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Die einstweilige Verfügung vom 21.10.2021 wird bestätigt.
Die weiteren Kosten des Verfahrens trägt die Verfügungsbeklagte.
Tatbestand
2Die Verfügungskläger sind unter dem Künstlernamen „H“ in den sozialen Medien aktiv. Der Verfügungskläger zu 1) leidet unter dem so genannten Tourette-Syndrom, welches sich bei ihm sowohl in motorischen als auch verbalen Tics äußert. Dieser ist nicht in der Lage, diese Tics zu kontrollieren. Der Umgang des Verfügungsklägers zu 1) mit der Krankheit ist der rote Faden der Social-Media-Aktivitäten der Verfügungskläger. Diese haben sich vor dem Hintergrund der authentischen Darstellung der Krankheit des Verfügungsklägers zu 1) dazu entschieden, die Tics grundsätzlich nicht aus ihren Beiträgen zu entfernen. Die Verfügungsbeklagte ist Unternehmerin, Bloggerin und Kolumnistin und befasst sich regelmäßig mit dem Thema Antisemitismus. Am 06.09.2020 veröffentlichten die Verfügungskläger auf dem von ihnen betriebenen YouTube-Kanal „H“ ein Video, in welchem sie mit dem Fernsehmoderator L Pflaumenkuchen backen. In dem Moment, in dem L das Backblech mit dem Kuchen mit den Worten, er schiebe jetzt den besten Pflaumenkuchen der Welt in den Ofen, in den Ofen schiebt, äußert der Verfügungskläger zu 1) „In den Ofen, grüß Anne Frank von mir". In der Folgezeit entfernten sie die Äußerung aus dem Video. Am 05.01.2020 veröffentlichte die Verfügungsbeklagte eine Sequenz des Videos mit dieser Äußerung auf dem von ihr betriebenen Instagram-Account K", die mit den Worten „NAZIS MIT MILLIONEN FOLLOWERN @H" versehen war. Am gleichen Tag veröffentlichte sie auf Ihrem Twitter-Account „@K" den folgenden Tweet
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4Mit anwaltlichem Schreiben vom 07.01.2021 forderten die Verfügungskläger die Verfügungsbeklagte zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung auf. Diese löschte daraufhin den Tweet bei Twitter.
5Die Verfügungskläger sind der Ansicht, sie seien in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt. Sie behaupten, die Äußerung „In den Ofen, grüß Anne Frank von mir" sei im Rahmen eines Tics aufgrund der Erkrankung des Verfügungsklägers zu 1) erfolgt. Sie sind der Ansicht, dass dahinstehen könne, ob man die Bezeichnung als „Nazi“ hier als Tatsachenbehauptung oder Meinungsäußerung einordne. Denn als Meinungsäußerung würde sie die Voraussetzungen einen unzulässigen Schmähkritik erfüllen, da sie sachgrundlos erfolgt sei und ausschließlich der persönlichen Herabsetzung der Antragsteller diene. Zu keinem anderen Ergebnis führe die Tatsache, dass die vom Verfügungskläger zu 1) im Rahme des Tics getätigte Äußerung objektiv durchaus geeignet wäre, im Hinblick auf die entäußernde Person einen ersten Verdacht für das Gutheißen rechten Gedankenguts anzunehmen. Dies könne hier jedoch schon keine Rolle spielen, weil der Verfügungskläger zu 1) diese Äußerung nicht bewusst getätigt habe, sondern eben im Rahmen eines Tics, auf den er keinen Einfluss gehabt habe, was die Verfügungsbeklagte ohne weiteres bei einer 10sekündigen Recherche hätte herausfinden können. Zu keinem anderen Ergebnis könne die Tatsache führen, dass die Verfügungskläger die Sequenz mit dem Tic zunächst nicht aus ihrem Videobeitrag entfernt haben, bevor sie diesen online gestellt haben. Denn dies sei ersichtlich nicht geschehen, um sich den Inhalt des Tics zu eigen zu machen, sondern um auch diesen Tic des Verfügungsklägers zu 1) als dessen Alltag darzustellen, so verfehlt dessen Inhalt auch gewesen sein mag.
