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Das Verfahren wird ausgesetzt.
Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird zur Auslegung von Art. 5, 6 und 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (VO 261/2004 EG) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist es mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung in der Europäischen Union vereinbar, wenn die VO 261/2004 EG vom EuGH zur Beseitigung einer sonst gegebenen Ungleichbehandlung dahingehend ausgelegt wird, dass einem von einer bloßen Verspätung von mehr als 3 Stunden betroffenen Fluggast eine Ausgleichszahlung nach Art. 7 der Verordnung zusteht, obwohl die Verordnung dies nur im Falle einer Beförderungsverweigerung oder Annullierung des gebuchten Fluges vorsieht, die Ansprüche des Fluggastes im Falle einer Verspätung aber auf Unterstützungsleistungen nach Art. 9 der Verordnung und – wenn die Verspätung mehr als fünf Stunden dauert – auch auf Unterstützungsleistungen nach Art. 8 Abs. 1 Buchstabe a) der Verordnung beschränkt?
Gründe:
2I.
31 Der Kläger sowie zwei weitere Personen, die ihre Ansprüche an den Kläger abgetreten haben, machen gegen das beklagte Luftfahrtunternehmen Ansprüche aus der VO 261/2004 EG geltend.
42 Sie buchten bei der Beklagten einen Flug für den 21.12.2009 von E nach L. Geplante Abflugzeit war nach der Darstellung des Klägers 20:05 Uhr, nach der der Beklagten 19:30 Uhr. Tatsächlich fand der Abflug jedoch erst gegen 23:30 Uhr statt.
53 Ursache dafür war ein trotz Einhaltung des behördlich vorgeschriebenen Wartungs- und Instandsetzungsprogrammes aufgetretener technischer Defekt im Düsentriebwerk 1 der ursprünglich von der Beklagten für die Durchführung des gebuchten Fluges vorgesehenen Maschine. Da deren Kontrollsystem bei den Startvorbereitungen plötzlich eine Fehlermeldung im Schutzsystem des Düsentriebwerks 1 gegen zu hohe Drehzahlen anzeigte und ein Flugzeug nach dem Betriebshandbuch des Herstellers in einem solchen Fall am Boden bleiben muss, bis die Ursache dieser Fehlermeldung beseitigt worden ist, entschied sich die Beklagte, den gebuchten Flug mit einem anderen Flugzeug durchzuführen, nachdem sie festgestellt hatte, dass sich der aufgetretene Defekt nicht ganz kurzfristig beseitigen lassen würde. Das andere Flugzeug (Ersatzflugzeug) befand sich zu diesem Zeitpunkt jedoch noch auf einem Flug von F nach L und konnte auch nach seiner Landung in L um 20:10 Uhr nicht sofort nach E verbracht werden, weil zunächst noch die Crew ausgetauscht werden musste. Ein Weiterflug nach E mit der bisherigen Crew war deshalb nicht möglich, weil dies zu einer Überschreitung der höchstzulässigen Flugdienstzeiten geführt hätte. Da die Zusammenstellung einer neuen Crew etwa anderthalb Stunden in Anspruch nahm, konnte die Ersatzmaschine erst um 21:57 Uhr zu dem Leerflug nach E starten, wo sie dann um 22:50 Uhr landete und zunächst noch die Fluggäste und deren Gepäck aufnehmen musste, bevor sie nach L starten konnte.
64 Der Kläger und seine Mitreisenden erreichten L daher mit einer Verspätung von mehr als drei (aber weniger als vier) Stunden.
7II.
85 Der Kläger hat beantragt, die Beklagte wegen dieser Verspätung zu verurteilen, an ihn eine Ausgleichszahlung in Höhe von (3 x 250 € =) 700 € gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchstabe a der VO 261/2004 EG in Verbindung mit dem Urteil des EuGH in den verbundenen Rechtssachen C-402/07 und C-432/07 vom 19.11.2009 zu leisten.
96 Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
107 Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben. Gegen das amtsgerichtliche Urteil hat die Beklagte das Rechtsmittel der Berufung eingelegt, über deren Begründetheit die Kammer nun zu befinden hat.
