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Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand:
2Die Klägerin verlangt von der Beklagten Zahlung aus abgetretenem Recht aus einem J.-Versicherungsvertrag.
3Die Klägerin schloss auf Vermittlung der N. mit der H. GmbH mit Versicherungsbeginn am 01.07.0000 eine J.-Versicherung mit einer Versicherungssumme von 1.000.000,00 EUR. Bei der H. GmbH handelt es sich um eine Versicherungsgemeinschaft. Die Beklagte ist führender Versicherer mit einer Beteiligung von 7,25 %. Auf den Versicherungsschein (Anlage K 1, Bl. 45 GA) sowie die zugehörigen Versicherungsbedingungen (H.-L+N 2019, Anlage K 2, Bl. 53 ff. GA) wird Bezug genommen.
4Gemäß § 1 der H.-L+N 2019 ist folgendes Risiko versichert:
5„§ 1 Versichertes Risiko
61 Versicherungsfall
7Die Versicherer der H. Versicherungsgemeinschaft (im Folgenden H. genannt) gewähren — im gesetzlichen Rahmen weltweit — Versicherungsschutz für den Fall, dass versicherte Personen wegen einer bei der versicherten Tätigkeit begangenen Pflichtverletzung auf Ersatz eines Vermögensschadens in Anspruch genommen werden.
8Versicherungsfall ist nicht die Pflichtverletzung, sondern die erstmalige Inanspruchnahme auf Ersatz eines Vermögensschadens in Textform. Der erstmaligen Inanspruchnahme stehen, soweit sie erstmalig und in Textform erfolgen, gleich:
9> eine Streitverkündung gegenüber einer versicherten Person,
10> die Aufrechnung mit einem nach diesem Vertrag versicherten Haftpflichtanspruch gegen eine von einer versicherten Person erhobene Forderung,
11(…)“
12Gemäß § 5 Ziff. 1 der H.-L+N 2019 sind natürliche Personen als Mitglieder der Geschäftsführung versicherte Personen.
13§ 2 Ziff. 2 lautet:
14„2 Freistellung von Haftpflichtansprüchen
152.1 Schadenersatz
16Die H. stellt eine versicherte Person von dem gegen sie erhobenen Schadenersatzanspruch frei, soweit dieser durch rechtskräftiges Urteil, Anerkenntnis oder Vergleich festgestellt worden ist und soweit von der versicherten Person kein Selbstbehalt im Sinne von § 3 Ziffer B. zu tragen ist. § 13 (Anerkenntnis, Vergleich, Befriedigung) bleibt unberührt.“
17Gemäß § 15 Ziff. 2 kann der Leistungsanspruch gegen die H. gemäß § 2 Ziffer 2.1. (Schadenersatz) und Ziffer 2.2. (Zinsen) ohne schriftliche Zustimmung der H. nur an den Geschädigten abgetreten werden.
18Gemäß § 15 Ziff. 5 ist als ausschließlicher Gerichtsstand Köln vereinbart.
19Die Klägerin (vormals F. GmbH) entwickelt, produziert und vertreibt Abdichtungstechnik für den Massiv- und Fensterbau. Sie ist auf die Herstellung von Dichtungsbändern spezialisiert, die aus hoch brennbaren Kunststoffen bestehen. Die Klägerin ist eines von fünf produzierenden Gewerbebetrieben des Unternehmens V.. Die einzelnen Betriebe werden als eine Gruppe unabhängiger Unternehmen geführt.
20Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche gegenüber ihrem früheren Geschäftsführer, dem Zeugen Rüdiger P., geltend, die sie aus § 43 Abs. 2 GmbHG ableitet.
21Der Zeuge P. war von 0000 bis zum 21.05.0000 Geschäftsführer der Klägerin. Auf den Geschäftsführeranstellungsvertrag vom 15.04.2013/17.05.2013 (Anlage K 4, Bl. 88 ff. GA) wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.
22In der Zeit vom 22.12.2017 bis zum 30.10.2018 war neben dem Zeugen P. zudem Herr U. L. weiterer Geschäftsführer der Klägerin.
23Die Klägerin unterhielt für ihre Produktionsstätte am Standort M.-straße, 00000 Q. eine Feuerversicherung bei der A., ebenfalls vermittelt durch die N.. Auf den Versicherungsschein (Anlage K 6, Bl. 100 GA) wird Bezug genommen. In der Inventarversicherung war eine Versicherungssumme von 840.000,00 EUR vereinbart, bezüglich des Ertragsausfalles bei Feuer eine Versicherungssumme in Höhe von 917.000,00 EUR. Die Haftzeit im Falle eines Ertragsausfallschadens betrug 12 Monate.