6Mit Beschluss vom 21.10.2021 hat die Kammer im Wege der einstweiligen Verfügung angeordnet,
7der Antragsgegnerin wird es bei Meidung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000 €, ersatzweise für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, einer Ordnungshaft oder einer Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, zu vollstrecken an den Geschäftsführern, wobei die Ordnungshaft insgesamt zwei Jahre nicht übersteigen darf, verboten,
8die Antragsteller als „Nazis“ zu bezeichnen,
9wenn dies geschieht
10a. wie nachfolgend dargestellt in dem am 05.01.2021 auf der Plattform Twitter veröffentlichten, unter der URL https://twitter.com/Text entfernt abrufbaren, Tweet:
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12und/oder
13b. wie nachfolgend dargestellt in dem am 05.01.2021 auf der Plattform Instagram veröffentlichten, unter der URL https://www.instagram.com/Text entfernt abrufbaren, Video-Post:
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15Hiergegen hat die Verfügungsbeklagte mit Schriftsatz vom 21.01.2022 Widerspruch eingelegt.
16Die Verfügungskläger beantragen,
17die einstweilige Verfügung unter Zurückweisung des Widerspruchs zu bestätigen.
18Die Verfügungsbeklagte beantragt,
19die einstweilige Verfügung der Kammer vom 21. Januar 2021 aufzuheben und den Antrag auf den Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückzuweisen.
20Die Verfügungsbeklagte ist der Ansicht, dass den Verfügungsklägern kein Unterlassungsanspruch zustehe. Sie bestreite, dass die Äußerung im Rahmen eines Tics gefallen sei. Sie ist der Ansicht, dass es sich bei der Bezeichnung der Verfügungskläger als „Nazis“ um ein zulässiges Werturteil handle, dem ein zutreffender Tatsachenkern zugrunde liege. Denn wer angibt, er wolle jemanden vergasen und in diesem Zusammenhang die von den Nazis ermordete Jüdin Anne Frank, die zur Ikone der gepeinigten Juden geworden ist, verhöhne, sei fraglos ein Nazi. Selbst wenn man sich entgegen dem medizinischen Erkenntnisstand auf den Standpunkt stellen wolle, dass die Äußerung „In den Ofen, grüß Anne Frank von mir!“ auf einen sog. Tic zurückzuführen sei, ändere dies nichts an der rechtlichen Bewertung. Der Kritiker dürfe seine Meinung nämlich auch dann äußern, wenn sie andere für „falsch" oder für „ungerecht" hielten. In die vorzunehmende Abwägung sei ferner einzustellen, dass es sich um kein Live-Video gehandelt habe. Die Verfügungskläger hätten das Video daher vor Veröffentlichung dergestalt bearbeiten können und müssen, dass sie die menschenverachtende und möglicherweise sogar strafbare Äußerung herausgeschnitten hätten.
21Wegen der näheren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
22Mit Beschluss vom 27.06.2022 hat die Kammer mit Zustimmung der Parteien das schriftliche Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 ZPO mit einer Frist zur Einreichung von Schriftsätzen bis zum 17.08.2022 angeordnet.
23Entscheidungsgründe
24Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ist auch begründet.
25Die Verfügungskläger haben gegen die Verfügungsbeklagte einen Unterlassungsanspruch gemäß den §§ 1004 Abs. 1 S. 2, 823 Abs. 1 BGB, Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG.
