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Auf die Berufungen der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Köln vom 19.04.2016 – Az. 263 C 210/15 – unter Zurückweisung der weitergehenden Rechtsmittel teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 479,80 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 17.03.2014 sowie vorgerichtliche Kosten in Höhe von 83,54 € zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Klägerin zu 62% und die Beklagten zu 38%. Die Kosten des Rechtsstreits zweiter Instanz tragen die Klägerin zu 60% und die Beklagten zu 40%.
Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
GRÜNDE
2I.
3Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß §§ 313a Abs. 1 Satz 1, 540 Abs. 2 ZPO abgesehen.
4II.
5Die zulässige, insbesondere frist- und formgerecht eingelegte und begründete Berufung hat in der Sache teilweise Erfolg. Die Beklagten sind der Klägerin aus dem Verkehrsunfallgeschehen vom 00.00.00 gegen 7:20 Uhr auf der T-Gasse in Köln Porz lediglich zu Schadensersatz in Höhe von 479,80 € verpflichtet, §§ 7, 17 StVG, 249 BGB, 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG.
61.
7Zutreffend hat das Amtsgericht eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge gem. § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorgenommen. Diese Norm ist anwendbar, da der Beklagte zu 1) sich auch mit seiner Berufung ohne Erfolg auf die Unabwendbarkeit des Unfalls stützt. Als unabwendbar gilt ein Ereignis gem. § 17 Abs. 3 StVG nur dann, wenn sowohl der Halter als auch der Führer des Fahrzeugs jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet hat. Dies ergibt sich vorliegend nicht bereits aus der Darstellung des Beklagten zu 1), er sei dem RTW mit einer Geschwindigkeit von maximal 30 km/h und erforderlichem Sicherheitsabstand gefolgt und habe die Kollision trotz eines Ausweichmanövers nach links nicht mehr vermeiden können. Denn der – im Rahmen des § 17 Abs. 3 StVG als Maßstab dienende – Idealfahrer hätte in der vorliegenden Verkehrssituation die naheliegende Möglichkeit berücksichtigt, dass sämtliche dem Rettungswagen freie Bahn schaffende Fahrzeuge ihre Fahrt auch nach dessen Durchfahrt wieder fortsetzen würden, wäre mithin bei aufmerksamer Fahrweise bereits nicht in die Unfallsituation geraten. Der Vernehmung der für den Vortrag der Beklagten angebotenen Zeugen bedurfte es daher nicht.
82.
9Im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge (§ 17 Abs. 1 und 2 StVG) sind zu Lasten beider Fahrzeugführer Verkehrsverstöße einzustellen.
10a)
11Die Klägerin hat gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen. Das im angefochtenen Urteil festgestellte tatsächliche Fahrverhalten der Klägerin ist in rechtlicher Hinsicht nicht unter § 10 StVO zu subsumieren. Nach dieser Norm hat, soweit vorliegend von Belang, derjenige Verkehrsteilnehmer, der vom Fahrbahnrand anfahren will, sich dabei so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Diese Vorschrift trägt der gesteigerten Gefährlichkeit des (Wieder)Einfahrens bzw. Wiedereingliederns aus dem ruhenden in den bevorrechtigten fließenden Verkehr Rechnung. Anfahren bedeutet das Inbewegungsetzen eines Fahrzeugs nach einem nicht verkehrsbedingten Halt (Hentschel/König/Dauer, 43. Aufl. 2015, § 10 StVO Rn. 7; Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-StrVerkR, 1. Aufl. 2016, § 10 StVO, Rn. 42). Die Klägerin war jedoch nicht bereits durch ihr Anhalten am Fahrbahnrand dem ruhenden Verkehr zuzuordnen. Ihr Anhalten war vielmehr ausschließlich verkehrsbedingt, beruhte es doch auf der Beachtung der sich aus § 38 Abs. 1 S. 2 StVO ergebenden zwingenden Anordnung, sofort freie Bahn für das Sonderrechtsfahrzeug (RTW mit blauem Blinklicht und Einsatzhorn) zu schaffen. Angesichts der Feststellungen zur Unfallörtlichkeit (einspurige Einbahnstraße) ist ohne Weiteres nachvollziehbar, dass diese Anordnung nur durch Heranfahren nach ganz rechts mit vorübergehendem Anhalten – nicht nur langsamem Weiterfahren – umgesetzt werden konnte.
