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Auf die Berufung des Klägers vom 27.07.2020 (Bl. 441) wird das Urteil des Amtsgerichts L vom 23.06.2020 – Az.: 210 C 224/17 – (Bl. 411 ff.) teilweise aufgehoben und klarstellend wie folgt insgesamt neu gefasst:
„Die Klage wird abgewiesen.
Das Mietverhältnis über die 2-Zimmer-Wohnung C-Straße 00, 00000 L, 3. OG links, Vorderhaus, ca. 70 qm groß, wird auf unbestimmte Zeit fortgesetzt zu folgenden, ab dem 01.11.2021 geltenden Bedingungen: Die monatliche Kaltmiete beträgt 518,00 Euro zuzüglich Betriebskostenvorauszahlung wie bisher. Im Übrigen gelten die Bedingungen gemäß Mietvertrag vom 23.06.1977 fort.
Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.“
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags.
Gründe
2I.
3Wegen der Darstellung des Tatbestands wird auf die Ausführungen in dem angefochtenen Urteil des Amtsgerichts Bezug genommen, § 540 Abs. 1 ZPO.
4Hinzufügen ist, dass sich die Beklagte im Berufungsverfahren für den Fall der Fortsetzung des Mietverhältnisses mit einer Anhebung der Miete in einer Größenordnung von 7,40 Euro pro qm entsprechend dem Mietspiegelfeld für die streitgegenständliche Wohnung einverstanden erklärt hat.
5Der Kläger beantragt im Berufungsverfahren nunmehr,
6die Beklagte zu verurteilen, die Räumlichkeiten C-Straße 00, 00000 L, 3. Obergeschoss links, Vorderhaus, Wohnung Nr. 12, Größe 78 qm, zu räumen und geräumt an ihn herauszugeben,
7hilfsweise, die Fortsetzung des Mietverhältnisses über die Räumlichkeiten benannt gemäß Klageantrag zu 1) lediglich befristet für maximal ein Jahr und unter Neufestsetzung der Miete im Rahmen der Fortsetzung auf eine monatliche Miete nicht unter 655 Euro netto kalt zuzüglich Nebenkostenvorauszahlung auf die nach der Betriebskostenverordnung umlagefähigen Betriebskosten in Höhe von nicht unter 80,00 Euro monatlich nach § 574a BGB auszusprechen.
8Die Beklagte beantragt,
9die Berufung zurückzuweisen.
10II.
11Zu Recht hat das Amtsgericht die Klage abgewiesen und die Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit ausgesprochen. Lediglich die Modalitäten der Fortsetzung waren nach Auffassung der Kammer weitergehend anzupassen.
12Zwar hat das Amtsgericht insoweit zunächst zu Recht festgestellt, dass die ausgesprochene Eigenbedarfskündigung vom 03.04.2017 wirksam ist. Diese Feststellung ist in der Berufungsinstanz auch nicht angegriffen worden.
13Allerdings war das Mietverhältnis auf den rechtzeitigen Widerspruch der Beklagten vom 30.10.2017 gemäß §§ 574, 574a BGB fortzusetzen. Nach diesen Vorschriften kann der Mieter der Kündigung widersprechen und von dem Vermieter Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für den Mieter, seine Familie oder einen anderen Angehörigen seines Haushalts eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. Dabei können Krankheiten, welche die Räumung hindern, eine derartige Härte darstellen. Insbesondere kann es eine Härte darstellen, wenn der Mieter durch den Erlass eines Räumungstitels suizidgefährdet wird (Blank, in: Schmidt-Futterer, Mietrecht, 13. Aufl. § 574 BGB Rn. 47 ff.).
14Diese Voraussetzungen liegen im streitgegenständlichen Fall vor. Zu Recht ist das Amtsgericht insoweit nach der erfolgten Beweisaufnahme davon ausgegangen, dass die Gefahr eines Suizids bei der Beklagten für den Fall einer Verurteilung zur Räumung besteht. Der Sachverständige T hat in seinem Gutachten vom 07.11.2018, seiner Anhörung vom 22.03.2019 und seinem Ergänzungsgutachten vom 11.11.2019 nachvollziehbar und überzeugend dargelegt, dass die Beklagte an eine rezidivierenden depressiven Störung leidet und die Suizidintention bei ihr sehr stark ausgeprägt ist. Er schildert die Beklagte als gefangen in der Vorstellung, dass die Wohnung für sie der alles beinhaltende Lebensmittelpunkt ist. Die Situation des Wohnungsverlustes empfinde die Beklagte als ausweglos, so dass ein hohes Risiko eines bilanzierenden Suizid gegeben wäre. Auch vor dem Hintergrund, dass die Beklagte – entgegen seiner ursprünglichen Annahme – bislang keinen Suizidversuch unternommen habe, hält der Sachverständige das Risiko eines bilanzierenden Suizids bei der Beklagten für hoch.
