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Auf die sofortige Beschwerde der Schuldner vom 19.12.2022 wird der Beschluss des Amtsgerichts Schwelm vom 14.12.2022 teilweise abgeändert.
Die Räumungsvollstreckung aus dem Urteil des Amtsgerichts Schwelm vom 14.09.2021 (27 C 138/20) betreffend die derzeit von den Schuldnern bewohnte Wohnung im Hause E.-straße, 2. Etage links, 58256 O., bestehend aus 4,5 Zimmer, Arbeitsküche (in Zimmeranzahl enthalten), 1 Bad mit WC, 1 Flur, 1 Balkon, 1 Kellerraum wird bis zum 29.02.2024 einstweilen eingestellt.
Die weitergehende sofortige Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Schuldner tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens wird auf bis zu 5.000 € festgesetzt.
Gründe:
2I.
3Mit Urteil des Amtsgerichts Schwelm vom 14.09.2021 wurden die Schuldner verurteilt, ihre Wohnung im Objekt E.-straße, 58256 O. zu räumen. Die Verurteilung erfolgte wegen einer Kündigung des Wohnraummietvertrags der Schuldner zu 1) und 2) durch die Gläubigerin wegen einer Hausfriedensstörung insbesondere durch den Schuldner zu 3). Die Schuldnerin zu 1) und der Schuldner zu 2) sind Ehegatten, der Schuldner zu 3) ist ihr erwachsener Sohn.
4Den Schuldnern war mit Schreiben vom 16.07.2020 die fristlose Kündigung erklärt worden, die darauf gestützt war, dass der Beklagte zu 3) gemeinsam mit dem Beklagten zu 2) am Abend des 10.07.2020 die Zeugin J. tätlich angegriffen habe.
5Mit einem am 29.04.2022 verkündeten Urteil (1 S 127/21) hat das Landgericht Hagen nach Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung am 08.04.2022 die Berufung gegen dieses Urteil zurückgewiesen und den Schuldnern eine Räumungsfrist bis zum 31.10.2022 eingeräumt. Zu dem die Kündigung begründenden Vorfall enthält das Urteil folgende Feststellungen:
6„Für die Kammer steht fest, dass der Beklagte zu 3) die Zeugin J. am Abend des 10.07.2020 mit dem Gewicht und der Kraft seiner Körpers derart an die im Hausflur des gemeinsam bewohnten Hauses befindliche Wand drückte, dass diese sich nicht mehr bewegen konnte. Dieser Situation vorausgegangen war die vorwurfsvolle Frage der Zeugin, warum der Beklagte zu 3) schon wieder ihre Fußmatte zur Seite getreten habe. Bei dem Herandrücken an die Wand kam der Beklagte zu 3) der Zeugin J. so nahe, dass sich ihre und seine Stirn fast berührten. Er schrie die Zeugin laut an, sodass seine Spucke auf ihrem Gesicht und Arm landete. Nicht festzustellen war, dass er sie absichtlich angespuckt hat. Der Beklagte zu 2) kam hinzu und hielt die Zeugin an deren linken Arm zusätzlich fest. Diese für die Zeugin bedrohliche und in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkende Situation konnte durch ein Einschreiten der Beklagten zu 1) beendet werden, die die Beklagten zu 2) und 3) vom höher gelegenen Treppenabsatz anschrie, und dadurch, dass die Zeugin A. die Zeugin J. in deren Wohnung zog und die Tür zuschlug.“
7Nachdem die Wohnung bei Ablauf der Räumungsfrist noch nicht geräumt war, hat die Gläubigerin die Zwangsvollstreckung eingeleitet. Räumungstermin war auf den 29.12.2022 anberaumt.
8Die Schuldner haben „wegen massiver körperlicher und psychischer Beeinträchtigungen“ Räumungsschutz gem. § 765a ZPO beantragt, allerdings ohne Bemühungen, eine Ersatzwohnung zu finden, vorzutragen. Sie haben bereits erstinstanzlich umfangreich Unterlagen zu den Erkrankungen der Schuldner vorgelegt. Insoweit wird Bezug genommen auf die Auflistungen im Beschluss des Beschwerdegerichts vom 23.12.2023.
