundheitszustand wahrnahmen, reagiert haben. Sie haben unmittelbar den Rettungsdienst gerufen und nach dessen Eintreffen gemeinsam mit der telefonisch verständigten Zeugin Y. versucht, die Ursache für Emilys kritischen Zustand zu ermitteln.
88Auch der persönliche Eindruck von beiden Angeklagten in der Hauptverhandlung, als sie sich zur Sache einließen, spricht zur Überzeugung der Kammer dafür, dass sie sich bereits bei der von ihnen eingeräumten Benachrichtigung am Freitagmorgen um Emily gekümmert und aus Vorsorgegesichtspunkten einen Arzt hinzugezogen hätten, wäre ihnen Emilys Diabetes bekannt gewesen.
89Im Hinblick auf die Angeklagte P. kommt hinzu, dass sie sich bereits im Schuljahr 2018/2019 äußerst gewissenhaft um eine Schülerin mit Diabetes gekümmert hatte. Dies berichtete die Mutter dieser ehemaligen Schülerin, die Zeugin WD. LW.: Sie, die Zeugin, habe die Angeklagte P. über die Diabeteserkrankung ihrer Tochter informiert und eine Notfallbox in der Klasse belassen. Sobald es ihrer Tochter nicht gut gegangen sei, habe sich die Angeklagte P. „bei jeder Kleinigkeit“ bei ihr gemeldet. Teilweise habe sie dies sogar als übervorsichtig empfunden. Dies lässt aus Sicht der Kammer jedenfalls den Rückschluss zu, dass die Angeklagte P. bei Kenntnis von Emilys Diabeteserkrankung genauso achtsam und fürsorglich mit dieser umgegangen wäre, wie sie es mit der Tochter der Zeugin LW. getan hat.
90dd. Die Feststellungen zu Emilys Stoffwechselschwankungen im Vorfeld der Londonfahrt, zu den Blutzuckermessungen und Insulingaben während der Londonfahrt, zum Verlauf der bei Emily ab Donnerstagabend einsetzenden Stoffwechselentgleisung und zum Zeitpunkt einer noch möglichen Rettung Emilys stehen zur Überzeugung der Kammer aufgrund der schlüssigen, widerspruchsfreien und überzeugenden Ausführungen der medizinischen Sachverständigen Dr. GB. ER., Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderendokrinologie und -diabetologie, Diabetologie, Allergologie am Kinderkrankenhaus der Kliniken der Stadt AU. fest. Ihren Feststellungen schließt sich die Kammer in eigener Würdigung an.
91Die Sachverständige Dr. ER. hat neben den deutschen und englischen Behandlungs- und Krankenunterlagen betreffend Emily Y. auch das Ergebnis der Auslesung von Emilys Insulinpumpe ausgewertet. Damit ließen sich Emilys Blutzuckerwerte und die verabreichten Insulindosen vor und während der Fahrt wie festgestellt rekonstruieren. Zu dem Ausleseergebnis legte die Sachverständige nachvollziehbar dar, dass die von der Insulinpumpe gespeicherten Blutzuckerwerte in den Tagen vor der Fahrt Entgleisungen nach oben (Überzuckerung) und nach unten (Unterzuckerung) gezeigt hätten. Teilweise habe bei Emily eine deutliche Überzuckerung mit Werten über 500 mg/dl vorgelegen. Dies sei mit der Aufregung vor der Fahrt oder auch hormonellen Schwankungen erklärbar. Emily habe die Stoffwechselentgleisungen durch ein korrigierendes Diabetesmanagement aber jeweils wieder „in den Griff bekommen“. Während der Londonfahrt gebe es nur sehr wenige dokumentierte Blutzuckermessungen. Die zuletzt erfassten Werte am Freitag (28.06.2019) seien mit Werten von unter 200 mg/dl – angesichts der zu diesem Zeitpunkt bereits schweren Ketoazidose (hierzu sogleich) – deutlich zu niedrig, was den Rückschluss auf eine manuelle und nach unten korrigierende Eingabe zulasse.
92Zu der Entwicklung der bei Emily letal verlaufenden Stoffwechselentgleisung (diabetische Ketoazidose) führte die Sachverständige schlüssig und überzeugend aus, dass aufgrund der bei Krankenhauseinlieferung am Samstagvormittag (29.06.2019) gemessenen Werte (Blutzucker- und Ketonwerte, pH-Wert und Kreislaufwerte) sich Emily im Zustand einer schwersten diabetischen Ketoazidose befunden habe. Die extreme Normabweichung der Werte lasse den Rückschluss zu, dass die Ketoazidose bereits ab Donnerstagabend (27.06.2019) begonnen und sich am Folgetag weiter manifestiert habe. Bei der diabetischen Ketoazidose handele es sich um eine Stoffwechselübersäuerung (Azidose) durch die vermehrte Bildung von Ketonkörpern im Blut. Werde die Ketoazidose nicht rechtzeitig (intensiv-)medizinisch behandelt, ließen sich die hierdurch einmal in Gang gesetzten schädlichen Stoffwechselprozesse ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr aufhalten, so dass es ab dann zu einer unumkehrbaren und letztlich tödlichen Schädigung des Organismus komme. Zur Veranschaulichung griff die Sachverständige hierzu das von der sachverständigen Zeugin Dr. EP. zuvor verwendete Bild eines Strudels und der hierdurch entstehenden Sogwirkung auf, der man sich ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr entziehen könne: Die Ketoazidose entwickele sich am Anfang langsam und zeige nur wenige Auswirkungen, verstärke sich mit der Zeit aber immer deutlicher und löse verschiedene, den Organismus schädigende Stoffwechselprozesse aus, die sich ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr umkehren oder behandeln ließen. Dann befinde man sich im Inneren des „Strudels“ mit einer unaufhaltbaren Sogwirkung.
93Bei Emily habe sich die diabetische Ketoazidose erstmals am Donnerstagabend (27.06.2019) mit der Übelkeit und dem Erbrechen gezeigt, welches bei ihr – anders als bei der Zeugin KR. – nicht nach wenigen Malen aufgehört, sondern sich über die Nacht und am nächsten Tag (28.06.2019) fortgesetzt habe. Das Erbrechen und die Bauchschmerzen seien durch die hohen Ketonwerte im Blut hervorgerufen worden. Zu einem Anstieg der Ketonwerte sei es infolge eines Insulinmangels gekommen. Das Erbrechen sei nicht nur symptomatisch gewesen, sondern habe seinerseits zu einem Flüssigkeitsverlust mit einer konsekutiven Entgleisung des Salzes Kalium (Hyperkaliämie) geführt, was wiederum die Nierenfunktion eingeschränkt habe. Die Hyperkaliämie habe bei Emily eine Herzrhythmusstörung bedingt. Zeitgleich hätten die im Blut erhöhten Ketone und die durch den Insulinmangel freigesetzten Stresshormone (kontrainsulinäre Hormone) die empfindlichen Herzzellen angegriffen. Diese mehrfach schädlichen Einwirkungen auf Emilys Herz hätten schließlich zu einem letalen Myokardinfarkt geführt. Dass die häufiger auftretende Folge einer schwersten diabetischen Ketoazidose ein (letales) Hirnödem sei, stehe ihrer vorstehenden Schlussfolgerung nicht entgegen. Denn in der medizinischen Fachliteratur sei ein Myokardinfarkt als seltene Komplikation einer schwersten Ketoazidose durchaus schon vorgekommen. Die Annahme eines durch eine schwerste Ketoazidose ausgelösten Herzinfarkts werde zudem durch die im Rahmen der Obduktion gefundenen Entzündungsprozesse an Emilys Herz bestätigt. Diese seien – wie sich den englischen Obduktionsunterlagen entnehmen lasse – eindeutig nicht auf eine Infektion (z.B. durch cardiotrope Viren) zurückzuführen, sondern auf die durch die Ketoazidose ausgelösten schädigenden Prozesse in Emilys Körper.
