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1) Begangene und drohende Leistungserschleichungen (§ 265a StGB; „Schwarzfahren“) können eine Unterbringung gemäß § 63 StGB nicht rechtfertigen (keine „erheblichen Taten“).
2) Zur Frage, bei welchem Grad der Gefährlichkeit eine Unterbringung gemäß § 63 StGB „zu erwarten“ und damit das Landgericht gemäß § 74 Abs. 1 Satz 2 GVG zuständig ist.
3) Eine begangene Körperverletzung und das Vorliegen einer Psychose reichen alleine zur Annahme einer Gefährlichkeit im Sinne des § 63 StGB nicht aus.
Die Sache wird nicht übernommen.
Die Akten werden über die Staatsanwaltschaft Kleve an das zuständige Amtsgericht Kleve (Strafrichter) zurückgegeben.
Gründe
2I.
3Das Amtsgericht hat ein noch nicht eröffnetes Strafverfahren wegen Leistungserschleichung in 23 Fällen (Bl. 195) und eines wegen Körperverletzung und wegen versuchter Körperverletzung (hinzuverbundene aber nicht ordnungsgemäß zusammengefügte Akte Bl. 14) miteinander verbunden (Bl. 49), ein psychiatrisches Gutachten zu den (auch juristischen?) Voraussetzungen der §§ 20, 21, 63, 64 StGB eingeholt (für einen Suchtmittelmissbrauch sind Anhaltspunkte nicht erkennbar) und sodann durch Verfügung Bl. 312R (ein Beschluss erging insoweit nicht, auch eine vollständige Unterschrift der Richterin, eine vorherige Anhörung und eine nachträgliche Mitteilung an den Angeschuldigten, eine Pflichtverteidigerbestellung, eine ausreichende Aufklärung des Sachverhalts und die Angabe der gesetzlichen Vorschriften § 225a StPO und § 74 Abs. 1 GVG unterblieben) die Sache "zwecks Übernahme" vorgelegt, wobei in einem Vermerk zur Begründung ausgeführt wird:
4"Ausweislich d. SV-Gutachtens liegt beim Angesch. eine psychische Erkrankung vor, die zu einer Schuldunfähigkeit für den vorliegend relevanten Tatzeitraum führt. Nach den Ausführungen d. SV dürfte eine Unterbringung gem. § 63 StGB in Betracht kommen. Dies gilt vorliegend insbesondere im Hinblick auf die Vielzahl der dem Angesch. vorgeworfenen Beförderungserschleichungen, die ohne eine Therapie des 'Zugreisenden' wohl auch zukünftig zu erwarten sind. Darüber hinaus kann der SV auch tätliche Angriffe, wie der Ankl. v. 13.11.13 zu Grunde liegend, nicht ausschließen. Eine Gefährlichkeit dürfte mithin vorliegen"
5II.
6Eine Übernahme der Sache kann nicht erfolgen, weil es an einer Zuständigkeit der Strafkammer fehlt. Nach § 74 Abs. 1 Satz 2 GVG sind die Strafkammern des Landgerichts u.a. erstinstanzlich sachlich zuständig, wenn die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) "zu erwarten" ist. Das ist beim derzeitigen Sachstand nicht der Fall.
7§ 63 StGB lautet:
8"Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist"
9Die Unterbringung gemäß § 63 StGB ist mithin zwingend anzuordnen, wenn die folgenden fünf Voraussetzungen erfüllt sind:
10(1) Anlasstat
11(2) Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit
12(3) Symptomatischer Zusammenhang zwischen (1.) und (2.)
13(4) Gefährlichkeit infolge des Zustandes (negative Legalprognose)
14(5) Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB)
15Hinsichtlich der Gefährlichkeit müssen "erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten" sein.
16Erheblich sind die zu befürchtenden Straftaten, wenn sie erhöht gefährlich sind oder der Rechtsfrieden durch die neuen Taten schwer gestört würde. Die zeitlich unbefristete Unterbringung gemäß § 63 StGB stellt einen so schweren Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen dar, dass an die Verhältnismäßigkeit zwischen der Maßregel und der Gefahr strenge Anforderungen zu stellen sind. Sind zukünftig lediglich Straftaten zu erwarten, die der „Kleinkriminalität“ zuzurechnen sind und in ihrem Gewicht eher „bloße Belästigungen“ darstellen, so scheidet eine Unterbringung gemäß § 63 StGB aus. Dazu gehören beispielsweise Straftatbestände mit einer Höchststrafe von bis zu sechs Monaten Freiheitsstrafe (vgl. § 113 StPO), Eingehungsbetrugstaten mit begrenzten Schäden, Beleidigungen, Diebstahl geringwertiger Sachen (vgl. § 248a StGB), Zechprellerei und Leistungserschleichungen („Schwarzfahrten“). Dass zukünftig weitere Leistungserschleichungen zu erwarten sind, kann mithin nicht Grundlage einer Unterbringungsanordnung gemäß § 63 StGB sein. Insoweit ist die Übernahme aus Rechtsgründen abzulehnen.