118 Wie schon in der ersten Instanz ist die Beklagte der Ansicht, dass die EuGH-Entscheidung, auf die der Kläger seinen Anspruch stützt, rechtswidrig sei. Dies begründet sie unter anderem damit, dass die vom EuGH vorgenommene Auslegung der VO 261/2004 EG, die Fluggäste verspäteter Flüge könnten im Hinblick auf die Anwendung des in Art. 7 vorgesehenen Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt werden, contra legem erfolgt sei und gegen die europarechtliche Gewaltenteilung verstoße. Abgesehen davon sei sie – die Beklagte – aber auch deshalb nicht verpflichtet, eine Ausgleichszahlung zu leisten, weil die Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgegangen sei, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.
12III.
131.
149 Der Erfolg der Berufung hängt davon ab, ob die durch den EuGH in der Entscheidung vom 19.11.2009 (AZ C-402/07) vorgenommene, von der Beklagten kritisierte Auslegung der VO 261/2004 EG gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung in der Europäischen Union verstößt.
1510 Wäre dies der Fall, müsste der Berufung stattgegeben und die Klage abgewiesen werden, weil es dann an einer Anspruchsgrundlage fehlen würde.
1611 Wäre die streitgegenständliche Auslegung dagegen von der dem EuGH zustehenden Befugnis zur richterlichen Rechtsfortbildung gedeckt, müsste die Berufung zurückgewiesen werden, weil das Amtsgericht der Klage dann zu Recht stattgegeben hätte. Ebenso wie das Amtsgericht ist die Kammer nämlich der Auffassung, dass die Beklagte nicht nachgewiesen hat, dass die mehr als dreistündige Verspätung hier auf außergewöhnliche Umstände zurückging, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Denn bei einem aufgrund drohender Überschreitung der höchstzulässigen Flugdienstzeiten erforderlichen Crew-Wechsel handelt es sich nicht um einen außergewöhnlichen Umstand, sondern um ein Vorkommnis, das Teil der normalen Tätigkeit der Beklagten ist, und dass sie alle zumutbaren Maßnahmen getroffen hat, um den technischen Defekt, der zur Verspätung des vom Kläger und seinen Mitreisenden gebuchten Fluges führte, zu vermeiden, hat die Beklagte nicht hinreichend dargelegt.
172.
1812 Ob sich die vom EuGH vorgenommene Auslegung mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung in der Europäischen Union vereinbaren lässt, vermag die Kammer nicht zu beurteilen.
19a)
2013 Zweifelhaft ist dies zunächst deshalb, weil die Generalanwältin T in ihren Schlussanträgen im Verfahren C-402/07 unter Randnummer 64 ausgeführt hat, dass es Sache des Gemeinschaftsgesetzgebers sei, zu entscheiden, wie er eine gegebene Ungleichbehandlung beseitige, und weil jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland der Grundsatz der richterlichen Selbstbeschränkung (judicial self-restraint) gilt, nach dem durch die Rechtsprechung keine Gestaltungsfragen beantwortet oder vorweggenommen werden sollen, die in den originären Bereich der legislativen oder exekutiven Staatsgewalt fallen.
21b)
2214 Sollte dies in der Europäischen Union anders, der EuGH also grundsätzlich befugt sein, zu entscheiden, dass ein Anspruch auf weitere Fälle ausgedehnt wird, um eine aus seiner Sicht ungerechtfertigte Ungleichbehandlung zu vermeiden, fragt sich, ob die Voraussetzungen für eine solche Ausdehnung im konkreten Fall erfüllt waren. Nach deutschem Recht darf die Übertragung der für einen Tatbestand vorgesehenen Rechtsfolge auf einen anderen, rechtsähnlichen Tatbestand (Analogie) nämlich nur dann vorgenommen werden, wenn für den nicht geregelten Tatbestand keine Rechtsnorm existiert (Regelungslücke) und diese Regelungslücke vom Gesetzgeber auch nicht beabsichtigt (planwidrig) war.