94Die Sachverständige erläuterte überzeugend, Emily habe bereits am Donnerstagabend und noch deutlicher am Freitag die massiven Auswirkungen der Ketoazidose gespürt, was sich auch den Schilderungen der Zeugin RU. entnehmen lasse. Der Fußweg am Nachmittag sei ihr sichtlich schwergefallen, sie sei müde und erheblich geschwächt gewesen. Es sei zudem davon auszugehen, dass es bereits am Freitag (28.06.2019) zu einer Einschränkung des Denkens und der eigenen Handlungsfähigkeit gekommen sei, wodurch Emily das erforderliche Diabetesmanagement nicht mehr adäquat habe ausführen können. Ab Donnerstagabend und noch deutlicher am Freitag habe Emily „um ihr Leben gekämpft“. Anhaltspunkte dafür, dass Emily bereits am Mittwoch oder Donnerstag ihre Insulinpumpe abgenommen habe, bestünden nicht. Vielmehr sei – anhand des Ausleseergebnisses der Insulinpumpe – erkennbar, dass am Donnerstag jedenfalls noch das Basalinsulin geflossen sei. Ob und ggf. wann Emily ihre Pumpe danach abgenommen habe, könne sie nicht feststellen.
95Die Sachverständige führte schließlich aus, Emily hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bis Freitagabend/-nacht (28.06.2019) gerettet werden können, wenn bis zu diesem Zeitpunkt eine stationäre Krankenhausbehandlung erfolgt wäre. Dies auch vor dem Hintergrund, dass Rettungspersonal als eine Sofortmaßnahme auch den Blutzucker messe – wie am Samstag auch aus eigener Veranlassung des Rettungspersonals erfolgt – und die viel zu hohen Werte dann aufgefallen wären. Ob eine Rettung auch am frühen Samstagmorgen (29.06.2019) noch möglich gewesen wäre, lasse sich nicht feststellen. Die Behandlungshistorie zeige, dass die Insulintherapie bei Emily zunächst angeschlagen habe, jedoch wegen einer jedenfalls am Samstagvormittag bereits eingesetzten unumkehrbaren Schädigung des Herzens letztendlich nicht mehr erfolgreich gewesen sei. Andere Ursachen für Emilys Versterben schloss die Sachverständige – auch unter Berücksichtigung der von der sachverständigen Zeugin Dr. EP. geschilderten weiteren Vorerkrankungen Emilys (Schilddrüsenerkrankung (Hashimoto-Erkrankung), angeborenes kleines Loch in der Herzscheidewand (foramen ovale), operativ entfernter, kleiner gutartiger Tumor am Bein) – aus. Auch konnte sie aufgrund der Krankenunterlagen aus London keinerlei Fehler der dortigen behandelnden Ärzte feststellen.
96Den vorstehenden überzeugenden, schlüssigen und widerspruchsfreien Feststellungen der medizinischen Sachverständigen, an deren Sachkunde kein Zweifel besteht, schließt sich die Kammer in eigener Würdigung an. Sie sind plausibel und lassen sich mit den Angaben der sachverständigen Zeugin, Dr. EP., in Einklang bringen.
97IV.
98Der Verurteilung liegt folgende rechtliche Würdigung zugrunde:
99Die Angeklagten sind bereits nach ihrer geständigen Einlassung der (unbewusst) fahrlässigen Tötung durch Unterlassen gemäß §§ 222,13 StGB schuldig, indem sie bis zum Zeitpunkt der Abfahrt nach London, als die Zeugin Y. Emily in die Obhut der beiden Angeklagten übergab, mangels schriftlicher Abfrage über Vorerkrankungen und mangels Einsichtnahme in die Schulakte nicht über Emilys aktuelle Gesundheitsdaten verfügten, wodurch sie vor Ort in London nicht in der Lage waren, die Lebensgefährlichkeit von Emilys Zustand bei den erfolgten Mitteilungen richtig einzuschätzen und hierauf rechtzeitig zu reagieren.
1001. Das deutsche Strafrecht ist auf den vorliegenden Sachverhalt nach §§ 3, 9 Abs. 1 StGB anwendbar.
101Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine Inlandstat im Sinne der §§ 3, 9 Abs. 1 StGB nicht allein tatbestandsbezogen zu verstehen, sondern umfasst regelmäßig die im Rahmen desselben Lebensvorgangs verwirklichten Delikte und führt auch für diese zur Anwendung deutschen Strafrechts (BGH, Urteil vom 24.11.2022, Az. 3 StR 64/22, Rn. 22 zitiert nach juris). Nach § 9 Abs. 1 StGB ist eine Tat an jedem Ort begangen, an dem der Täter gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen oder an dem der zum Tatbestand gehörende Erfolg eingetreten ist oder nach der Vorstellung des Täters eintreten sollte. Wird eine Tat wenigstens teilweise in der Bundesrepublik Deutschland begangen (§ 9 Abs. 1 StGB), reicht dies aus, um sie zu einer Inlandstat zu machen (vgl. BGH, Beschluss vom 13.05.1986, Az. 5 StR 143/86, Rn. 3 zitiert nach juris; Urteil vom 10.02.2016, Az. 2 StR 413/15, Rn. 11 zitiert nach juris).
102Nach dieser Maßgabe haben die Angeklagten die fahrlässige Tötung durch Unterlassen jedenfalls teilweise im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland begangen, was ausreicht, um sie zu einer Inlandstat zu machen, auch wenn der tatbestandliche Erfolg erst im Ausland eingetreten ist (vgl. Eser/Weißer, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, StGB § 3 Rn. 4 m.w.N.). Die beiden Angeklagten haben es bis zum Zeitpunkt der Abfahrt in Mönchengladbach am Mittwochabend (26.06.2019), als sie sich noch im Geltungsbereich des deutschen Strafgesetzbuchs befanden, unterlassen, sich über Emilys Gesundheitszustand zu informieren; sei es durch schriftliche Abfrage der Gesundheitsdaten vor, auf oder nach der Informationsveranstaltung am 09.05.2019 oder zumindest durch Einsichtnahme in die Schulakte der Geschädigten Emily Y..
1032. Der Erfolg des § 222 StGB, der Tod eines Menschen, ist eingetreten. Emily ist am 30.06.2019 in London verstorben.
1043. Die beiden Angeklagten haben gegen ihre Sorgfaltspflichten verstoßen und damit objektiv pflichtwidrig gehandelt, indem sie es unterlassen haben, Emilys Gesundheitsdaten spätestens bei der Abfahrt in Mönchengladbach durch schriftliche Abfrage oder Einsicht in die Schulakte in Erfahrung gebracht zu haben.
105a. Die beiden Angeklagten hatten als Lehrerinnen eine Garantenstellung i.S.d. § 13 Abs. 1 StGB gegenüber ihrer Schülerin Emily, wie ihnen bekannt war.
106aa. Sie waren durch die tatsächliche Übernahme der Verantwortlichkeit für ihre Schülerin Emily Y. mit der Abfahrt in Mönchengladbach, als ihre Mutter, die Zeugin Y., bzw. der Zeuge MT. sie in die Obhut der Angeklagten übergaben, als Lehrerinnen Beschützergaranten gegenüber Emily (vgl. Bosch, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, StGB § 13 Rn. 10).
107bb. Die Angeklagten hatten außerdem mit Beginn der Schulfahrt durch Abfahrt in Mönchengladbach aufgrund ihrer Stellung als Amtsträgerinnen eine Garantenstellung im Hinblick auf ihre Schülerin Emily (vgl. Gaede, in: NK-StGB, 6. Aufl. 2023, StGB § 13 Rn. 62; Bosch, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, StGB § 13 Rn. 31a). Jedem Lehrer obliegt die Amtspflicht, die ihm anvertrauten Schülerinnen und Schüler im Schulbetrieb vor gesundheitlichen Schäden zu bewahren. Er ist verpflichtet, die Gefahren so niedrig wie den Umständen nach möglich und geboten zu halten. Er muss die entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen ergreifen und gegebenenfalls, wenn sich ausreichende Vorkehrungen nicht treffen lassen, von einer gefährlichen Maßnahme Abstand nehmen (BGH, Urteil vom 04.04.2019, Az. III ZR 35/18, Rn. 21 zitiert nach juris m.w.N.; BGH, Urteil vom 08.07.1957, Az. III ZR 49/56, zitiert nach juris, OLG Köln, Urteil vom 29.10.1985, Az. Ss 301/85, Rn. 14 zitiert nach juris).