12Ist § 10 StVO tatbestandlich nicht einschlägig, so verbleibt allein ein Verstoß der Klägerin gegen § 1 Abs. 2 StVO. Das Wiederanfahren nach verkehrsbedingtem Anhalten fällt nicht unter § 10 StVO, sondern unter § 1 StVO, aus dem sich aber gleich hohe Sorgfaltspflichten ergeben können (Hentschel a.a.O., Rn. 7). Gegen diese hat die Klägerin verstoßen. Das Amtsgericht hat – den Berufungsklägern nicht nachteilig – zutreffend und nachvollziehbar festgestellt, dass sich bereits aus den unstreitigen Umständen des Unfalls ergebe, dass die Klägerin die – vorliegend auch im Rahmen von § 1 Abs. 2 StVO – erforderliche Rückschau nicht hielt, insbesondere keinen Schulterblick vornahm. Eines Unfallrekonstruktionsgutachtens zur Vereinbarkeit der klägerischen Unfallversion mit dem entstandenen Schadensbild sowie zur Unvermeidbarkeit bedurfte es insoweit nicht. Dass die Klägerin den Beklagten mangels Rückschau nicht wahrnahm, ist ohnehin zugrundezulegen. Dass sich das Beklagtenfahrzeug im Zeitpunkt der (unterstellten) zweiten Rückschau bereits auf Höhe des Klägerfahrzeugs befand, kann auch ohne Gutachten als unzutreffend bewertet werden: Befuhr der Beklagte zu 1) die T-Gasse mit 30 km/h – eine geringere Geschwindigkeit wird nicht konkret behauptet –, so legte er in einer Sekunde 8,33 m zurück, mithin ungefähr die doppelte Fahrzeuglänge des klägerischen Fahrzeugs (Nissan Micra). Dass das Beklagtenfahrzeug im Bereich des Radkastens hinten rechts beschädigt wurde, ist unstreitig.
13b)
14Der Beklagte zu 1) hat gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO verstoßen. Danach ist das Überholen bei unklarer Verkehrslage unzulässig. Entgegen der Ansicht der Berufungen handelte es sich bei dem beklagtenseits unternommenen Fahrmanöver um ein Überholen und nicht ein lediglich nach § 6 StVO zu beurteilendes Vorbeifahren. Die Abgrenzung zwischen einem Überholen und einem Vorbeifahren bestimmt sich vorliegend danach, ob das Fahrzeug der Klägerin verkehrsbedingt hielt: an Fahrzeugen, die nicht verkehrsbedingt halten, wird vorbeigefahren, die verkehrsbedingt Haltenden werden überholt (Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-StrVerkR, 1. Aufl. 2016, § 5 StVO, Rn. 17). Nach vorstehenden Ausführungen hielt die Klägerin verkehrsbedingt. Ihr Halt aufgrund des zwingenden Gebots nach § 38 StVO kann nicht anders beurteilt werden als der – ebenfalls verkehrsbedingte – Halt aufgrund polizeilicher Anordnung, einer Rotlicht zeigenden Ampel oder einer besonderen Verkehrslage im Sinne des § 11 StVO (vgl. hierzu die Übersicht bei Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-StrVerkR, 1. Aufl. 2016, § 5 StVO, Rn. 18).
15Zutreffend hat das Amtsgericht eine unklare Verkehrslage im Sinne des § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO bejaht. Unklar ist nach allgemeiner Auffassung eine Verkehrslage, wenn der Fahrzeugführer nach allen objektiven Umständen des Einzelfalles mit einem gefahrlosen Überholen nicht rechnen kann (Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-StrVerkR, 1. Aufl. 2016, § 5 StVO, Rn. 40). Nach der Darstellung der Beklagten bestand Unklarheit, wann das lediglich verkehrsbedingt am Fahrbahnrand zum Halt gekommene Fahrzeug der Klägerin sich nach Durchfahrt des RTW wieder in die Fahrbahnmitte bewegen würde, da dieses den linken Fahrtrichtungsanzeiger nicht gesetzt hatte. Es ist davon auszugehen, dass sich das klägerische Fahrzeug trotz seines Standortes am Fahrbahnrand für den Beklagten zu 1) erkennbar in Betrieb befand, da am 12. Dezember um 7:20 Uhr Dunkelheit herrscht und das Klägerfahrzeug mangels gegenteiliger Anhaltspunkte beleuchtet war.