9Mit Beschluss vom 14.12.2022 hat das Amtsgericht Räumungsschutz abgelehnt. Zusammengefasst hat es hinsichtlich der behaupteten Gefahren ausgeführt, dass kein Anhaltspunkt für eine akute räumungsbedingte Suizidgefahr bestehe. Zudem hätten sich die Schuldner nicht darum gekümmert, die Risiken auszuschließen oder zu verringern. So seien weder die erforderlichen Schritte unternommen worden noch hätten sie sich auch nur ansatzweise um Wohnraum bemüht, obwohl ihnen das Landgericht gerade wegen ihrer psychischen Beeinträchtigungen eine großzügige Räumungsfrist von sechs Monaten gewährt hatte.
10Gegen diesen Beschluss wandten sich die Schuldner mit ihrer sofortigen Beschwerde, mit der sie insbesondere rügen, das Amtsgericht hätte ein Gutachten zur Frage der Suizidgefahr einholen müssen. Ferner weisen sie darauf hin, dass die Schuldnerin zu1) zwischenzeitlich an Demenz erkrankt sei.
11Mit Beschluss vom 23.12.2023 hat das Beschwerdegericht die Zwangsvollstreckung einstweilen eingestellt und eine Beweiserhebung durch Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens angeordnet zur Frage, inwieweit die Schuldner räumungsbedingt suizidgefährdet seien. Nach einer langwierigen Suche nach einem geeigneten Sachverständigen konnte die Gerichtsakte schließlich Ende April 2023 an den gerichtlichen Sachverständigen übersandt werden. Die Durchführung des Explorationstermins erforderte angesichts verschiedener zu beachtender Besonderheiten aufwändige Abstimmung. Letztlich konnte die Exploration der Schuldner durch den Sachverständigen am 13.09.2023 stattfinden. Das Gutachten wurde sodann unter dem 16.10.2023 erstellt. Wegen des Inhalts des Gutachtens wird Bezug genommen auf Bl. 655-719 der Gerichtsakte.
12Zu Ziffer IV des Beschlusses vom 23.12.2023 wurde den Schuldnern aufgegeben, monatlich zu ihren Bemühungen um Ersatzwohnraum vorzutragen und die Bemühungen zu belegen. Dies haben sie beginnend mit der Nachweisung der Wohnungssuche im Februar 2023 auch getan. Nachdem das Beschwerdegericht mit Verfügung vom 09.05.2023 darauf hingewiesen hatte, dass den vorgetragenen Unterlagen nicht entnommen werden könne, ob Gespräche mit potentiellen Vermietern geführt worden seien und woran ggf. eine Anmietung gescheitert sei, wurde für die Monate ab April 2023 auch insoweit vorgetragen. Zusammenfassend stellt sich die Lage wie folgt dar:
13Die Schuldner erkundigen sich regelmäßig (zumeist wöchentlich) vergeblich über die Homepage der R. Wohnungsgenossenschaft eG, ob dort eine Wohnung nach den eingegebenen Kriterien verfügbar ist. Zudem wird in den meisten Monaten mindestens einmal der K. angeschrieben, der stets antwortet, dass kein passendes Wohnungsangebot bestehe. Zudem wurden im Februar Anfragen an den Bauverein Sprockhövel und die Adresse E-Mail01 gerichtet. Diese haben zumindest nicht zeitnah geantwortet.
14Zudem versuchen die Schuldner telefonisch Kontakt zu Vermietern aufzunehmen, die Wohnungsangebote in der „WAP“ inserieren. Dabei handelt es sich um ein wöchentlich erscheinendes kostenloses Anzeigenblatt. Können die Schuldner die dort angegebenen Telefonnummern nicht erreichen, wird mehrfach (4-6 Mal je Nummer) die telefonische Kontaktaufnahme versucht. Soweit Vermieter erreicht wurden, erfolgten Absagen mit unterschiedlichen Begründungen: Die Wohnung sei bereits vergeben, der Vermieter wolle keine älteren Mieter, es gebe schon eine zu lange Warteliste. Auffällig ist, dass diese Anrufe nur an vereinzelten Tagen erfolgen, zumeist gegen Monatsende.
15In den Monaten Februar bis November 2023 sind dokumentiert:
1634 Abfragen bei der B.
12 Anfragen beim K.
36 annoncierte Wohnungen, hinsichtlich derer eine Kontaktaufnahm durch die Schuldner zumindest versucht wurde.