108Während der Zeit, in der Schülerinnen und Schüler am Schulunterricht oder an einer anderen Schulveranstaltung teilnehmen, muss die Schule bzw. die die Aufsicht führenden Lehrerinnen und Lehrer sie beaufsichtigen. Diese Aufsichtspflicht folgt aus dem öffentlich-rechtlichen Schulverhältnis (vgl. § 42 SchulG NRW) und den allgemeinen Aufgaben der Schule sowie aus § 57 Abs. 1 SchulG NRW, wonach die Lehrkräfte die Schüler u. a. beaufsichtigen und betreuen (vgl. auch Ziffer 1 der Verwaltungsvorschriften zu § 57 Abs. 1 SchulG - Aufsicht - vom 18.07.2005, ABl. NRW. S. 289). Die Aufsichtspflicht der Schule tritt dabei neben die aus §§ 1626 Abs. 1 S. 2, 1631 Abs. 1 BGB folgende Personensorge und Aufsichtspflicht der Eltern, die im Falle einer Teilnahme ihres Kindes am Schulunterricht oder an einer Schulveranstaltung an der Ausübung dieser höchstpersönlichen Pflicht jedoch faktisch gehindert sind. Grund und allgemeiner Inhalt der schulischen Aufsichtspflicht ist u. a., dass die Schule die Schülerinnen und Schüler, die die Eltern ihr anvertrauen und in Erfüllung der Schulpflicht anvertrauen müssen, vor Schaden zu schützen hat. Eltern dürfen darauf vertrauen und müssen sich darauf verlassen können, dass ihr Kind in der Schule und auf Schulfahrten keinen Schaden erleidet. Inhalt und Grenzen der schulischen Aufsichtspflicht knüpfen danach an die Teilnahme der Schülerinnen und Schüler am Unterricht und an sonstigen Schulveranstaltungen (wie Klassen-, Schul- oder Studienfahrten) an. Soweit wie diese sich in zeitlicher und räumlicher Hinsicht erstrecken, reicht grundsätzlich die Aufsichtspflicht der Schule bzw. konkret der die Aufsicht führenden Lehrerinnen und Lehrer (zum Ganzen: Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.04.2010, Az. 19 A 993/07, Rn. 29 zitiert nach juris). Diese Grundsätze gelten auch für Klassenfahrten oder – wie hier – den damit vergleichbaren klassen- und jahrgangsübergreifenden Schulfahrten, die zu den sonstigen Schulveranstaltungen im Sinne des § 43 Abs. 1 S. 1 SchulG NRW zählen. Die Schule bzw. konkret der einzelne Lehrer oder die einzelne Lehrerin, der oder die die Aufsicht übernommen hat, muss während der gesamten Dauer einer Klassenfahrt oder – wie hier – Schulfahrt alle daran teilnehmenden Schüler beaufsichtigen, vgl. § 57 Abs. 1 SchulG NRW (Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.04.2010, Az. 19 A 993/07, Rn. 33 zitiert nach juris).
109Im Falle der Erkrankung eines Schülers bzw. einer Schülerin während des Unterrichts, während einer sonstigen Schulveranstaltung am Schulort oder während einer Klassen- bzw. Schulfahrt besteht die Aufsichtspflicht der Schule bzw. der konkret aufsichtsführenden Lehrer solange fort, bis der erkrankte Schüler/die erkrankte Schülerin gefahrlos in die Obhut seiner Eltern (nach Hause) gelangt ist. Die Schule bzw. konkret die Aufsicht führenden Lehrerinnen und Lehrer muss eine erkrankte Schülerin oder einen erkrankten Schüler, um sie oder ihn aufsichtspflichtgemäß vor Schaden zu bewahren, auch auswärts demnach so lange beaufsichtigen, bis die Eltern die Aufsicht selbst übernehmen. Dies ist die Folge davon, dass die Schülerin oder der Schüler sich als Teilnehmer der Klassenfahrt an dem Ort aufhält, an dem er krankheitsbedingt an der Schulveranstaltung nicht weiter teilnehmen kann (Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.04.2010, Az. 19 A 993/07, Rn. 31, 35 zitiert nach juris).
110cc. Bei reinen Erfolgsdelikten, bei denen es auf spezifische Begehungsweisen nicht ankommt, sondern allein auf die Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolgs, entfällt eine Gleichwertigkeitsprüfung nach § 13 Abs. 1 StGB. Hier entspricht bereits die mögliche Nichtabwendung des Erfolgs seitens des Garanten dem Tun (BGH, Urteil vom 04.08.2015, Az. 1 StR 624/14, Rn. 39 zitiert nach juris; Fischer, StGB, 71. Aufl. 2024, Rn. 86; Bosch, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, StGB § 13 Rn. 4).
111b. Die Angeklagten haben nicht sorgfaltsgemäß, sondern (unbewusst) fahrlässig gehandelt. Sie hätten jedenfalls bei Abfahrt in Mönchengladbach, als sie die Verantwortung für Emily von deren Mutter, der Zeugin Y., übernahmen und ab diesem Zeitpunkt Emilys Beschützergaranten waren, durch schriftliche Abfrage von Erkrankungen oder zumindest Einsichtnahme in die Schulakte sicherstellen müssen, dass sie zuverlässig über die Gesundheitsdaten aller mitfahrenden Schülerinnen und Schüler, konkret Emily Y., verfügt hätten.
112Unbewusst fahrlässig handelt, wer die Sorgfalt, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen verpflichtet und imstande ist, außer Acht lässt und infolge dessen die Tatbestandsverwirklichung nicht voraussieht
113(Bayerisches Oberstes Landesgericht, Urteil vom 25.09.2001, Az. 4St RR 71/2001, Rn. 25 zitiert nach juris; Bülte, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl. 2024, § 15 StGB, Rn. 209 m.w.N.; Heger, in: Lackner/Kühl, 30. Aufl. 2023, StGB § 15 Rn. 35).
114aa. Die objektive Sorgfaltspflicht verletzt, wer diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, zu der er nach den jeweiligen Umständen verpflichtet ist. Dies bemisst sich nach dem jeweils geschützten Rechtsgut der Norm. Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt bestimmen sich nach den Anforderungen, die bei objektiver Betrachtung der Gefahrenlage ex ante an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Situation und seiner sozialen Rolle zu stellen sind (BGH, Urteile vom 19.04.2000, Az. 3 StR 442/99, Rn. 37 zitiert nach juris, und vom 14.03.2003, Az. 2 StR 239/02, Rn. 18 zitiert nach juris; Heger, in: Lackner/Kühl, 30. Aufl. 2023, StGB § 15 Rn. 37 m.w.N.). Maßgeblich ist demnach, wie sich ein umsichtiger und erfahrener Lehrer einer Gesamtschule in gleicher Situation wie die Angeklagten verhalten hätte.
115Als Anknüpfungspunkt für eine Sorgfaltspflichtverletzung kann dabei jedes Verhalten herangezogen werden, das zu einer objektiv zurechenbaren Tatbestandsverwirklichung führt (OLG Hamm, Beschluss vom 12.01.2016, Az. III-3 RVs 91/15, Rn. 23 zitiert nach juris). Es kommt gerade nicht auf eine Sorgfaltspflichtverletzung im Zeitpunkt des Erfolgsantritts an (vgl. § 8 S. 2 StGB). Unter Berücksichtigung eines sog. Vorverschuldens kann es zu einer weitgehenden Vorverlagerung kommen, wenn der Täter in der konkreten Situation nicht imstande ist, den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges zu erkennen und zu vermeiden (OLG Hamm, a.a.O.; Bülte, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl. 2020, § 15 StGB, Rn. 57 m.w.N.), weil – wie hier – die notwendigen Informationen aufgrund einer vorausgehenden Pflichtverletzung nicht vorlagen.
116(1) Dieser allgemeine Sorgfaltsmaßstab lässt sich in Bezug auf die Aufsichtspflicht von Lehrkräften, insbesondere hinsichtlich der Vorbereitung und Durchführung von Klassen- und Schulfahrten, durch die geltenden gesetzlichen Bestimmungen und die höchstrichterliche und obergerichtliche Rechtsprechung weiter konkretisieren.