17Zumindest im Ansatz anders zu beurteilen ist dies, wenn zukünftig vorsätzliche Körperverletzungen drohen. Diese sind immer (vgl. BGH, Beschluss vom 03.04.2008 - 1 StR 153/08 Rn. 14; MüKo-StGB 2. Aufl. § 63 Rn. 54) oder zumindest in der Regel (BGH, Beschluss vom 11.08.2011 - 4 StR 267/11 Rn. 17) erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne des § 63 StGB.
18Dabei geht es aber nicht (nur) um das Anlassdelikt. Hinsichtlich der Gefährlichkeit geht es vielmehr darum, dass solche erheblichen Straftaten zukünftig "zu erwarten" sind. Für diese Gefahr weiterer Straftaten muss eine „Wahrscheinlichkeit höheren Grades“ bestehen. Eine lediglich „latente“ Gefahr und die – nahezu immer gegebene – bloße Möglichkeit zukünftiger Straftaten reichen nicht aus. Da es sich bei der zeitlich unbegrenzten Unterbringung gemäß § 63 StGB um eine außerordentlich beschwerende Maßnahme handelt, ist hierzu eine umfassende Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat unter Ausschöpfung der erreichbaren Beweismittel vorzunehmen. Erforderlich ist das Übergewicht der negativen Faktoren. Dabei ist ebenfalls der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 62 StGB) zu berücksichtigen. Die Gefährlichkeits- (Legal-, Kriminal-) Prognose darf sich nicht nur auf allgemeine Vermutungen stützen. Entscheidend ist der konkrete Einzelfall. Für eine Rückfallgefahr können sich Anhaltspunkte u. a. aus der Persönlichkeit des Täters, der Art und Schwere seines Defektes, den Vorstrafen, der Anlasstat und seinem Nachtatverhalten ergeben. Selbst länger zurückliegende Taten können dabei eine – wenn auch eingeschränkte – indizielle Bedeutung haben, so dass – über die Verlesung des Bundeszentralregisters hinaus – ggf. deren Hintergründe aufzuklären sind. Auch zum Tatmotiv (der Anlasstat) sind – soweit möglich – Feststellungen zu treffen. Zu berücksichtigen ist auch der Zeitraum zwischen Anlassdelikt und Hauptverhandlung. Je mehr situative Bedingungen für die Begehung erneuter Straftaten erforderlich sind, umso unwahrscheinlicher ist idR deren Zusammentreffen und damit die Begehung neuer Straftaten. Dass der Täter trotz bestehenden Defekts lange Zeit keine Straftaten begangen hat, ist ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Straftaten.
19Zuzugestehen ist, dass im derzeitigen Stand des Verfahrens (Zwischenverfahren) bei Prüfung der Zuständigkeit insoweit noch nicht der hohe Grad der Wahrscheinlichkeit vorliegen muss wie am Ende der Hauptverhandlung im Falle einer Unterbringungsanordnung. § 74 GVG verlangt aber für die Annahme der Zuständigkeit der Strafkammer, dass diese Unterbringung "zu erwarten" ist (vgl. § 203 StPO "hinreichend verdächtig" als ein Überwiegen der Verurteilungswahrscheinlichkeit bei vorläufiger Bewertung). Auch unter diesen verringerten Voraussetzungen gibt es hier keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Gefahr zukünftiger Gewaltdelikte.