Wegen der Einzelheiten der zum Nachweis der Wohnungssuche vorgelegten Unterlagen wird auf den bei der elektronischen Gerichtsakte geführten „Anlagenband_Wohnungssuche“ Bezug genommen.
21Die Schuldner tragen im Schriftsatz vom 08.11.2023 vor, dass all diese Bemühungen fruchtlos gewesen seien, bislang habe es nicht einmal einen Besichtigungstermin gegeben.
22Das Beschwerdegericht hat zudem mit Beschluss vom 23.12.2022 (dort Ziffer V) beim Amtsgericht Schwelm eine Betreuung betreffend die Schuldner angeregt. Eine Betreuung wurde hinsichtlich des Schuldners zu 3) mit Beschluss vom 01.02.2023 eingerichtet; eine Betreuerin wurde für die Aufgabenkreise Gesundheitsfürsorge und Wohnangelegenheiten bestellt.
23Die Schuldner haben im Zusammenhang mit ihrer Stellungnahme zum Gutachten des Sachverständigen L. vom 16.10.2023 einen Bescheid des Ennepe-Ruhr-Kreises vom 19.06.2023 vorgelegt, nach dem der Grad der Behinderung der Schuldnerin zu 1) auf 80 festgesetzt und ihr das Merkzeichen B zuerkannt wurde. Zudem legen sie mit Schriftsatz vom 10.11.2023 ein Gutachten des medizinischen Dienstes betreffend die Schuldnerin zu 1) vor, nach dem dieser seit dem 01.02.2023 der Pflegegrad 4 zuerkannt wird.
24II.
25Die zulässige sofortige Beschwerde der Schuldner hat in der Sache nur teilweise Erfolg Erfolg. Nach der durchgeführten Beweisaufnahme geht das Beschwerdegericht davon aus, dass eine Zwangsräumung vor einer binnen drei Monaten möglichen Heimunterbringung der Schuldnerin zu 1) eine sittenwidrige Härte gem. § 765a ZPO darstellt. Da die Schuldnerin zu 1) angesichts ihres Krankheitszustands nicht allein in der Wohnung verbleiben kann, wird die Zwangsvollstreckung bis zum 29.02.2024 gegenüber allen drei Schuldnern einstweilen eingestellt.
26Eine längere Einstellung der Zwangsvollstreckung ist nach derzeitigem Sachstand nicht erforderlich, um eine sittenwidrige Härte durch die Zwangsräumung zu vermeiden. Andere für die Schuldner mit der Räumung verbundenen Härten stellen sich - soweit sie überhaupt feststellbar sind - in Abwägung mit dem Räumungsinteresse nicht als sittenwidrig im Sinne von § 765a ZPO dar. Im Einzelnen:
27§ 765a ZPO ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Die Gewährung von Räumungsschutz kommt danach nur in Betracht, wenn im Einzelfall die Zwangsvollstreckungsmaßnahme nach Abwägung der beiderseitigen Belange zu einem untragbaren Ergebnis für die Schuldner führen würde. Dabei ist auf Seiten der Gläubigerin grundsätzlich zu berücksichtigen, dass durch die Aufschiebung der Vollstreckung des Räumungstitels ihre Grundrechte auf Schutz des Eigentums und effektiven Rechtsschutz beeinträchtigt werden. Das Vollstreckungsinteresse der Gläubigerin hat nach dem Willen des Gesetzgebers nur dann zurückzutreten, wenn ganz besondere Umstände dazu führen, dass die Vollstreckungsmaßnahme für den Schuldner zu einem untragbaren Ergebnis führen würde.
281. Akute räumungsbedingte Suizidgefahr
29Ein solcher Härtefall kann gegeben sein, wenn die Vollstreckungsmaßnahme eine konkrete schwerwiegende Gefahr für das Leben des Schuldners herbeiführt, der nicht auf andere Weise als durch eine Einstellung der Zwangsvollstreckung begegnet werden kann. Eine solche akute räumungsbedingte Suizidgefahr oder eine räumungsbedingt erhöhte Suizidgefahr kann das Beschwerdegericht unter Berücksichtigung und Auswertung der Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen L. bei keinem der Schuldner feststellen.
30a) Schuldnerin zu 1) - Frau D.