117Aus § 42 Abs. 1 SchulG NRW ergibt sich für die Eltern eines chronisch erkrankten Kindes die Verpflichtung, die Schule über diese chronische Erkrankung umfassend zu informieren, soweit dies für den Ablauf des Schulalltags relevant ist (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21.06.2023, Az. III-4 Ws 73/23, Rn. 21 zitiert nach juris). Dies ist bei Emilys Aufnahme in der Schule erfolgt und in ihrer Schulakte entsprechend vermerkt sowie den unterrichtenden Lehrern nebst Handlungsanweisungen mitgeteilt worden. Die Weitergabe dieser Informationen an andere Lehrer hat nur dann zu erfolgen, wenn die Eltern des Kindes zuvor ausdrücklich eingewilligt haben oder wenn die Information für die weiteren Lehrkräfte zwingend erforderlich ist, um eine angemessene Betreuung sicherzustellen (vgl. „Handreichung – Medikamentengabe durch Lehrerinnen und Lehrer“, Stand 1. Juli 2018). Eine Informationsbeschaffung durch die aufsichtführenden Lehrkräfte wäre danach auch hier zulässig gewesen. Denn aufgrund der bereits nach kurzer Zeit zu erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen führenden Diabeteserkrankung Emilys, die unbehandelt zum Tode der betroffenen Person führen kann und dem damit regelmäßig symptomatisch einhergehenden Kontrollverlust, war die Information für die betreuenden Lehrkräfte einer mehrtägigen Schulfahrt in das Ausland erforderlich.
118Nach § 57 Abs. 1 SchulG NRW beaufsichtigen die Lehrkräfte die Schülerinnen und Schüler in eigener Verantwortung unter Berücksichtigung der geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften sowie der Anordnungen der Schulaufsichtsbehörden und der Konferenzbeschlüsse. Die Aufsichtspflichten während Schulfahrten werden durch die „Richtlinie für Schulfahrten“ aus dem Runderlass des Ministeriums für Schule und Weiterbildung vom 19. März 1997 (BABl. NW. I S. 101) konkretisiert (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21.06.2023, Az. III-4 Ws 73/23, Rn. 22 zitiert nach juris). Nach Ziffer 6.1 (Aufsicht, Gefahrvermeidung und Unfallverhütung) der Richtlinie richten sich Art und Umfang der Aufsicht während Schulfahrten nach den jeweiligen Gegebenheiten, wobei mögliche Gefährdungen sowie Alter, Entwicklungsstand und Ausprägung des Verantwortungsbewusstseins der Schülerinnen und Schüler und bei Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen auch die Art der Beeinträchtigung zu berücksichtigen sind.
119Damit setzt der Runderlass bereits voraus, dass die Aufsichtspersonen einer Schulreise Kenntnis vom Vorliegen einer etwaigen chronischen Erkrankung und dessen mögliche Auswirkungen haben, damit bei der Aufsicht eine besondere Berücksichtigung erfolgen kann. Hieraus ergibt sich die Pflicht, dass sich die aufsichtführenden Lehrkräfte die entsprechenden Informationen rechtzeitig besorgen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21.06.2023, Az. III-4 Ws 73/23, Rn. 22 zitiert nach juris).
120Die Pflicht zur Verschaffung dieser Kenntnisse oblag zunächst der Schule als Veranstalterin der klassen- und jahrgangsübergreifenden Schulfahrt. Die Organisation der Veranstaltung war hier jedoch zulässigerweise auf die Angeklagten (und die gesondert Verfolgten DO. und WK.) übertragen, die selbst Aufsichtspersonen der Londonfahrt waren. Es oblag mithin ihnen, die notwendigen Informationen der zur Erfüllung der nach dem Runderlass ihnen obliegenden Aufsichtspflicht zu generieren (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21.06.2023, Az. III-4 Ws 73/23, Rn. 24 zitiert nach juris; vgl. OLG Köln, Urteil vom 29.10.1985, Az. Ss 301/85, zitiert nach juris) und diese Informationen jedenfalls mit Eintritt ihrer Garantenstellung bei Abfahrt in Mönchengladbach verfügbar zu haben.
121Es ist auch nicht anzunehmen, dass eine entsprechende Informationsbeschaffung aufgrund Emilys Alters sowie anderen Teilnehmern und des dementsprechend anzunehmenden Verantwortungsbewusstseins hätte entfallen können, weil ein erheblicher Teil der Schüler, so auch die Geschädigte, erst zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren alt gewesen ist und in diesem Alter von einem entsprechenden Verantwortungsbewusstsein noch nicht ausgegangen werden kann. Hierfür spricht auch, dass die Eltern ausdrücklich schriftlich einwilligen mussten, dass sich ihre Kinder in London in Kleingruppen bewegen durften und diese ihre Kinder anzuweisen hatten, den Anordnungen der Aufsichtspersonen unbedingt Folge zu leisten (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21.06.2023, Az. III-4 Ws 73/23, Rn. 24 zitiert nach juris).
122Die bloß mündliche „Nachfrage nach gesundheitlichen Besonderheiten, Reiseübelkeit“ (Zitat aus dem Protokoll es Elterninformationsabends am 09.05.2019) während der unverbindlichen Informationsveranstaltung am 09.05.2019 war weder geeignet noch ausreichend (siehe dazu noch unten unter (2)), um der Informationsbeschaffungspflicht der beiden Angeklagten Genüge zu tun (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21.06.2023, Az. III-4 Ws 73/23, Rn. 25 zitiert nach juris).
123Dies ergibt sich bereits daraus, dass es sich um eine unverbindliche Veranstaltung handelte, zu der auch nicht unter Hinweis auf die gesundheitliche Abfrage von Gesundheitsdaten eingeladen wurde, weshalb die Angeklagten und die übrigen begleitenden Lehrer nicht davon ausgehen durften, dass alle Schüler dort vertreten sein würden, sodass von nicht teilnehmenden Personen auch keine gesundheitlichen Einschränkungen oder Vorerkrankungen erfragt werden konnten. Vor allem ist aber zu berücksichtigen, weil im konkreten Fall Emily zusammen mit dem Lebensgefährten ihrer Mutter, dem Zeugen MT., an dem Elternabend teilnahm, dass nicht alle Kinder – insbesondere unter Berücksichtigung ihres Alters – dazu bereit sein dürften, mögliche Erkrankungen oder körperliche oder geistige Einschränkungen vor ihnen teilweise gänzlich unbekannten Teilnehmenden bei dieser Informationsveranstaltung für eine klassen- und stufenübergreifende Fahrt öffentlich zu machen. Auch kann nicht von allen Schülerinnen und Schülern erwartet werden, sich nach der Veranstaltung noch zu den Lehrkräften zu begeben, um mögliche gesundheitliche Beeinträchtigungen zu benennen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21.06.2023, Az. III-4 Ws 73/23, Rn. 27, juris), selbst wenn man einmal zugunsten der Angeklagten unterstellt – was die Kammer jedenfalls im Hinblick auf Emily und den Zeugen MT. nicht feststellen konnte –, dass alle Teilnehmenden die Frage nach Gesundheitsdaten überhaupt vernommen haben (siehe dazu unten unter (2)). Im konkreten Fall von Emily durften die Angeklagten nicht davon ausgehen, dass Emily oder der Zeuge MT. allein auf mündliche Nachfrage hin nochmals auf die Diabeteserkrankung hinweisen würde, die bereits in der Schulakte dokumentiert war und von deren Beachtung sie daher auch ohne erneuten Hinweis ausgehen durften. Hinzukommt, dass die Angeklagten von einer zuverlässigen Unterrichtung über die Erkrankung allein an dem Informationsabend auch deswegen nicht ausgehen durften, weil die allein erziehungsberechtigte Mutter von Emily, die Zeugin Y., an der Veranstaltung gar nicht teilnahm.
124Die beiden Angeklagten hätten bei der Planung der Auslandsreise im Hinblick auf ihre im Zeitpunkt der Abfahrt in Mönchengladbach beginnende Verantwortung für Emily, sprich dem Beginn ihrer Garantenstellung, vielmehr den sichersten Weg beschreiten und bei allen Schülern Vorerkrankungen oder gesundheitliche Besonderheiten verbindlich schriftlich abfragen müssen. Denn allein durch eine verpflichtende schriftliche Abfrage hätten sie die Gefahren für die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler so niedrig wie den Umständen nach möglich und geboten gehalten (vgl. BGH, Urteil vom 04.04.2019, Az. III ZR 35/18, Rn. 21 zitiert nach juris m.w.N.). Eine solche schriftliche Abfrage wäre auch ohne Weiteres, etwa im Zusammenhang mit der erfolgten schriftlichen Abfrage, ob sich die Schülerinnen und Schüler in London in Kleingruppen alleine bewegen dürfen, möglich und zumutbar gewesen. Indem die Angeklagten diese Möglichkeiten der Informationsbeschaffung nicht genutzt haben und sich auch sonst bis zur bzw. spätestens bei Abfahrt in Mönchengladbach mit der Übernahme der Verantwortung für Emily nicht die notwendigen Informationen beschafft haben, haben sie sorgfaltswidrig gehandelt (vgl. OLG Düsseldorf, a.a.O., Rn. 28 zitiert nach juris).