2315 Zwar hat der EuGH in seiner Entscheidung vom 19.11.2009 (C-402/07) ausgeführt, dass sich aus dem Wortlaut der VO 261/2004 EG nicht unmittelbar ergebe, dass den Fluggästen verspäteter Flüge ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen nach Art. 7 dieser Verordnung zustehe, und dass die Situation von Fluggästen verspäteter Flüge mit der von Fluggästen annullierter Flüge vergleichbar sei, weil beide einen ähnlichen Schaden in Form eines Zeitverlustes erleiden würden. Auf die Frage, ob die demnach bestehende Regelungslücke für einen rechtsähnlichen Tatbestand planwidrig war, ist er aber allenfalls mittelbar eingegangen, indem er darauf verwiesen hat, dass angesichts der im 15. Erwägungsgrund der VO 261/2004 EG erfolgten Nennung des Begriffes der großen Verspätung im Kontext der außergewöhnlichen Umstände davon auszugehen sei, dass der Gesetzgeber auch ihn mit dem Ausgleichsanspruch verknüpft habe.
2416 Möglicherweise beruhte diese Schlussfolgerung jedoch auf einem Irrtum. Die Beklagte hat nämlich in einem anderen vor der Kammer geführten Verfahren vorgetragen, dass die Formulierung in Erwägungsgrund Nr. 15 wie folgt zu erklären sei:
2517 Der „Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rats über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Betreuungsleistungen für Fluggäste im Falle der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen“ (KOM(2001)784), auf den die VO 261/2004 EG zurückgehe, habe im ursprünglichen Entwurf für Verspätungsfälle lediglich Unterstützungsleistungen vorgesehen, Betreuungsleistungen dagegen ausschließlich für Behinderte und unbegleitet reisende Minderjährige. Aufgrund von Änderungswünschen des Parlaments habe die Kommission ihren Vorschlag dann dahingehend abgeändert, dass alle Fluggäste bei Verspätungen Anspruch auf Betreuungsleistungen haben sollten, dies allerdings – wie die Verpflichtungen der Luftfahrtunternehmen bei Annullierungen insgesamt – davon abhängen sollte, dass sich das Luftfahrtunternehmen nicht exkulpieren könne.
2618 Daraufhin habe das Parlament am 03.07.2003 einen Änderungsvorschlag für einen gemeinsamen Standpunkt unterbreitet, in dem es die Erwägungsgründe wie folgt formuliert habe:
2719 "(15) Wie nach dem Übereinkommen von Montreal sollten die Verpflichtungen für ausführende Luftfahrtunternehmen in den Fällen beschränkt oder ausgeschlossen sein, in denen ein Vorkommnis auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Solche Umstände können insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten Flugsicherheitsmängeln und den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks eintreten.
2820 (16) Vom Vorliegen außergewöhnlicher Umstände sollte ausgegangen werden, wenn eine Entscheidung der Flugverkehrsleitung zu einem bestimmten Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge hat, dass es bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Flugzeuges zu einer großen Verspätung, einer Verspätung bis zum nächsten Tag oder zu einer Annullierung kommt, obgleich vom betreffenden Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Anstrengungen unternommen wurden, um die Verspätungen oder Annullierungen zu verhindern.
2921 (17)….
3022 (18 ) Desgleichen soll es Fluggästen, deren Flüge sich um eine bestimmte Zeit verspäten, möglich sein, ihre Flüge unter Rückerstattung des Flugpreises zu stornieren oder diese unter zufrieden stellenden Bedingungen fortzusetzen und sie sollten angemessen betreut werden, während sie auf einen späteren Flug warten; auszunehmen ist der Fall, dass die Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären."
3123 Der Erwägungsgrund 16 habe nunmehr fast den Wortlaut wie der in die VO 261/2004 EG übernommene Erwägungsgrund 15 gehabt. Wie sich insbesondere aus dem Erwägungsgrund Nr. 18 ergäbe, hätten die Unterstützungsleistungen zu diesem Zeitpunkt weiterhin unter dem Vorbehalt fehlender Exkulpation stehen sollen.
3224 Die Exkulpationsmöglichkeit für Betreuungsleistungen bei Verspätungen sei dann später gestrichen worden und damit auch der Erwägungsgrund 18. Erwägungsgrund Nr. 16 sei dagegen – abgesehen von einer redaktionellen Änderung – als Nr. 15 beibehalten worden.