24Am 29.06.2017 fand ein Beratungstermin mit der N. statt, an welchem der Zeuge P. teilnahm. Ausweislich des Beratungsprotokolls (Anlage K 7, Bl. 104 GA) wurden in dem Termin sämtliche Versicherungsverträge besprochen. Zu Ziff. 3.3. „Inventar“ ergibt sich aus dem Protokoll, dass die Versicherungssumme zur Betriebsunterbrechung mit 917.000,00 EUR deutlich zu knapp bemessen sei. Der Versicherungsschutz sollte bei etwa 2 Millionen EUR liegen. Weiter heißt es: „Für eine passende Ermittlung wird N. einen Fragebogen an den Kunden senden.“
25Am 15.05.2018 fand ein Folgeberatungsgespräch mit der N. statt, an dem ebenfalls der Zeuge P. teilnahm. In dem Protokoll (Anlage K 8, Bl. 106 GA) heißt es unter Ziff. 3.2. (Inventar):
26„Der Vertrag soll unverändert fortgeführt werden. Die aktuellen Versicherungssummen sind gemäß Aussage von Herrn P. zutreffend. Der Sachverhalt zu Betriebsunterbrechung wurde intensiv diskutiert. Mit der aktuellen Versicherungssumme von 917.000€ wären kleinere Schäden abgesichert. Einen angenommenen Totalschaden durch Feuer würde das Unternehmen nicht verkraften, weil der Wiederaufbau mindestens 12 Monate in Anspruch nehmen würde und die Abnehmer sich bis dahin längst anderweitig versorgt hätten und eine Kundenrückgewinnung kaum vorstellbar wäre. Eine Ausweitung der Haftzeit und Erhöhung der Versicherungssumme wurde entgegen der ausdrücklichen Empfehlung nicht gewünscht. In dem neuen Objekt wird eine Löschanlage installiert, die im Falle eines Feuers den Totalschaden verhindern soll.
27Eine Prüfung der Konditionen (Ausschreibung) soll rechtzeitig für eine etwaige Optimierung zum 01.04.2019 durch N. vorgenommen werden.“
28Am 26.09.0000 kam es in der versicherten Produktionsstätte der Klägerin zu einem Großbrand. Hierdurch entstand Schaden an der im Eigentum der Klägerin stehenden und genutzten Fertigungshalle sowie an dort vorhandenen Betriebseinrichtungen. Der Sachversicherer, die I. AG, regulierte aufgrund der Unterversicherung in der abgeschlossenen Feuer- und Betriebsunterbrechungsversicherung den Schaden nur teilweise.
29Mit anwaltlichem Schreiben vom 06.12.2019 (Anlage K 19, Bl. 210 GA) teilte der Bevollmächtigte der Klägerin (Rechtsanwalt W.) dem Bevollmächtigten des Zeugen P. (Rechtsanwalt Y.) mit, dass gegenüber diesem Schadensersatzansprüche geltend gemacht würden. Dabei warf die Klägerin dem Zeugen P. vor, er habe zum einen keine ausreichende Betriebsunterbrechungsversicherung für Feuerschäden hinsichtlich der Versicherungssumme als auch Haftzeit bei Betriebsunterbrechungsschäden vereinbart. Zum anderen habe er auch keine hinreichende Versicherungssumme in der Feuerversicherung für das Betriebsinventar bei Feuerschäden vereinbart.
30Namens der Klägerin wurde in dem Schreiben sodann „mit der Schadensersatzforderung in Höhe von 625.634,00 EUR“ gegenüber einer offenbar vom Zeugen P. geltend gemachten Arbeitslohnforderung die Aufrechnung in Höhe von 10.464,52 EUR und 1.358,86 EUR erklärt und zur Zahlung des überschießenden Betrages in Höhe von 613.810,00 EUR aufgefordert. Die Klägerin hält nicht mehr an der Aufrechnungserklärung fest. Vielmehr hat sie die damals noch offenen Lohnforderungen des Zeugen P. zwischenzeitlich beglichen.