125Im konkreten Fall von Emily Y. wäre es zudem schon ausreichend gewesen, Einsicht in die Schulakte zu nehmen und sich hierdurch über Emilys gesundheitliche Besonderheiten zu informieren, weil dort die Diabeteserkrankung vermerkt war. Dass eine solche Einsichtnahme in die Schulakte indes immer der sicherste Weg ist, steht hingegen nicht fest. Bei Emily wurde die Diabeteserkrankung mit der Aufnahme an der Schule in der fünften Klasse in der Schulakte vermerkt. Es ist aber denkbar, dass sich bei einem Schüler/einer Schülerin – auch relativ kurzfristig – Krankheiten entwickeln, die sich dann nicht in der Schulakte befinden und die sich allein durch eine aktuelle verbindliche und schriftliche Abfrage von Vorerkrankungen, chronischen Erkrankungen oder sonstigen gesundheitlichen Besonderheiten im Vorfeld einer solchen Fahrt herausfinden lassen.
126(2) Selbst wenn eine solche Konkretisierung durch die geltenden gesetzlichen Bestimmungen und die höchstrichterliche und obergerichtliche Rechtsprechung nicht möglich wäre, würde sich die Sorgfaltspflicht einer verbindlichen schriftlichen Abfrage der Gesundheitsdaten aus den Standards und Gepflogenheiten bestimmter Verkehrskreise, die zwar nicht zu Gesetzen geworden sind, innerhalb bestimmter Lebensbereiche das Verhalten aber auch mehr oder weniger klar steuern sollen, ergeben (vgl. BeckOK StGB/Kudlich, 59. Ed. 1.11.2023, StGB § 15 Rn. 41; Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, StGB § 15 Rn. 135 m.w.N.).
127Hier konnte die Kammer aufgrund der Beweisaufnahme feststellen, dass in der betreffenden Schule neue Klassenlehrer, so zum Beispiel der Zeuge KJ., Einsicht in die Schulakten der Schülerinnen und Schüler, darunter auch Emilys Schulakte nehmen, um sich über sie zu informieren. Der Zeuge KJ. ging sogar noch weiter und informierte sich auf Grundlage der Aktenkenntnis weitergehend bei der vorherigen Klassenlehrerin, der Zeugin IQ.. Dies hatten die Angeklagten indes spätestens bei der Abfahrt in Mönchengladbach nicht getan, wie sie selbst eingeräumt haben.
128Die Kammer konnte weiter aufgrund der Beweisaufnahme feststellen, u.a. aufgrund der glaubhaften Angaben der Zeugin KI., der Schulleiterin, dass auch bereits im Jahr 2019 vor jeder Klassenfahrt die zuständigen Lehrerinnen und Lehrer die Gesundheitsdaten ihrer Schülerinnen und Schüler verbindlich schriftlich und rechtzeitig vor der Abfahrt abfragten und die Schule hierfür bereits im Jahr 2019 entsprechende standardisierte Formulare vorhielt, auf die auch die Angeklagten hätten zurückgreifen können. Dann muss eine solche verbindliche schriftliche Abfrage bei einer klassen- und stufenübergreifenden Fahrt, wie der Londonfahrt, bei der die begleitenden Lehrerinnen und Lehrer gerade nicht alle teilnehmen Schülerinnen und Schüler kennen (sie kannten allesamt Emily nicht), erst recht spätestens im Zeitpunkt der Abfahrt in Mönchengladbach erfolgen. Obwohl die beiden Angeklagten Emily nicht aus dem Unterricht kannten, haben sie eine verbindliche schriftliche Abfrage jedoch nicht vorgenommen, was sie beide eingeräumt haben.
129Auch konnte die Kammer nicht feststellen, dass die Angeklagten Emily, ihre Mutter, die Zeugin Y., oder den Lebensgefährten von Emilys Mutter, den Zeugen MT., zu irgendeinem Zeitpunkt bis zur Abfahrt oder spätestens bei Abfahrt zumindest mündlich nach Erkrankungen gefragt hatten. Zwar hat die Kammer es zugunsten der Angeklagten als erwiesen angesehen, dass auf der 45 Minuten dauernden unverbindlichen Informationsveranstaltung am 09.05.2019, auf der immerhin 19 Punkte nebst weiteren Unterpunkten besprochen wurden (insgesamt waren es laut Protokoll des Informationsabends 30 Punkte innerhalb von 45 Minuten), durch die Angeklagte P. eine mündliche Abfrage von gesundheitlichen Besonderheiten und notwendiger Medikamenteneinnahme der Teilnehmer erfolgte. Indes konnte die Kammer – wie sie in der Beweiswürdigung näher dargelegt hat – nicht feststellen, dass Emily oder der Zeuge MT. diese Frage an dem Abend überhaupt wahrgenommen haben, wovon sich auch die Angeklagten nicht überzeugt haben. Bei ihrer mündlichen Abfrage, hätte die Angeklagte P. zumindest sichergehen müssen, dass jeder der Teilnehmenden die Frage wahrnimmt und Gelegenheit zur Antwort erhält; zum Beispiel durch eine gezielte Abfrage der Reihe nach. Es war hier auch nicht so, dass Emily, ihre Mutter oder der Zeuge MT. im Vorfeld der Veranstaltung damit rechnen mussten, dass eine solche Abfrage nach Gesundheitsdaten erfolgen würde. Denn die Einladung zu der unverbindlichen Informationsveranstaltung war – wie die Kammer bereits zuvor detaillierter ausgeführt hat – denkbar knappgehalten und enthielt keinerlei Hinweise auf eine Abfrage von Gesundheitsdaten.
130Im Übrigen, ohne dass es für die Überzeugungsbildung der Kammer noch entscheidend gewesen wäre, ist es allgemein bekannt, wie die Kammer mehrfach in der Hauptverhandlung hervorgehoben hat, dass schriftliche Abfragen nach Gesundheitsdaten vor (Klassen-)Fahrten regelmäßig erfolgen, sowohl in Schulen als auch in (Sport-)Vereinen. Es wird dort regelmäßig nach Allergien, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Erkrankungen und Medikamenten schriftlich gefragt.
131bb. Die Sorgfaltspflicht hatten beide Angeklagte eine jede für sich. Denn es gab nach den Feststellungen der Kammer keine Aufteilung der Verantwortungsbereiche zwischen den die Londonfahrt begleitenden Lehrerinnen und dem Lehrer. Jeder von ihnen musste dementsprechend der Amtspflicht nachkommen und dafür Sorge tragen, dass Emilys Gesundheitsdaten spätestens im Zeitpunkt der Abfahrt in Mönchengladbach vorliegen.
132c. Der Erfolg, Emilys Tod, war objektiv vorhersehbar.
133Objektive Voraussehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung liegt vor, wenn der eingetretene tatbestandsmäßige Erfolg nach allgemeiner Lebenserfahrung, sei es auch nicht als regelmäßige, so doch als nicht ungewöhnliche Folge erwartet werden konnte (Heger, in: Lackner/Kühl, 30. Aufl. 2023, StGB § 15 Rn. 46; vgl. BGH, Urteile vom 26.05.2004, Az. 2 StR 505/03, BGHSt 49, 166-177, Rn. 30 zitiert nach juris, und vom 17.03.1992, Az. 5 StR 34/92, Rn. 16 zitiert nach juris).
134Nach allgemeiner Lebenserfahrung tritt bei einer fehlenden Abfrage von Gesundheitsdaten bei Beginn einer Klassen- bzw. Schulfahrt der Tod eines teilnehmenden Schülers zwar nicht regelmäßig ein, ist indes bei einer mitfahrenden chronisch kranken, erst 13 Jahre alten Schülerin (hier Emily Y.), die auf die regelmäßige Gabe eines lebenswichtiges Medikament (hier: Insulin) angewiesen ist und von deren Erkrankung die begleitenden Lehrerinnen aufgrund der unterlassenen Gesundheitsdatenabfrage jedoch nichts wussten, keine ungewöhnliche Folge einer fehlerhaften bzw. unzureichenden Betreuung durch die betreffenden Lehrer gerade aufgrund der unterbliebene Abfrage und dadurch bedingten Unkenntnis.