26Bei der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts handelt es sich um einen sogenannten offenen Tatbestand, d. h. die Rechtswidrigkeit ist nicht durch die Tatbestandsmäßigkeit indiziert, sondern im Rahmen einer Gesamtabwägung der widerstreitenden Interessen unter sorgfältiger Würdigung aller Umstände des konkreten Einzelfalles und Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit positiv festzustellen (Sprau in: Palandt, Kommentar zum BGB, 78. Auflage 2019, § 823 BGB, Rn. 95 m. w. N.). Stehen sich als widerstreitende Interessen - wie vorliegend - die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) und das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (Artt. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG) gegenüber, kommt es für die Zulässigkeit einer Äußerung maßgeblich darauf an, ob es sich um Tatsachenbehauptungen oder Meinungsäußerungen handelt. Tatsachen sind innere und äußere Vorgänge, die zumindest theoretisch dem Beweis zugänglich sind und sich damit als wahr oder unwahr feststellen lassen, während Meinungsäußerungen durch das Element der Stellungnahme, des Meines und Dafürhaltens geprägt sind. Unabdingbare Voraussetzung für eine zutreffende Einordnung einer Äußerung ist die Ermittlung des Aussagegehalts. Dabei darf nicht isoliert auf den durch den Antrag herausgehobenen Text abgestellt werden. Vielmehr ist dieser im Zusammenhang mit dem gesamten Aussagetext zu deuten. Dabei ist auf den objektiven Sinn der Äußerung aus der Sicht eines unvoreingenommenen Durchschnittslesers abzustellen (vgl. BGH, NJW 1998, 3047). Auch wenn sich wertende und tatsächliche Elemente in einer Äußerung so vermengen, dass diese insgesamt als Werturteil anzusehen ist, kann die Richtigkeit der tatsächlichen Bestandteile im Rahmen einer Abwägung der Rechte eine Rolle spielen. Enthält die Meinungsäußerung erwiesen falsche oder bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen, so wird regelmäßig das Grundrecht der Meinungsfreiheit hinter dem durch das grundrechtsbeschränkende Gesetz geschützten Rechtsgut zurücktreten. Jedenfalls fällt die Richtigkeit des tatsächlichen Äußerungsgehalts, der dem Werturteil zugrunde liegt, regelmäßig bei der Abwägung ins Gewicht. Anders liegt es nur, wenn der tatsächliche Gehalt der Äußerung so substanzarm ist, dass er gegenüber der subjektiven Wertung in den Hintergrund tritt. Wenn sich einer Äußerung die Behauptung einer konkret greifbaren Tatsache nicht entnehmen lässt und sie bloß ein pauschales Urteil enthält, tritt der tatsächliche Gehalt gegenüber der Wertung zurück und beeinflusst die Abwägung nicht (vgl. BGH, Urteil vom 11.03.2008 - VI ZR 189/06).
27Im Gegensatz zur Tatsachenbehauptung misst eine Meinungsäußerung einen Vorgang oder Zustand an einem vom Kritiker gewählten Maßstab. Es kommt darauf an, ob die Äußerung durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder des Meinens geprägt ist. Auf den Wert, die Richtigkeit oder die Vernünftigkeit der Äußerung kommt es nicht an (vgl. BVerfG, NJW 1983, 1415, 1416). Mit Rücksicht auf die Meinungsfreiheit ist der Begriff der Meinung in Art. 5 Abs. 1 GG grundsätzlich weit zu verstehen: Sofern eine Äußerung durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägt ist, fällt sie in den Schutzbereich des Grundrechts. Das muss auch dann gelten, wenn sich diese Elemente - wie häufig - mit Elementen einer Tatsachenmitteilung oder -behauptung verbinden oder vermischen, jedenfalls dann, wenn beide sich nicht trennen lassen und der tatsächliche Gehalt gegenüber der Wertung in den Hintergrund tritt (vgl. BVerfG, a.a.O.).