3325 Sollten die Ausführungen der Beklagten zum Gesetzgebungsverfahren nicht in einem wesentlichen Punkt unvollständig sein, lässt die Nennung des Begriffes der großen Verspätung im Kontext der außergewöhnlichen Umstände im Erwägungsgrund 15 also nicht darauf schließen, dass der Gesetzgeber ihn mit dem Ausgleichsanspruch verknüpft hat.
3426 Vielmehr scheint es so zu sein, dass er sich bewusst für eine unterschiedliche Behandlung von Annullierungs- und Verspätungsfällen entscheiden hat.
3527 Nach Darstellung der Beklagten sollen nämlich bereits in der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 über eine gemeinsame Regelung für ein System von Ausgleichsleistungen bei Nichtbeförderung im Linienflugverkehr Ausgleichszahlungen für den Fall vorgesehen gewesen sein, dass ein Fluggast wegen Überbuchung nicht befördert werden konnte, die ausweislich der Begründung dieser Verordnung dazu dienten, einer verbreiteten Unsitte der Fluggesellschaften entgegenzuwirken, Flüge in der Erwartung zu überbuchen, dass ohnehin nicht alle Fluggäste zum Abflug erscheinen werden. Diese der Abschreckung dienende Sanktion sei dann in der VO 261/2004 (EG) beibehalten und auf Fälle der Annullierung ausgedehnt worden, um damit einer ähnlichen Unsitte, nämlich der Streichung schwach ausgelasteter Flüge entgegen zu wirken. Den Fluggesellschaften habe damit der wirtschaftliche Anreiz für die beiden genannten Verhaltensweisen genommen werden sollen, indem sie in diesen Fällen hohe Strafzahlungen an die Fluggäste zu erbringen hätten. Für eine Ausdehnung auch auf Verspätungsfälle habe demgegenüber kein rechtfertigender Grund bestanden. Während eine Annullierung – zumindest häufig – auf der unmittelbar wirtschaftlich begründeten Entscheidung der Luftfahrtgesellschaft beruhe, die Kosten der Durchführung des Fluges zu sparen, scheide dieses Motiv bei einer Verspätung nämlich aus. Denn die Kosten eines Fluges würden nicht dadurch geringer, dass der Flug später als vorgesehen durchgeführt werde.
3628 Selbst wenn diese Interpretation der Beklagten unzutreffend sein sollte, spricht aber jedenfalls der „Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rats über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Betreuungsleistungen für Fluggäste im Falle der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen“ (KOM(2001)784) dafür, dass der Verordnungsgeber Annullierungs- und Verspätungsfälle in Kenntnis der vergleichbaren Folgen für die Fluggäste ungleich behandelt hat. Dort heißt es nämlich unter Randnummer 23:
3729 „Obwohl Fluggäste bei Verspätungen vergleichbaren Umständen ausgesetzt sind wie in Fällen von Nichtbeförderung oder Flugannullierung, besteht ein Unterschied darin, dass Luftfahrt- und Reiseunternehmen für Nichtbeförderung und Annullierungen verantwortlich sind (es sei denn, sie hätten die Gründe hierfür nicht selbst zu vertreten), jedoch nicht immer für Verspätungen. Andere häufige Ursachen sind im Flugverkehrsmanagement und in begrenzten Flughafenkapazitäten begründet. Die Kommission hatte bereits in ihrer Mitteilung über den Schutz der Fluggäste zum Ausdruck gebracht, dass Luftfahrt- und Reiseunternehmen in der gegenwärtigen Situation nicht verpflichtet werden sollten, Fluggäste bei Verspätungen zu entschädigen.“
3830 Wenn sich der Gesetzgeber tatsächlich bewusst dagegen entschieden hat, Fluggästen im Falle von Verspätungen Ausgleichsansprüche gegen die Fluggesellschaften einzuräumen, es also an einer planwidrigen Regelungslücke fehlt, stellt sich aber die (Vorlage-)Frage, ob es nicht gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung verstößt, wenn der EuGH ihn dennoch auf Verspätungsfälle ausdehnt.