15Das Sachverständigengutachten ist nicht etwa unbrauchbar, weil der Sachverständige in seiner ersten Begutachtung fälschlich davon ausging, die Beklagte habe bereits einen Suizidversuch unternommen. Dies ist vielmehr ein Fehler, der bei Behandlung und Begutachtung vieler Patienten passieren kann. Der Sachverständigen hat sich in seinem Gutachten vom 11.11.2019 hiermit ausführlich auseinandergesetzt und hatte zuvor die Beklagte am 15.10.2019 nochmals exploriert. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Gefahr der Realisierung des Suizids zwar geringer sei, als ursprünglich von ihm angenommen, aber dennoch sehr hoch. Dies erscheint vor dem Hintergrund besonders plausibel, als die Beklagte dem Sachverständigen bei der Exploration bereits die beiden von ihr in Aussicht genommenen Möglichkeiten des Suizids plastisch schilderte, namentlich, dass sie die Möglichkeit des Suizids durch Tabletteneinnahme verworfen habe, da ihr Versuch über das Internet an die richtigen Tabletten zu kommen, gescheitert sei, sie hingegen bei einem Sturz vom Balkon aus großer Höhe gute Möglichkeiten sehe, dass ihr Suizidversuch zum Erfolg führe.
16Die Feststellungen des Sachverständigen T werden darüber hinaus durch die Aussage der Zeugin W gestützt, bei der sich die Beklagte seit 2010 in Behandlung befunden hat. Diese schildert, dass die Beklagte chronisch depressiv sei und im Rahmen der Behandlung ihr gegenüber mehrfach geäußert hat, sie wäre am liebsten tot, dann würde das Problem mit der Wohnungskündigung nicht bestehen. Sie schilderte weiter, dass die Beklagte selbst mit kürzer greifenden Veränderungen ihrer Lebensumstände überfordert sei, so könne sie sich etwa Klinikaufenthalte oder Reha nicht vorstellen.
17Aufgrund der völligen Fixierung auf ihre Wohnung war die Beklagte auch nicht in der Lage, die ihr angebotene Ersatzwohnung anzunehmen. Der Sachverständige T hat insoweit ausgeführt, dass er den Eindruck hatte, dass diese Wohnung für die Beklagte keine Alternative darstellen könnte und insofern gleichstehend ist, mit einer beliebigen anderen Wohnung. Die Beklagte nimmt krankheitsbedingt offenbar nicht wahr, dass der Vorteil dieser Wohnung ihre Lage im selben Haus ist, sondern sie nimmt lediglich deren negative Abweichungen von der derzeitigen Wohnung mit Blick auf Größe, Bad und Balkon wahr. Die Beklagte ist dementsprechend infolge ihrer psychischen Erkrankung nicht in der Lage, sich ein Leben in der angebotenen Alternativwohnung als Ausweg aus ihrer als ausweglos empfundenen Situation vorzustellen. Die Ablehnung der Wohnung durch die Beklagte ist letztlich damit krankheitsbedingt. Dieses Verhalten der Beklagten steht daher im konkreten Fall der Annahme einer Härte im Sinne des § 574 BGB nicht entgegen.
18Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte ihre Depression und Suizidalität simuliert, bestehen laut dem Sachverständigen und der Zeugin W nicht. Das Gericht sieht ebenso wenig Anlass, dem weiter nachzugehen, dies zumal die Beklagte seit vielen Jahren bei der Zeugin W in Behandlung ist und es kaum möglich erscheint, dass sie dieser die depressive Symptomatik für einen derart langen Zeitraum konsistent vorspielen konnte. Mit der sachverständigen Zeugin geht insoweit auch die Kammer davon aus, dass es der Beklagen nicht möglich gewesen ist, kontinuierlich seit 2010 eine Depression vorzutäuschen.
19Die Beklagte war auch nicht auf § 765a ZPO zu verweisen mit dem Argument, dass erst die Vollstreckung aus einem etwaigen Räumungstitel zu dem Suizidrisiko führt. Da die Beklagte bereits in dem Räumungsrechtsstreit ein gravierendes Problem sieht und der befürchtete Selbstmord ein bilanzierender ist, der von der Beklagten aufgrund der von ihr so wahrgenommenen Ausweglosigkeit der Situation verübt würde, kann sich das Risiko des Suizids bereits mit Erlass eines Räumungstitels verwirklichen. Die Zeugin W hat insoweit bekundet, dass bereits bei Erlass eines Räumungsurteils ihrerseits über eine Einweisung der Beklagten nach dem PsychKG NRW nachgedacht werden müsse und dass es Glückssache wäre, dass sie hierbei den richtigen Moment nicht verpasst. Diese Einschätzung leuchtet der Kammer unmittelbar ein. Denn bereits mit Erlass des Räumungstitels ist die von der Beklagten als ausweglos empfunden Situation des Wohnungsverlustes real und unmittelbar bevorstehend, muss die Beklagte die Räumung sich vergegenwärtigen. Die Beklagte hat sich für den Fall des Wohnungsverlustes auch bereits genau und unter Auslotung verschiedener Möglichkeiten überlegt, auf welche Weise sie sich zu suizidieren gedenkt: Durch einen Sturz vom Balkon. Da dieser im dritten Stockwerk liegt, ist ein tödlicher Ausgang zu erwarten. Davon auszugehen, dass die Beklagte ihren bereits in der Art und Weise geplanten Bilanzsuizid nach Erlass eines Räumungstitels bis zur tatsächlichen Räumung aufschieben werde, erscheint vor diesem Hintergrund fernliegend, ja nachgerade zynisch.