1354. Das Unterlassen der gebotenen Handlung, der verbindlichen schriftlichen Abfrage der Gesundheitsdaten und der fehlenden Einsichtnahme in die Schulakte spätestens bei der Abfahrt in Mönchengladbach, ist (quasi)ursächlich für Emilys Tod.
136Bei der Prüfung der Ursächlichkeit des Pflichtenverstoßes ist hypothetisch zu fragen, was geschehen wäre, wenn sich der Täter pflichtgemäß verhalten hätte. Eine pflichtwidrige Unterlassung kann grundsätzlich nur angelastet werden, wenn der strafrechtlich relevante Erfolg bei pflichtgemäßem Handeln mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre, der Erfolg also vermeidbar gewesen wäre (BGH, Urteile vom 07.01.2010, Az. 4 StR 413/09, Rn. 10 zitiert nach juris, vom 06.11.2002, Az. 5 StR 281/01, Rn. 49 zitiert nach juris, und vom 19.01.1988, Az. 1 StR 635/87, Rn. 9 zitiert nach juris; Bosch, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, StGB § 13 Rn. 61). Weiter muss bei fahrlässigen Erfolgsdelikten – auch in der Begehungsform des Unterlassens – zur sachgemäßen Begrenzung der objektiven Zurechenbarkeit der Erfolg seinen Grund gerade in der objektiven Pflichtverletzung haben (BGH, Urteil vom 19.04.2000, Az. 3 StR 442/99, Rn. 27 zitiert nach juris m.w.N., und vom 20.11.2008, Az. 4 StR 328/08, Rn. 14, 19 zitiert nach juris; Duttge in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2020, § 15 Rn. 184).
137Hängt die Erfolgsverhinderung vom Handeln eines Dritten ab (psychisch vermittelte Kausalverläufe), darf die Feststellung, wie sich der Dritte bei Vornahme der gebotenen Handlung verhalten hätte, nicht zur Spekulation geraten, sondern ist – soweit möglich – aufzuklären (Bosch, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, StGB § 13 Rn. 62; so im Ergebnis auch: BGH, Beschluss vom 06.03.2008, Az. 4 StR 669/07, Rn. 12 zitiert nach juris). Die Problematik ist dadurch zu lösen, dass bei psychisch vermittelter Kausalität ein pflichtgemäßes bzw. eigene Interessen wahrendes Verhalten der anderen unterstellt wird. Eine Schlechterstellung des Unterlassungstäters ist damit nicht verbunden, weil diesem lediglich – vergleichbar dem Begehungstäter im Rahmen des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs – die Berufung auf ein pflichtwidriges Verhalten Dritter abgeschnitten wird (Bosch, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, StGB § 13 Rn. 62; so im Ergebnis auch BGH, Urteil vom 06.11.2002, Az. 5 StR 281/01, Rn. 53 zitiert nach juris betreffend das Verhalten paralleler Garanten (sog. Politbüro-Entscheidung); Puppe/Grosse-Wilde in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Saliger, StGB, 6. Aufl. 2023, vor § 13 Rn. 134).
138Nach dieser Maßgabe ist von Folgendem auszugehen: Hätten sich die Angeklagten pflichtgemäß verhalten und Emilys Gesundheitsdaten spätestens bei Abfahrt in Mönchengladbach verbindlich schriftlich abgefragt, hätte die Zeugin Y. als Emilys einzige Erziehungsberechtigte nach den Feststellungen der Kammer mitgeteilt, dass Emily an Diabetes erkrankt ist, und den Angeklagten die hierzu weiter erforderlichen Informationen (z.B. zum erforderlichen Diabetesmanagement oder zu Warnzeichen einer Stoffwechselentgleisung) vermittelt. Diese Überzeugung hat die Kammer insbesondere daraus hergeleitet, dass Emily, ihre Mutter und der Zeuge MT. immer offen mit Emilys Krankheit umgegangen sind, dass die Zeugin Y. die Diabeteserkrankung bei Anmeldung an der ZK.-Gesamtschule angegeben und dass sie Emilys Klassenlehrer zu Beginn des Schulbesuchs und auch während des jeweiligen Schuljahrs bei verschiedenen Gelegenheiten unterrichtet hat (siehe oben ausführlich in der Beweiswürdigung). Dass Emily, ihre Mutter oder der Zeuge MT. bei einer (für die Teilnahme an der Fahrt verbindlichen schriftlichen) Abfrage unwahre Angaben gemacht hätten, kann die Kammer nach dem zuvor Gesagten ausschließen. Am Samstagmorgen zum Beispiel hatte Emilys Mutter im Telefonat auf Emilys Diabeteserkrankung hingewiesen, woraufhin der Zeuge YN. versuchte, ihren Blutzuckerwert zu messen. Auch wenn die Angeklagten vor Abfahrt Einsicht in die Schulakte genommen hätten, hätten sie Kenntnis von der Diabeteserkrankung gewonnen.
139Selbst wenn jedoch die Zeugin Y. die (verbindliche schriftliche) Abfrage nach Emilys Gesundheitsdaten nicht zurückgereicht hätte – und die Angeklagten auch nicht in die Emilys Schulakte Einsicht genommen hätten – hätte Emily überlebt, weil die Angeklagten sie ohne schriftliche Angabe der Gesundheitsdaten bzw. Kenntnis der Gesundheitsdaten aus der Schulakte nicht mit auf die Londonfahrt hätten nehmen dürfen. Dann gilt das bereits oben Gesagte: Wenn sich ausreichende Vorkehrungen nicht treffen lassen, hätten die Angeklagten von einer gefährlichen Maßnahme – hier Emilys Mitnahme auf die Londonfahrt – dergestalt Abstand nehmen müssen (vgl. BGH, Urteil vom 04.04.2019, Az. III ZR 35/18, Rn. 21 zitiert nach juris m.w.N.), dass sie mangels Angaben zum (aktuellen) Gesundheitszustand sie nicht hätten mitnehmen dürfen.
140Hätten die beiden Angeklagten von Emilys Diabeteserkrankung gewusst, dann – so haben sie selbst glaubhaft eingeräumt – hätten sie bereits bei der von ihnen eingeräumten (festgestellten zweiten) Mitteilung am Freitagmorgen eine unverzügliche medizinische Versorgung veranlasst und Emilys Mutter unterrichtet, woraufhin Emilys Insulinmangel, die starke Überzuckerung und die hierdurch bereits manifestierte schwere Ketoazidose nach Überzeugung der Kammer – wie letztlich (erst) am Samstagmorgen durch den Rettungsdienst geschehen – entdeckt worden wären und zu dem Zeitpunkt ihr Leben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch hätte gerettet werden können.
141Das Informieren des Rettungsdienstes und eines Arztes am Freitagmorgen oder im Verlauf des Freitags hätte nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Dr. ER. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu Emilys Rettung geführt; Emily wäre nicht gestorben. Für den Samstag konnte die Kammer indes nicht feststellen, dass Emily am frühen Samstagmorgen noch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte gerettet werden können, weshalb es auf die Geschehnisse am Samstag rechtlich nicht mehr ankommt.
1425. Die beiden Angeklagten haben auch subjektiv pflichtwidrig gehandelt.
143Der Täter muss die objektive Pflichtwidrigkeit nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten vermeiden und die Tatbestandsverwirklichung vorhersehen können (BGH, Urteile vom 11.11.2021, Az. 4 StR 511/20, Rn. 57 zitiert nach juris m.w.N., vom 20.11.2008, Az. 4 StR 328/08, Rn. 14 zitiert nach juris, und vom 13.11.2003, Az. 5 StR 327/03, Rn. 15 zitiert nach juris; Heger, in: Lackner/Kühl, 30. Aufl. 2023, StGB § 15 Rn. 49; Fischer, StGB, 71. Aufl. 2024, § 15 Rn. 20). Die subjektive Vorhersehbarkeit erfordert nicht, dass der Täter die Folgen seines Handelns in allen Einzelheiten voraussehen konnte. Vielmehr genügt, dass sie in ihrem Gewicht im Wesentlichen voraussehbar waren (BGH, Urteil vom 20.11.2008, Az. 4 StR 328/08, Rn. 17 zitiert nach juris, und vom 08.09.1993, Az. 3 StR 341/93, Rn. 7 zitiert nach juris m.w.N.).