16Die Einwendung der Berufungen, das Amtsgericht habe zu Lasten der Beklagten eine unzulässige Analogie zu § 11 Abs. 2 StVO (Bildung einer Rettungsgasse auf Autobahnen sowie auf Außerortsstraßen mit mindestens zwei Fahrstreifen) vorgenommen, trifft nicht zu. In dem angefochtenen Urteil hat das Amtsgericht im Rahmen der Ausführungen zum festgestellten Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 1 Abs. 2 StVO lediglich darauf abgestellt, auch die nach § 11 Abs. 2 StVO zu bildende Rettungsgasse dürfe nicht zum Vordrängeln genutzt werden (so Hentschel, a.a.O., § 11 Rn. 9). Es kann dahinstehen, ob diese Wertung auf die vorliegende Verkehrssituation übertragbar ist, da die nach § 11 Abs. 2 StVO vorgesehene Rettungsgasse unabhängig von einem sich nähernden Sonderrechtsfahrzeug zu bilden ist und nicht dazu dient, nicht bevorrechtigten Verkehrsteilnehmern einen weiteren (mindestens) dritten Fahrstreifen zu eröffnen. Denn jedenfalls im Ergebnis zutreffend hat das Amtsgericht ferner einen Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 1 Abs. 2 StVO festgestellt. Dabei kann der Vortrag der Beklagten als wahr unterstellt werden, der Beklagte zu 1) sei mit ausreichendem Sicherheitsabstand sowie – bei wie festgestellt zähflüssigem Berufsverkehr ohnehin naheliegend – unter Beachtung des Tempolimits hinter dem RTW hergefahren. Der Beklagte zu 1) ließ jedoch die sich ihm darstellende besondere Verkehrssituation außer Acht, die sich daraus ergab, dass der Verkehr auf der T-Gasse sich nach der Durchfahrt des RTW erst einmal wieder „neu sortieren“ musste. Sämtliche Verkehrsteilnehmer waren aufgrund des zwingenden Gebots des § 38 Abs. 1 StVO gehalten, dem RTW freie Bahn zu schaffen, was angesichts der als einspurige Einbahnstraße geführten T-Gasse nur durch Ausweichen an den äußersten Fahrbahnrand möglich war. Bei der Wiederaufnahme ihrer Fahrt schulden die Verkehrsteilnehmer sich gegenseitige Rücksichtnahme. Daran ließ es jedoch auch der Beklagte zu 1) fehlen, da er nach eigenem Wiedereinscheren hinter dem RTW der Klägerin ein entsprechendes Fahrmanöver nicht ermöglichte.
173.
18Bei Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge liegt nach Auffassung der Kammer abweichend von dem angefochtenen Urteil die überwiegende Einstandspflicht auf Seiten der Klägerin. Denn indem die Klägerin ohne ausreichende Rückschau zur Fahrbahnmitte hin anfuhr, setzte sie die letztlich entscheidende Unfallursache. Den Verursachungsbeitrag der Beklagten bewertet die Kammer hingegen mit 40%.
194.
20Die unfallbedingten Schäden der Klägerin belaufen sich nach den Ausführungen des angefochtenen Urteils auf (1.174,51 € netto zzgl. 25,00 € Unkostenpauschale =) 1.199,51 €. Konkrete Einwendungen zur Höhe sind von den Berufungen nicht erhoben worden. Der Anspruch der Klägerin beläuft sich aufgrund der vorstehend ausgeführten Einstandspflicht der Beklagten mithin auf 479,80 €.
215.
22Aufgrund des Schadensersatzanspruchs von 479,80 € ist auch die Nebenforderung bezüglich vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten lediglich in Höhe einer 1,3 Geschäftsgebühr aus einem Gegenstandswert von 479,80 € nebst Auslagenpauschale und USt. begründet.
236.
24Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 97 ZPO. Soweit der Prozessbevollmächtigte der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer beantragt hat, bei der Kostenentscheidung zu berücksichtigen, dass der Beklagte zu 1) erstmals zweitinstanzlich eigene Prozessbevollmächtigte mandatiert habe, kommt eine Kostentrennung im Rahmen der Kostengrundentscheidung nicht in Betracht. Die Erstattungspflicht betreffend die Kosten mehrerer Rechtsanwälte einer Partei ist vielmehr nach Maßgabe des § 91 Abs. 2 S. 2 ZPO im Kostenfestsetzungsverfahren zu entscheiden.
25Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10 Satz 1, 711, 713 ZPO.
26Die Revision war nicht zuzulassen, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und eine Entscheidung des Revisionsgerichts auch nicht zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist, § 543 Abs. 2 ZPO.
27Berufungsstreitwert: 799,67 €