31Der Zeuge P. trat seinen Deckungsanspruch aus der J.-Police mit schriftlicher Vereinbarung vom 14.01.2021 (Unterzeichnung für die Klägerin) und 27.01.2021 (Unterzeichnung durch den Zeugen P.) an die Klägerin ab (Anlage K 20, Bl. 215 GA).
32Unter denselben Daten schlossen die Klägerin und der Zeuge P. eine weitere schriftliche Vereinbarung, in welcher sich die Klägerin u.a. gegenüber dem Zeugen P. verpflichtete, keinerlei Vollstreckungsmaßnahmen gegen diesen aus einem möglichen rechtskräftigen Zahlungstitel wegen des hier gegenständlichen Sachverhalts im Hinblick auf die ausgeführten Pflichtverletzungen durchzuführen (Anlage R6, Bl. 449 GA).
33§ 2 (Rechte der V.) der letztgenannten Vereinbarung lautet:
34V. stehen nach ihrer Wahl die folgenden Rechte zu (,,Einräumung von Rechten")
352.1 V. und Herr P. schlossen eine Abtretungsvereinbarung, unter der Herr P. die Abtretung von Freistellungsansprüchen unter und im Zusammenhang mit der J.-Police an V. im Hinblick auf vorstehenden Sachverhalt erklärte und V. die Abtretung annahm (,,Abtretung").
362.2 Herr P. wird V. im Rahmen eines in Ansehung der Abtretung eingeleiteten gerichtlichen bzw. schiedsgerichtlichen Verfahrens von V. gegen die D.-AG (führender Versicherer) - soweit gesetzlich und unter der J.-Police zulässig - unter anderem durch Auskunftserteilung unterstützen.
372.3 V. kann die ihr nach der Abtretung unter der J.-Police zustehenden Direktansprüche auf Versicherungsleistungen geltend machen. Auch in diesem Fall gilt die unter 2.2 beschriebene Mitwirkungspflicht von Herrn P..“
38§ 3 (Vollstreckungsschutz für Herrn P.) der Vereinbarung lautet:
39„Als Gegenleistung für die Einräumung von Rechten nach § 2 dieser Vereinbarung verpflichtet sich V gegenüber Herrn P., keinerlei Vollstreckungsmaßnahmen gegen Herrn P. aus einem möglichen rechtskräftigen Zahlungstitel wegen des in der Präambel geschilderten Sachverhalts im Hinblick auf mögliche Pflichtverletzungen von Herrn P. durchzuführen (,,pactum de non petendo"). Die Parteien stellen klar, dass durch das pactum de non petendo der Bestand der zuvor abgetretenen Forderungen nicht beeinträchtigt wird.“
40Mit außergerichtlichem Schreiben vom 05.03.2021 (Anlage K 22, Bl. 239 GA) forderte die Klägerin sodann die H. GmbH zur Zahlung in Höhe von 1.000.000,00 EUR bis zum 19.03.2021 auf.
41Die Klägerin behauptet, der Zeuge P. sei verantwortlich für den Versicherungsschutz der Klägerin gewesen, was sich bereits daran zeige, dass er – auch nach dem Eintritt des Zeugen L. als weiterer Geschäftsführer – die Jahresgespräche zum Versicherungsschutz mit der N. geführt habe. Er habe über Anpassungen der Versicherungsverträge eigenverantwortlich entschieden. Sie behauptet, die Abtretung der streitgegenständlichen Forderung durch den Zeugen P. sei lediglich erfüllungshalber erfolgt und das geschlossene pactum de non petendo habe nur temporäre Geltung.
42Die Klägerin behauptet weiter, sie habe durch die Pflichtverletzungen des Zeugen P. einen Schaden in Höhe von 1.155.039,20 EUR erlitten. Mit Schriftsatz vom 21.02.2022 hat die Klägerin die Schadenshöhe auf 1.220.004,70 EUR korrigiert (Differenz beim Inventarschaden aufgrund falscher Angabe der abgezogenen Versicherungsleistung). Wegen der Schadenspositionen im Einzelnen wird auf die Aufstellung in der Replik der Klägerin vom 21.02.2022 (Bl. 354 ff. GA) verwiesen.