144a. Die Angeklagten waren nach ihren persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten in der Lage, die objektive Sorgfaltspflicht zu erfüllen, also die Gesundheitsdaten der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler spätestens bei der Abfahrt schriftlich abzufragen, wodurch sie Emilys Tod hätten vermeiden können. Die verbindliche schriftliche Abfrage von Vorerkrankungen, chronischen Erkrankungen oder gesundheitlichen Besonderheiten und einer ggf. notwendigen Medikation war – wie dargelegt – ein übliches Prozedere bei Klassenfahrten an der ZK.-Gesamtschule, welches den Angeklagten bekannt war. Ebenso hätten die Angeklagten vor Abfahrt Einsicht in die Schulakte nehmen können, wodurch Emilys Tod ebenfalls vermieden worden wäre.
145b. Der Erfolg, hier Emilys Tod, war für die beiden Angeklagten in dem Zeitpunkt subjektiv vorhersehbar, in dem sie hätten handeln müssen, vgl. § 8 S. 1 StGB.
146Sorgfaltspflicht und Voraussehbarkeit stehen in engen Wechselbeziehungen. Auf Ereignisse, die man nicht vorhersehen kann, kann man sich nicht einstellen, braucht sie also bei der Überlegung der notwendigen Sorgfalt nicht zu berücksichtigen. Die beiden Erfordernisse müssen innerlich und zeitlich so zusammenfallen, dass die Voraussehbarkeit spätestens zur Zeit der Pflichtwidrigkeit vorhanden ist (Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, StGB § 15 Rn. 199). Der Täter hätte die Tatbestandsverwirklichung vorhersehen können müssen, wenn er diejenige Sorgfalt angewendet hätte, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten verpflichtet und imstande war (Bülte, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Auflage, § 15 StGB, Rn. 260). Es ist der Nachweis erforderlich, dass der Täter in dem konkreten Fall mit der Möglichkeit hätte rechnen können, dass derartige Erfolge durch sein Unterlassen herbeigeführt werden (Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, StGB § 15 Rn. 201).
147Die Angeklagten konnten nach ihren individuellen Kenntnissen und Fähigkeiten vorhersehen, dass durch das Unterlassen der gebotenen (schriftlichen) Abfrage von Emilys Gesundheitsdaten – oder hilfsweise der Einsichtnahme in die Schulakte – in Vorbereitung der Londonfahrt bzw. spätestens bei der Abfahrt von Mönchengladbach nach London, als sie die Verantwortung für Emily übernahmen, ein Mensch sterben könnte. Denn den Angeklagten war die Bedeutung der Kenntnis von Vorerkrankungen, gesundheitlichen Besonderheiten und einer ggf. erforderlichen Medikation bewusst, was sich daran zeigte, dass die Angeklagte P. jedenfalls mündlich nach den Gesundheitsdaten der Teilnehmer auf der gemeinsam von den begleitenden Lehrern geplanten Informationsveranstaltung am 09.05.2019 fragte, worauf sich auch die Angeklagte S. berief. Nach Überzeugung der Kammer wussten die Angeklagten demnach vor und bei Beginn der Londonfahrt, dass die Kenntnis von Gesundheitsdaten der teilnehmenden und in London von ihnen betreuten Schülerinnen und Schüler über deren körperliches Wohlbefinden und im schlimmsten Fall – wie hier – über Leben und Tod entscheiden können würde. Aus der von der Angeklagten P. gestellten Frage wird deutlich und nimmt die Kammer – wie ausführlicher in der Beweiswürdigung dargelegt – ihre Überzeugung, dass die begleitenden Lehrer, darunter beide Angeklagte, die besondere Bedeutung von Gesundheitsdaten kannten und sie gerade deshalb erfragten. Gerade das von ihnen erkannte Informationsbedürfnis führten sie auch als Begründung dafür an, warum von dem üblichen Vorgehen bei Klassenfahrten (verbindliche schriftliche Abfrage) abgewichen worden sei: Sie hätten den (anwesenden) Eltern und Schülern die Möglichkeit zu einem persönlichen Gespräch über vorhandene Vorerkrankungen oder gesundheitliche Besonderheiten einräumen wollen und sich hiervon eine bessere Unterrichtung und Information erhofft. Indes blieben sie mit der bloß mündlichen Frage, bei der – wie dargelegt – die Kammer nicht feststellen konnte, dass Emily oder der Zeuge MT. sie überhaupt wahrgenommen hatten, und der unterlassenen, indes notwendigen schriftlichen Abfrage der Gesundheitsdaten bzw. Einsichtnahme in Emilys Schulakte, in jedem Fall hinter der gebotenen Sorgfalt zurück.
148Die Angeklagten konnten und mussten bei Anwendung gehöriger Sorgfalt bereits bei dem Elterninformationsabend, spätestens aber bei der Abfahrt nach London die Möglichkeit erkennen, dass Emily und der Zeuge MT. von sich aus sie, die Angeklagten, nicht über Emilys Diabeteserkrankung aufklären würden. Denn es ist lebensnah und gerade für die Angeklagten als Lehrer offensichtlich, dass nicht immer alle in einer Klasse bzw. hier auf dem Informationsabend alles wahrnehmen und dass manche, etwa durch „Tuscheln“ untereinander, abgelenkt sein können. Dies auch vor dem Hintergrund der Thematisierung von vielen Punkten in nur sehr kurzer Zeit. Auch konnten und mussten die Angeklagten die Möglichkeit erkennen, dass bei einer nur allgemeinen Abfrage nach Gesundheitsdaten ohne ausdrücklichen Hinweis darauf, dass diese hier zwingend, also auch wenn sie bereits in der Schulakte stehen oder anderen Lehrern mitgeteilt wurden, erneut mitzuteilen sind, nicht alle Anwesende auf diese lediglich recht allgemeine mündliche Abfrage richtig reagieren würden, indem sie bereits bei der Schule hinterlegte Gesundheitsdaten erneut mitteilten. Schließlich mussten die Angeklagten mit der Möglichkeit rechnen, dass auf dem nur unverbindlichen Informationsabend, auf dessen Einladung eine Tagesordnung fehlte, gerade nicht die gesetzlichen Vertreter – wie hier bei Emily – anwesend sind, die Angeklagten also auch nicht davon ausgehen konnten, dass die anwesenden Personen überhaupt Kenntnis über Erkrankungen haben und diese angeben würden, ihnen, den Angeklagten, also die Möglichkeit bewusst war, dass bei Antritt der Reise nach London ein Informationsdefizit vorliegen könnte. Die Angeklagten kannten weder Emily noch den Zeugen MT..
149V.
150Die Kammer hat die Strafe dem gemäß §§ 13 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen des § 222 StGB entnommen.
1511. Die Kammer hat zugunsten der beiden Angeklagten von der fakultativen Strafmilderung des § 13 Abs. 2 StGB Gebrauch gemacht, weil der Unrechts- und Schuldgehalt nach einer wertenden Gesamtwürdigung aller wesentlichen – nicht ausschließlich unterlassungsbezogenen – Gesichtspunkte (vgl. BGH, Urteil vom 29.07.1998, Az. 1 StR 311/98, Rn. 9 zitiert nach juris; Beschluss vom 06.12.2012, Az. 2 StR 170/12, Rn. 6 zitiert nach juris) hier geringer wiegt als beim aktiven Tun. Insbesondere war hierbei zu berücksichtigen, dass die Kausalkette mit dem Beginn am 09.05.2019 bis hin zu Emilys Versterben am 30.06.2019 eine lange war. Es war zudem zu bedenken, dass der den Angeklagten vorwerfbare Sorgfaltspflichtverstoß – das Unterlassen der gebotenen verbindlichen schriftlichen Abfrage der Gesundheitsdaten und der fehlenden Einsichtnahme in die Schulakte – eher geringfügig war, auch wenn er sich letztlich dramatisch ausgewirkt hat. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass die Angeklagten die Abfrage von Gesundheitsdaten nicht vollständig unterließen, sondern sich der Notwendigkeit einer entsprechenden Abfrage durchaus bewusst waren, hierfür jedoch schlicht den falschen Weg (unverbindliche mündliche Abfrage, bei der indes nicht festgestellt werden konnte, dass Emily und der Zeuge MT. diese wahrgenommen haben) und nicht die mögliche und zumutbar sicherste Vorgehensweise (verpflichtende schriftliche Abfrage und Einsichtnahme in die Schulakte) wählten.