31Der Sachverständige L. hat eine akute Suizidgefahr bei der Schuldnerin zu 1) im Rahmen eines geringgradigen Risikos bewertet. Es ergebe sich kein Hinweis auf ein konkretes schadenstiftendes Ereignis im Rahmen einer absichtlich herbeigeführten Selbsttötung. Es könne mittelfristig ebenso nur ein geringes Risiko der diesbezüglich auch bislang nicht behandlungsbedürftig in Erscheinung getretenen Schuldnerin zu 1) festgestellt werden.
32In der Gesamtbewertung hat der Sachverständige festgestellt, dass eine durchzuführende Zwangsräumung nicht erkennbar mit einem erhöhten Suizidrisiko vergesellschaftet ist. Es ergäben sich keine konkreten Hinweise auf eine intendierte Selbsttötungsabsicht in Assoziation mit einer Veränderung des Wohnungsumfeldes. Es ergäben sich vielmehr Hinweise, wonach der bisherige Verbleib in der Wohnung zu einer effektiven Belastung der Schuldnerin zu 1) führte. Hieraus folge, dass ein grundsätzlicher Wechsel der Wohnumgebung zu einer Verminderung dieser Belastung und Verbesserung des langfristig beschriebenen depressiven Syndroms führen dürfte.
33Auch hinsichtlich des sozialen Lebensumfeldes sei festzustellen, dass die Schuldnerin zu 1) weitgehend sozial isoliert lebt und ein Wechsel der Lebensumgebung keinen erkennbaren belastenden Faktor der auch überwiegend desorientierten Schuldnerin zu 1) darstelle, welcher zu einer Erhöhung eines Suizidrisikos führen würde. Es müsse aus psychiatrischer Sicht auch festgestellt werden, dass die Schuldnerin zu 1) aufgrund der mittlerweile als schwergradig zu bewertenden Demenzerkrankung wie auch der Immobilität kaum über entsprechende Möglichkeiten einer Selbsttötung verfüge oder dies umsetzen könne.
34Der Sachverständige L. ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Das Beschwerdegericht hat keinen Anlass, seine Sachkunde für die Beurteilung der Frage der Suizidgefahr anzuzweifeln. Der Sachverständige hat die ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen ausgewertet, die Schuldnerin zu 1) sorgfältig exploriert und die Erkenntnisse auch für das Beschwerdegericht in jeder Hinsicht nachvollziehbar bewertet.
35Der Sachverständige L. hat der Aktenlage eine seit dem Jahre 2006 bestehende ambulante psychiatrische Behandlung entnommen. Dabei habe nach Angabe des Behandlers eine mittelgradige bis schwere depressive Symptomatik bestanden. Aus der Aktenlage ergäben sich Hinweise auf eine Aggravation und hysteriforme Überlagerung der Symptomatik. So sei in einer ärztlichen Stellungnahme auf eine „hohe Emotionalität“ hingewiesen worden. Gemäß einer weiteren ärztlichen Stellungnahme sei die Bettlägerigkeit der Betroffenen als Ausdruck einer psychischen Verschlimmerung vorrangig bewertet worden. Es ergäben sich auch uneinheitliche Angaben zur zugrunde liegenden Symptomatik, wo im August 2022 zu den zugrunde liegenden symptomatischen Kriterien einer depressiven Störung einzig eine diskontinuierliche Antriebslosigkeit dokumentiert worden sei.
36Darüber hinaus hätten sich auch bei der Untersuchung durch den Sachverständigen grundsätzliche Kriterien zur Feststellung eines depressiven Syndroms ergeben. Symptome einer bedrückt ausgelenkten Affektlage seien hierzu neben akzessorischen Symptomen wie einem sozialen Rückzug syndromal abzugrenzen gewesen. Quantitativ könne anhand der abgrenzbaren Kriterien ein leicht- bis mittelgradiges Ausmaß einer depressiven Störung formal diagnostiziert werden.
37Aus der vom Sachverständigen durchgeführten psychiatrischen Untersuchung müsse das Vorliegen einer Demenzerkrankung festgestellt werden. Rein aus dem Untersuchungsbefund sei bereits ein fortgeschrittenes, schwergradiges Stadium einer solchen Erkrankung zu postulieren. Dabei entsprächen aufgehobene Leistungen der primär zeitlichen Orientierung sowie umfassende Beeinträchtigungen aller Gedächtnisleistungen dem auch klinischen Erscheinungsbild eines symptomatischen weit fortgeschrittenen demenziellen Syndroms. Hierzu sei auch eine symptomatische Progredienz festzustellen, wo die Betroffene demnach im Jahre 2022 noch über eine erhaltene Orientierung verfügt habe.