43Hinsichtlich der Einzelheiten nimmt die Klägerin auf die Schadensberechnung des Sachverständigen Schulz und dessen Schlussbericht sowie den Schlussbericht den Sachverständigen Schneider, Anlagen K 10, K 11 und K 12 (Bl. 114 ff. GA), Bezug. Zahlungen des Sachversicherers in Höhe von 826.455,00 EUR bringt die Klägerin in Abzug. Außerdem sei gerettetes Inventar im Wert von 92.635,00 EUR abzuziehen. Auch hinsichtlich des Betriebsunterbrechungsschadens bezieht sich die Klägerin auf die Schadensberechnung zum Betriebsunterbrechungsschaden des Sachverständigen Schneider, Anlagen K 13 und K 14 (Bl. 138 ff. GA). Hiervon zieht die Klägerin Zahlungen des Sachversicherers in Höhe von 962.850,00 EUR ab.
44Die Klägerin beantragt,
45die Beklagte zu verurteilen, an sie EUR 72.500,00 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20. März 2021 zu zahlen.
46Die Beklagte beantragt,
47die Klage abzuweisen.
48Die Beklagte bestreitet die behaupteten Pflichtverletzungen des Zeugen P.. Dieser sei nicht für das Ressort „Versicherungen“ zuständig gewesen. Zudem könne aus dem Beratungsprotokoll vom 29.06.2017 bereits deswegen keine Pflichtverletzung hergeleitet werden, weil zunächst ein Fragebogen zur Ermittlung versendet werden sollte. Die Ermittlung des Risikos sei daher noch nicht abgeschlossen gewesen.
49Den geltend gemachten Gesamtschaden rügt die Beklagte als unsubstantiiert und bestreitet diesen mit Nichtwissen.
50Die Beklagte ist weiter der Ansicht, dass der Anspruch der Klägerin jedenfalls an dem Ausschluss nach § 3 Ziff. 6.1 scheitere, weil der Zeuge P. – die Richtigkeit des klägerischen Vortrags unterstellt – eine wissentliche Pflichtverletzung begangen habe.
51Letztlich läge auch eine arglistige Auskunftsobliegenheitsverletzung vor (§ 12 Ziff. 2). Der Zeuge P. habe der H. GmbH vorgerichtlich mitgeteilt, dass der weitere Geschäftsführer U. L. sich jedwede Frage zu versicherungstechnischen Belangen stets vorbehalten habe. Sollte sich der Vortrag der Klägerin als wahr erweisen, hätte der Zeuge P. damit gegenüber der H. GmbH die Unwahrheit gesagt.
52Die Klägerin vertritt die Ansicht, dass der Zeuge P. keine Auskunftsobliegenheitsverletzung vorzuwerfen sei, weil er in seiner Stellungnahme bzgl. der Ressortverteilung lediglich seine unzutreffende Rechtsmeinung wiedergegeben habe. Überdies stelle sich die Berufung der Beklagten auf die Leistungsfreiheit als unzulässige Rechtsausübung dar, weil ein Verlust des Versicherungsschutzes den Zeugen P. in seiner Existenz bedrohe.
53Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die von den Parteien gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
54Entscheidungsgründe:
55I.
56Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
571.
58Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Zahlungsanspruch aus abgetretenem Recht aus dem Versicherungsvertrag. Mit dem Abschluss der gegenständlichen Vereinbarungen zwischen der Klägerin und dem Zeugen P. (Anlagen K20 und insbesondere R6) liegt kein bedingungsgemäßer Versicherungsfall mehr vor.
59Dem streitgegenständlichen Vertrag liegt das Claims-Made-Prinzip zugrunde. Versicherungsfall ist daher nicht der Eintritt des Schadensereignisses in versicherter Zeit, sondern die erstmalige Inanspruchnahme auf Ersatz eines Vermögensschadens.
60Nach dem Wortlaut der beiden o.g. Vereinbarungen zwischen der Klägerin und dem Zeugen P. (Anlagen K20 und R6) ist die Abtretung des Freistellungsanspruchs durch den Zeugen P. gemäß § 1 der Abtretungsvereinbarung – entgegen dem Vortrag der Klägerin – nicht bloß erfüllungshalber, sondern an Erfüllungs statt im Sinne des § 364 Abs. 1 BGB erfolgt. Damit liegt eine ernsthafte Inanspruchnahme des Zeugen P. nicht mehr vor. In der Folge fehlt es an einem bedingungsgemäßen Versicherungsfall.
61Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 13.04.2016 (IV ZR 304/13) steht dieser Annahme nicht entgegen. Zunächst lag der Entscheidung des Bundesgerichtshofs erkennbar die Annahme zugrunde, dass eine Abtretung des Freistellungsanspruchs an den geschädigten Versicherungsnehmer „in aller Regel erfüllungshalber“ erfolgt (Rn. 26, zitiert nach Juris). Der Bundesgerichtshof geht zudem davon aus, dass bei Geltung des Claims-Made-Prinzips die Inanspruchnahme als einseitige Willenserklärung ernsthaft darauf gerichtet sein muss, Ersatz für einen nach der Behauptung des Geschädigten vom Versicherten zu verantwortenden Schaden zu erhalten, dies ergebe sich bereits aus §§116 bis 118 BGB (Rn. 28).
62Eine Inanspruchnahme im Sinne der Versicherungsbedingungen liegt nicht mehr vor, wenn auf den Haftpflichtanspruch gänzlich verzichtet wird, dieser erlassen wird oder durch die Abtretung des Deckungsanspruchs an Erfüllungs statt erlischt. In diesen Fällen kann nicht mehr von einem Versicherungsfall im Sinne der gegenständlichen Versicherungsbedingungen ausgegangen werden.
63Im Einzelnen:
64Zunächst lässt sich dem Wortlaut der Abtretungsvereinbarung (§ 1) nicht entnehmen, dass es sich lediglich um eine Abtretung erfüllungshalber handelt. Ferner besteht eine Vermutung für die Hingabe an Erfüllungs statt, wo – wie hier – ein Rückgriff auf die ursprüngliche Forderung nach dem Zweck der Hingabevereinbarung ausgeschlossen ist (vgl. Buck-Heeb in: Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 364 BGB Rn. 13).
65Denn dem Wortlaut der Vereinbarungen lässt sich entgegen der Behauptung der Klägerin nicht entnehmen, dass der pactum de non petendo nur temporäre Geltung haben soll. Entsprechendes ist insbesondere nicht in § 3 („Vollstreckungsschutz für Herrn P.“) aufgenommen worden. In dieser Klausel hat sich die Klägerin verpflichtet, „keinerlei“ Vollstreckungsmaßnahmen gegen den Zeugen P. aus einem möglichen rechtskräftigen Zahlungstitel durchzuführen. Der Vollstreckungsverzicht gilt damit sowohl sachlich wie auch zeitlich unbeschränkt. Eine Geltendmachung des Haftpflichtanspruchs gegenüber dem Zeugen P. hätte für die Klägerin folglich keinen Wert, auch nicht nach vorheriger erfolgloser Inanspruchnahme der beklagten Versicherung. Denn gemäß dem weiten, unbeschränkten Wortlaut des pactum de non petendo hat dieser auch Geltung nach erfolgloser Inanspruchnahme der Versicherung. Hieran ändert auch nichts, dass es im letzten Satz von § 3 heißt, der Bestand der abgetretenen Forderung werde durch das pactum de non petendo nicht beeinträchtigt. Denn angesichts des umfassenden Vollstreckungsverzichts erscheint es ausgeschlossen, dass die Klägerin – nach erfolgloser Inanspruchnahme der Beklagten – an den Zeugen P. herantritt und den Haftpflichtanspruch gegenüber diesem geltend macht. Mangels Vollstreckungsmöglichkeit wäre dieses Vorgehen lediglich mit Kosten für die Klägerin verbunden. Im Ergebnis kann den vorgelegten Vereinbarungen damit nur entnommen werden, dass der Zeuge P. schadensersatzrechtlich außen vor gelassen werden soll. In der Sache hat der pactum de non petendo damit die Wirkung eines vertraglichen Verzichts der Klägerin auf den Haftpflichtanspruch.
66Vor dem Hintergrund dieser Auslegung erklären sich auch die in § 2.2 und 2.3. geregelten umfassenden Auskunfts- und Mitwirkungspflichten des Zeugen P. bei einer Geltendmachung des Direktanspruchs gegen die Beklagte durch die Klägerin.
672.
68Die Vereinbarung in § 3 (Vollstreckungsschutz) hat auch nicht bloß deklaratorischen Charakter. Beide Vereinbarungen stellen vielmehr einen gegenseitigen Vertrag dahingehend dar, dass die Abtretung nicht ohne den Vollstreckungsverzicht und umgekehrt erfolgt wäre (Prinzip des „do ut des“). Dies folgt bereits aus dem Wortlaut von § 3 („Als Gegenleistung für die Einräumung von Rechten nach § 2 dieser Vereinbarung…“). In § 2 ist ausdrücklich auch die Abtretung des Freistellungsanspruchs und folglich das Recht der Klägerin, den Direktanspruch gegen die Versicherung geltend zu machen, aufgeführt.