1522. Innerhalb des gemilderten Strafrahmens hat die Kammer zugunsten der Angeklagten Folgendes berücksichtigt:
153Beide Angeklagte sind nicht vorbestraft, sie waren geständig, sie haben Reue gezeigt und die Hinterbliebenen der Geschädigten Emily Y. um Entschuldigung gebeten. Strafmildernd hat sich daneben die belastend lange Verfahrensdauer von insgesamt etwa viereinhalb Jahren ausgewirkt. Zudem war die Kausalkette zwischen der unterlassenen Handlung und dem Erfolg eine lange. Zu Gunsten der Angeklagten ist auch ihr positives Nachtatverhalten zu berücksichtigen: Als die Angeklagten die kritische Lage Emilys am Samstagvormittag erstmals zutreffend erkannten, unternahmen sie unmittelbar – wenn auch im Hinblick auf eine Rettung Emilys zu spät – die gebotenen Handlungen: Sie verständigten ärztliche Hilfe und unterrichteten die schon telefonisch zugeschaltete Zeugin Y.. Anschließend begleiteten sie Emily ins Krankenhaus und blieben bis zum Eintreffen ihrer Mutter bei ihr am Krankenbett. Schließlich hat die Kammer eine Mitverursachung durch das Opfer und Dritte berücksichtigt; namentlich den Umstand, dass Emilys Blutzuckerwerte unmittelbar vor der Londonfahrt an mehreren Tagen – mutmaßlich aufgrund ihrer Aufregung – entgleisten, auch wenn sie sie jeweils wieder in den Griff bekam, was für die Erziehungsberechtigte dennoch Anlass hätte geben müssen, die mitfahrenden Lehrer vor der Abfahrt gezielt hierüber zu informieren, auch wenn die Diabeteserkrankung als solche bereits in der Schulakte vermerkt war und Emily sonst immer gut mit ihrer Diabeteserkrankung zurechtkam.
154Zu Lasten der beiden Angeklagten war zu berücksichtigen, dass Emily jedenfalls ab Freitagvormittag (28.06.2019) bis zu ihrem Versterben am Sonntagmittag (30.06.2019) unter den Auswirkungen der schweren Ketoazidose gelitten hat. Wie die medizinische Sachverständige Dr. ER. aus medizinischer Sicht eindrücklich schilderte, kämpfte Emily ab Einsetzen der Ketoazidose spätestens ab Freitagmorgen um ihr Leben: Emily musste, was die Zeugen wie festgestellt schilderten, mehrfach erbrechen, war schlapp, entkräftet und das Atmen fiel ihr schwer.
155Unter Abwägung aller vorgenannten Aspekte hält die Kammer eine Geldstrafe jeweils von
156180 Tagessätzen
157für tat- und schuldangemessen.
158Hinsichtlich der Tagessatzhöhe gilt Folgendes:
159Die Angeklagte P. verfügt aktuell über ein Nettoeinkommen i.H.v. 4.611,68 EUR. Hiervon waren die monatlichen Beiträge für die private Krankenversicherung i.H.v. 461,19 EUR und die monatlichen pauschalen Werbungskosten i.H.v. 102,50 EUR (= 1.230,00 EUR / 12 Monate) abzuziehen, was 4.047,99 EUR ergibt. Teilt man diesen Betrag durch 30 Tage, ergeben sich 134,93 EUR, was die Kammer zugunsten der Angeklagten auf
160130,00 EUR
161abgerundet hat. Da die beiden Kinder der Angeklagten sich selbständig finanzieren, waren insoweit keine weiteren Abzüge vorzunehmen.
162Die Angeklagte S. befindet sich derzeit in Elternzeit. Das Elterngeld beträgt 1.800,00 EUR, wovon die Kammer für die private Krankenversicherung 313,00 EUR (344,00 EUR Krankenkassenbeitrag abzüglich 31,00 EUR Zuschuss des Dienstherrn) und ebenfalls pauschale Werbungskosten i.H.v. ebenfalls 102,50 EUR abgezogen hat, was 1.384,50 EUR ergibt. Teilt man diesen Betrag durch 30 Tage, ergeben sich 46,15 EUR. Außerdem hat die Kammer berücksichtigt, dass die Angeklagte und ihr vollschichtig arbeitender Ehemann ein Kleinkind von etwa sechs Monaten zu versorgen haben, wofür sie indes Kindergeld erhalten, so dass die Kammer ihrem Urteil eine Tagessatzhöhe von
16340,00 EUR
164zugrunde gelegt hat.
1653. Aufgrund einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung hat die Kammer von den 180 Tagessätzen
166jeweils 20 Tagessätze als bereits vollstreckt
167angesehen.
168Die insoweit zugrunde zu legende Dauer des Verfahrens hat die Kammer ausgehend von dem Zeitpunkt bewertet, in dem die Angeklagten Kenntnis davon erhielten, dass wegen einer Straftat gegen sie ermittelt wird (vgl. BGH, Urteil vom 24.10.2005, Az. 4 StR 139/05, Rn. 10 zitiert nach juris). Dies war der Zeitpunkt der Vorladung zur Beschuldigtenvernehmung am 28.09.2020. Das Verfahren dauerte gerechnet von dieser ersten nach außen unmittelbar gegen die Angeklagten gerichteten Maßnahme bis zur Urteilsverkündung am 15.02.2024 etwa drei Jahre und fünf Monate, wobei im Zeitraum von Ende August 2022 bis Februar 2023 (Zeitraum von etwa sechs Monaten) und im Zeitraum von Oktober 2023 bis Januar 2024 (Zeitraum von etwa vier Monaten) eine Förderung des Verfahrens nicht stattfand.
169Diesen Erwägungen liegt der folgende – aufgrund des Berichts des Vorsitzenden anhand der in der Akte befindlichen Urkunden in der Hauptverhandlung am 31.01.2024 festgestellte – Verfahrensablauf zu Grunde:
170In dem bis zur Anklage im März 2022 laufenden Ermittlungsverfahren kam es nicht zu Verfahrensverzögerungen. Eine verzögerte Sachbehandlung konnte die Kammer jedoch bei der Bearbeitung des Verfahrens durch die 1. und der 3. große Strafkammer des Landgerichts Mönchengladbach feststellen. Die 1. große Strafkammer übernahm das Verfahren am 18.05.2022, entschied über die Nichteröffnung des Hauptverfahrens aus rechtlichen Gründen aber erst am 16.02.2023, mithin erst nach neun Monaten. Nach der Eröffnungsentscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf ging das Verfahren bei der 3. großen Strafkammer am 27.06.2023 ein, woraufhin der Vorsitzende erst Termine beginnend ab Januar 2024 bestimmte. In beiden Fällen wäre eine Eröffnungsentscheidung bzw. der Beginn der Hauptverhandlung jeweils innerhalb von drei Monaten zu erwarten gewesen, so dass eine rechtsstaatswidrige Verzögerung von insgesamt etwa zehn Monaten (sechs Monate + vier Monate) gegeben war. Die Hauptverhandlung begann am 17.01.2024 und endete nach fünf Verhandlungstagen mit dem am 15.02.2024 erlassenen Urteil der Kammer.
171Bei der Bemessung der aus dieser rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung folgenden Kompensation hat sich die Kammer nach Maßgabe der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17.01.2008, Az. GSSt 1/07, zitiert nach juris, und vom 14.02.2008, Az. 3 StR 416/07, Rn. 3 f. zitiert nach juris) unter Würdigung der Umstände des Einzelfalls und des Maßes des Fehlverhaltens der Justiz an der Höhe der verhängten Strafe orientiert und angeordnet, dass jeweils 20 Tagessätze der gegen die Angeklagten jeweils verhängten Geldstrafe als vollstreckt gelten. Im vorliegenden Fall genügte insoweit die bloße Feststellung der Verzögerung zur Kompensation des Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK nicht mehr. Denn es war zu berücksichtigen, dass die Ungewissheit des Verfahrensausgangs über den – in Höhe von 10 Monaten vom Staat zu verantwortenden und damit im Vergleich zur Gesamtverfahrensdauer von etwa drei Jahren und fünf Monaten – nicht unerheblichen Zeitraum die Angeklagten aufgrund der Ungewissheit, ob es zu einer Verurteilung kommen würde, psychisch belastete, was sie gegenüber der Kammer glaubhaft erklärten.
172VI.
173Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 465 Abs. 1, 472 Abs. 1 S. 1 StPO.