20Gem. § 574a Abs. 2 S. 2 BGB war zu bestimmen, das das Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit fortgesetzt wird. Dies kann gerichtlicherseits bestimmt werden, wenn ungewiss ist, wann die Umstände wegfallen, aufgrund deren die Beendigung des Mietverhältnisses eine Härte bedeutet. Diese Voraussetzung liegt hier vor. Es ist nicht absehbar, dass sich der Zustand der Beklagten durch eine therapeutische Intervention in absehbarer Zeit verbessern wird oder auch nur verbessern kann. Zum einen ist die Beklagte derart fixiert auf ihre Wohnung und derart abgeneigt gegenüber Veränderungen, dass sie schon deshalb und damit krankheitsbedingt eine stationäre therapeutische Intervention ablehnt, wie die sachverständige Zeugin W plausibel schilderte. Bereits aufgrund der Erkrankung sind damit die Möglichkeiten therapeutischer Intervention eingeschränkt, da die Beklagte es ablehnt, die Wohnung zu verlassen, was für einen stationären Aufenthalt erforderlich wäre. Ohnedies aber ist die Aussicht auf eine erfolgreiche therapeutische Intervention – gleich ob ambulant oder stationär – gering. Nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen T in der mündlichen Verhandlung vom 22.03.2019 ist aufgrund der langjährigen Persistenz der depressiven Symptomatik und auch aufgrund der Multimorbidität der Beklagten eine Behandlung nur eingeschränkt möglich. Therapiemöglichkeiten erscheinen zweifelhaft und wenig erfolgversprechend, da die Beklagte gedanklich extrem fixiert ist und zudem auch paranoide Vorstellungen im Hinblick auf die Vermieterseite entwickelt hat. Diese Ausführungen des Sachverständigen erscheinen – besonders auch vor dem Hintergrund des hohen Lebensalters der Beklagten – plausibel und nachvollziehbar, so dass die Kammer sich ihnen anschließt.
21Die Beklagte kann jedoch nur verlangen, dass das Mietverhältnis unter einer angemessenen Änderung der Vertragsbedingungen fortgesetzt wird, da die Fortsetzung zu den bisherigen Bedingungen dem Kläger nicht zuzumuten ist. Die von der Beklagten bislang gezahlte Miete liegt deutlich unter der ortsüblichen Miete. Unter Berücksichtigung des Mietspiegels 2019 für die Stadt L ist die Wohnung in Gruppe 1, Ausstattungsklasse 2 bei mittlerer Wohnlage einzuordnen, so dass eine Kaltmiete von 6,40 Euro – 8,40 Euro pro qm ortsüblich wäre. Der Ansatz einer ortsüblichen Miete aus dem Mittelfeld – 7,40 Euro pro qm führt zu einer beklagtenseits zu zahlenden Kaltmiete von 518,00 Euro. Dass die Wohnung über Ausstattungsmerkmale verfüge, die den Ansatz einer Miete oberhalb des Mittelfeldes als angemessen erscheinen ließen, wurde nicht vorgetragen. Mit einer Miete in dem genannten Bereich hat sich die Beklagte in der Berufungsinstanz auch einverstanden erklärt, was, da der Mieter sein Angebot zur Vertragsfortsetzung auch noch nachträglich modifizieren kann, rechtzeitig ist (vgl. Blank, in: Schmidt-Futterer, a.a.O., § 574a Rn. 2 ff.).
22Die Einhaltung der Kappungsgrenze gem. § 558 Abs. 3 BGB ist im Rahmen der Vertragsanpassung nach §§ 574 ff. BGB nicht vorgesehen. Vielmehr kann der Mieter nach § 574a Abs. 1 BGB nur die Fortsetzung zur angemessenen Bedingungen verlangen, eine Beurteilung die unabhängig von der Frage ist, wie weit weg vom angemessenen sich die Vertragsbedingungen vorher befanden und bei der sich die – analoge – Anwendung des § 558 Abs. 3 BGB nach Auffassung der Kammer verbietet.
23III.
24Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 92, 708 Nr. 10, 713 ZPO.
25IV.
26Die Revision war gem. § 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zur Fortbildung des Rechts zuzulassen. Eine Entscheidung des Revisionsgerichts erscheint zur Rechtsfortbildung erforderlich im Hinblick auf die Frage, ob es der Annahme einer Härte im Sinne von § 574 BGB entgegensteht, wenn eine angebotene Ersatzwohnung und eine mögliche Therapie abgelehnt werden, auch wenn diese Ablehnung - wie hier - krankheitsbedingt erfolgt.
27V.
28Streitwert: bis zu 10.000,00 Euro