20In der Anklageschrift vom 13.11.2013 (ohne Wesentliches Ergebnis der Ermittlungen) wird dem Angeschuldigten vorgeworfen, er habe am 30.04.2013 einem Mann im Rahmen einer körperlichen Auseinandersetzung eine Ohrfeige versetzt und anschließend dem flüchtenden Gegner (der keinen Strafantrag stellte) einen Gummihammer (mit dem zunächst der Gegner bewaffnet war) hinterhergeworfen ohne ihn zu treffen. Die - in der Anklage nicht mitgeteilten und nur rudimentär aufgeklärten - näheren Umstände sprechen eher dafür, dass es sich um eine einmalige situative Konstellation handelte. Der Angeschuldigte durfte sich mit seinem (Wohn)-Wagen in einer Halle aufhalten (möglicherweise aber dort nicht übernachten) und fühlte sich um 8.30 Uhr durch Arbeiter gestört, die die Hallentore demontierten. Der psychiatrische Sachverständige (dessen Aufgabe es nicht ist, den Sachverhalt weiter aufzuklären) hat dann in seinem vorbereitenden schriftlichen Gutachten festgestellt, dass "die Primärpersönlichkeit" des Angeschuldigten "eher nicht aggressiv" sei; fremdaggressives Verhalten sei "bei entsprechendem Erleben" lediglich "nicht auszuschließen" (S. 16 und 17 des Gutachtens). Aggressive Übergriffe seien (erst dann) wahrscheinlich, wenn der Angeschuldigte "in weiterer Zukunft die Behandlung ablehnt" und sich dadurch die psychische Erkrankung verstärkt. Insbesondere enthält der vorgelegte Bundeszentralregisterauszug vom 10.10.2013 des immerhin bereits 46 Jahre alten Angeschuldigten keinerlei Voreintragungen, geschweige denn Belege für frühere Gewalttaten. Inzwischen ist ein Strafbefehl (Bl. 291) zu den Akten gelangt, der aber nur einen insoweit irrelevanten Tankbetrug betrifft. Der zu den Akten gelangte Polizeibericht über ein Messer in seinem Fahrzeug (Bl. 266 f.) ist ebenfalls ohne Belang, da dort ausgeführt wird, er lebe mit seinem "gesamten Hausstand" in dem Wagen. Bei dieser und anderen Polizeikontrollen (u.a. Bl. 68, 259, 239 f., 276) verhielt er sich friedlich. Bei einer anderen Gelegenheit fiel er nur auf, weil er die T-Straße zu langsam befuhr (Bl. 246). Dass er "unkooperativ" war (Bl. 269) und die "Vorgangsliste" Bl. 278 (soweit erkennbar: Verfahren wegen Tankstellenbetrug, Leistungserschleichung und falsche Verdächtigung) sind insoweit ebenfalls ohne Aussagewert. Insoweit ist die Übernahme daher aus tatsächlichen Gründen abzulehnen.
21Die Kammer kann nicht ausschließen, dass sich später noch ausreichende Anhaltspunkte für die Gefahr zukünftiger Gewaltdelikte ergeben (vgl. § 270 StPO), der Umfang der noch erforderlichen Sachverhaltsaufklärung (z.B.: neuer BZR-Auszug? welche Ermittlungsverfahren sind noch anhängig - vgl. Bl. 308 und die Suchvermerke aus Düsseldorf, Karlsruhe, Bruchsaal, Krefelds, Tettnang? Erkenntnisse aus dem Betreuungs- und PsychKG-Verfahren [vgl. Bl. 244]? Vernehmung des Betreuers und der Zeugen der angeklagten Körperverletzung? objektive Feststellungen zum Lebenslauf?) verbietet es jedoch, dies alles im vorliegenden Übernahmeverfahren vorzunehmen.
22Derzeit spricht einiges dafür, dass die Eröffnung hinsichtlich der Leistungserschleichungen auf der Grundlage des Sachverständigengutachtens wegen Schuldunfähigkeit abzulehnen ist, die Körperverletzung aber einer Abklärung in einer Hauptverhandlung bedarf. Dies aber ist - nach Pflichtverteidigerbestellung und Möglichkeit der Stellungnahme durch die Staatsanwaltschaft - der Entscheidung des Amtsgerichts zu überlassen. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass Psychosen nicht automatisch zur Schuldunfähigkeit oder auch nur zur verminderten Schuldfähigkeit führen und dass Schuldunfähigkeit nicht für einen bestimmten Zeitraum, sondern nur bei einer (bzw. mehreren) bestimmten Straftat(en) bestehen kann. Es kommt immer darauf an, ob und wie sie sich auf die konkrete Tat (genauer: die Einsichts- ODER Steuerungsfähigkeit bei Begehung der Tat) ausgewirkt hat.
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