69Dass es sich um zwei gesonderte Vertragsurkunden handelt, steht dieser Annahme nicht entgegen. Insofern kommt es nicht allein auf die äußere Form der Vereinbarungen an. Die Klägerin und der Zeuge P. unterzeichneten beide Vereinbarungen jeweils am selben Tag, aber mit erheblichem zeitlichem Abstand (Unterschrift des Zeugen P. jeweils am 27.01.2021, Unterschrift der Klägerseite jeweils am 14.01.2021). Es ist daher davon auszugehen, dass das Angebot des Abschlusses der Vereinbarung, Anlage R6, bereits vorlag, bevor die Vereinbarung, Anlage K20, angenommen worden war. Der Wortlaut des § 2.1 der Vereinbarung, Anlage R6, („schlossen eine Abtretungsvereinbarung“) kann mithin nicht dahingehend ausgelegt werden, dass die Vereinbarung, Anlage K20, tatsächlich zeitlich vor und unabhängig von dem Abschluss der Vereinbarung, Anlage R6, angenommen wurde. Die Umstände des Abschlusses der Vereinbarungen lassen allein den Schluss zu, dass jeweils Angebot der Leistung und Annahme der Gegenleistung gleichzeitig erfolgten.
703.
71Letztlich greift auch der Verweis der Klägerin auf die Regelung des § 106 Satz 2 VVG nicht durch. Hiernach hat der Versicherer, wenn der Dritte von dem Versicherungsnehmer mit bindender Wirkung für den Versicherer befriedigt worden ist, die Entschädigung innerhalb von zwei Wochen nach der Befriedigung des Dritten an den Versicherungsnehmer zu zahlen. Eine Befriedigung des Haftpflichtanspruchs liegt auch dann vor, wenn der Versicherungsnehmer den Anspruch auf Freistellung an Erfüllungs statt an den Dritten abtritt. Der auf Freistellung gerichtete Anspruch wandelt sich dann im Zeitpunkt der Abtretung in der Person des Dritten in einen Anspruch auf Zahlung um (Bruck/Möller, VVG, 10. Aufl., 2022, § 106 Rn. 46).
72Die Regelung des § 106 VVG, die systematisch zu den allgemeinen Vorschriften über die Haftpflichtversicherung gehört, kann vorliegend jedoch nicht ohne Berücksichtigung der Besonderheiten in der J.-Versicherung angewandt werden. Voraussetzung jedes Anspruches aus Versicherungsvertrag ist zunächst das Vorliegen eines Versicherungsfalles, was anhand des konkreten Versicherungsvertrages und der einbezogenen Versicherungsbedingungen zu prüfen ist. Erst nach Feststellung, dass ein Versicherungsfall vorliegt, kann weiter geprüft werden, wie sich eine etwaige Befriedigung des Haftpflichtanspruchs auf das Verhältnis zum Versicherer auswirkt. Das VVG legt bewusst nicht fest, welcher Vorgang in der Haftpflichtversicherung den Versicherungsfall darstellt und überlässt dies der Klärung durch das vereinbarte Vertragswerk. In der J.-Versicherung stellt nach dem Claims-made-Prinzip die Anspruchserhebung selbst den Versicherungsfall dar (Prölss/Martin, VVG, a.a.O., Rn. 26; Ruks in: BeckOK VVG, Marlow/Spuhl, 15. Edition, Stand: 02.05.2022, § 100 VVG Rn. 8). Wird der Anspruch nicht (mehr) erhoben bzw. sogar – wie hier – auf die Anspruchsdurchsetzung gegenüber dem Schädiger verzichtet, liegt kein Versicherungsfall mehr vor. Auf die Regelung des § 106 Satz 2 VVG kommt es dann nicht mehr an.
734.
74Soweit die Klägerin an der Aufrechnungserklärung gegenüber dem Zeugen P. in dem Schreiben des Rechtsanwalts W. vom 06.12.2019 nicht mehr festhält, und die Forderungen, gegen die aufgerechnet worden war, beglichen hat, kann offen bleiben, ob es auch insoweit an einer Inanspruchnahme fehlt oder diese nachträglich entfallen ist.
755.
76Die Nebenforderungen teilen das Schicksal der Hauptforderung.
77II.
78Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1, 709 ZPO.
79Der Streitwert wird auf 72.500,00 EUR festgesetzt.