28Die Schmähkritik zeichnet sich dadurch aus, dass der Anwurf auch aus der eigenen Sicht des Kritikers keine verwertbare Grundlage mehr hat (vgl. BVerfG, NJW 1991, 1475, 1477). Da es der Sinn jeder zur Meinungsbildung beitragenden öffentlichen Äußerung ist, Aufmerksamkeit zu erregen, sind angesichts der heutigen Reizüberflutung einprägsame, auch starke Formulierungen hinzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.11.1968 – 1 BvR 501/62). Das gilt auch für Äußerungen, die in scharfer und abwertender Kritik bestehen, mit übersteigerter Polemik vorgetragen werden oder in ironischer Weise formuliert sind (vgl. BGH, VersR 1994, 57; VersR 1986, 992). Der Kritiker darf seine Meinung grundsätzlich auch dann äußern, wenn sie andere für „falsch“ oder für „ungerecht“ halten (vgl. BGH, NJW 2000, 3421; VersR 1994, 57; NJW 1978, 1797). Auch die Form der Meinungsäußerung unterliegt der durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Selbstbestimmung des Äußernden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.04.1982 – 1 BvR 426/80). Wegen seines die Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG verdrängenden Effekts ist der Begriff der Schmähkritik deshalb eng auszulegen. Auch eine überzogene, ungerechte oder gar ausfällige Kritik macht eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Von einer solchen kann vielmehr nur dann die Rede sein, wenn bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung des Betroffenen im Vordergrund steht, der jenseits polemischer und überspitzter Kritik herabgesetzt und gleichsam an den Pranger gestellt werden soll (vgl. BGH, NJW 2002, 1192, m.w.N.). Eine Meinungsäußerung wird nicht schon wegen ihrer herabsetzenden Wirkung für Dritte zur Schmähung. Hinzukommen muss vielmehr, dass die persönliche Kränkung das sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund drängt. Die Beurteilung dieser Frage erfordert regelmäßig, den Anlass und den Kontext der Äußerung zu beachten (vgl. BVerfG, NJW 2009, 3016).
29Vor diesem Hintergrund stellt die Bezeichnung der Verfügungskläger als „Nazis“ eine Meinungsäußerung dar, die diese mangels Vorliegens eines die Äußerung tragenden Tatsachenkerns nicht hinzunehmen haben. Der Verfügungsbeklagten ist zwar insoweit zuzustimmen, dass die Äußerung des Verfügungsklägers zu 1) „In den Ofen, grüß Anne Frank von mir.“ das getroffene Werturteil zweifellos tragen kann. Allerdings hat der Verfügungskläger zu 1) durch Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung vom 15.01.2021 glaubhaft gemacht, dass die Äußerung im Rahmen eines von ihm nicht steuerbaren Tics erfolgt ist. Eine Äußerung, die nicht willentlich, sondern krankheitsbedingt nicht steuerbar getroffen wurde, scheidet als Tatsachengrundlage aus.
30Die Verfügungsbeklagte kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, von der Erkrankung des Verfügungsklägers zu 1) nichts gewusst zu haben. Die Verfügungskläger kommunizieren die Erkrankung des Verfügungsklägers zu 1) offen. Diese spiegelt sich sogar in ihrem Künstlernamen wider. Vor diesem Hintergrund trägt die Verfügungsbeklagte das Risiko dafür, dass eine von ihr wahrgenommene Tatsachengrundlage die von ihr wiedergegebene Meinungsäußerung auch tatsächlich trägt oder ggf. unvollständig oder unzutreffend ist. Ein Verschulden setzt der Unterlassungsanspruch nicht voraus.
31Eine andere rechtliche Bewertung folgt auch nicht daraus, dass die Verfügungskläger das Video zunächst mit der Aussage auf ihrem YouTube-Kanal „H“ veröffentlicht haben. Es erscheint aus Sicht der Kammer zwar äußerst zweifelhaft, ob eine derart geschmacklose Aussage auch dann, wenn sie nicht willentlich entäußert wurde, öffentlich verbreitet werden sollte. Allerdings trägt auch dieser Vorgang die Meinungsäußerung nicht. Denn die Veröffentlichung erfolgte auf dem eigenen YouTube-Kanal der Verfügungskläger, in dem unter der Kanalinfo angegeben ist, dass die Verfügungskläger über „K1 Leben mit dem Tourette-Syndrom namens „H1“ und den damit verbundenen Begleiterkrankungen“ berichten. Den dortigen Rezipienten steht also vor Augen, dass nicht alle von dem Verfügungskläger zu 1) getroffenen Äußerungen tatsächlich willentlich erfolgen und seine persönlichen Ansichten wiedergeben.
32Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO analog.
33Streitwert: 20.000,- €