38Es ergäben sich keine sicheren Hinweise auf darüber hinausgehende psychische Erkrankungen.
39Zur quantitativen Einschätzung eines Suizidrisikos hat der Sachverständige die Fremdbeurteilungsskala gemäß NGASR zugrunde gelegt. In dieser ergebe sich aus dem aktuellen Befund eine Gesamtpunktzahl von sieben Punkten. Das Suizidrisiko sei entsprechend dem Spektrum eines „mäßigen Risikos“ bei dem hierfür vorgesehenen Intervall zwischen 5-8 Punkten zuzuordnen.
40In der inhaltlichen Prüfung von Krankheitsfaktoren, welche in einem besonderen Ausmaß die Prognose hinsichtlich einer Suizidalität der Schuldnerin zu 1) im Falle der Zwangsräumung beeinflussten, hätten sich keine relevanten Faktoren ergeben, welche zu einem erhöhten Suizidrisiko führen würden.
41Dabei ergebe sich aus der eigenen Untersuchung des Sachverständigen, dass die Schuldnerin zu 1) vielmehr den dortigen Verbleib in der Wohnung als Belastung ihrer Lebenssituation aufgrund einer von ihr als solcher wahrgenommenen Diffamierung bewertet habe.
42Soweit sich die Schuldner in ihrer Stellungnahme zu dem Sachverständigengutachten gegen den Gutachteninhalt verwahren, dass die Schuldnerin zu 1) den Sachverständigen gefragt habe, warum ein Umzug nicht möglich sei, bezieht sich das wohl auf eine am Ende der Beschreibung der Exploration der Schuldnerin zu findende Passage: „Bezüglich eines Umzugs in eine Wohnung fragte Frau D. selbst, warum dies nicht möglich sein sollte. Hierauf ergab sich auf Nachfrage keine Antwort, was dem entgegenstehen sollte.“ Für das Gericht erscheint denkbar, dass es hier zu einem Missverständnis gekommen sein mag. Zugleich erscheint es für das Gericht angesichts des vom Sachverständigen plastisch beschriebenen Zustands einer fortgeschrittenen Demenz auch denkbar, dass die Schuldnerin zu 1) die Äußerung nicht wohlabgewogen tätigte. Letztlich kann dies dahinstehen, da die Feststellungen des Sachverständigen nicht auf diesem Satz fußen. Die Feststellung des Sachverständigen, dass keine persönliche Beziehungskonstellation zur aktuellen Wohnung bestehe, wird aus Sicht des Gerichts ausreichend durch verschiedene andere vom Sachverständigen protokollierte Äußerungen der Schuldnerin zu 1) getragen.
43Die Schuldnerin haben in ihrer Stellungnahme zum Gutachten des Sachverständigen L. auch darauf hinweisen, der Sachverständige habe die Diagnosen nur unvollständig aufgelistet. Neben den vom Sachverständigen genannten Erkrankungen leide die Schuldnerin zu 1) auch unter einer depressiven Störung, einem psychosomatischen Schmerzsyndrom, Polymyalgia rheumatica, Hörminderung, COPD, Magen- und Blasenleiden sowie einer Funktionsstörung des Schultergelenks. Insoweit beziehen sie sich auf einen erst jetzt vorgelegten Schwerbehindertenbescheid und die Gesundheitsakte des Kreises. Dass diese Unterlagen ggf. weitergehende Erkrankungen enthalten als die Darstellung des Sachverständigen, spricht nicht gegen dessen Expertise und die Überzeugungskraft seiner Ausführung zu einer letztlich nicht bestehenden räumungsbedingten Suizidgefahr betreffend die Schuldnerin zu 1). Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich der Sachverständige mit einer beschriebenen depressiven Störung der Schuldnerin zu 1) befasst hat, insoweit wird beispielhaft auf die S. 11, 13, 19, 24 Bezug genommen. Auch die Diagnose des psychosomatischen Schmerzsyndroms hat der Sachverständige zur Kenntnis genommen (vgl. S. 6 des Gutachtens). Im Übrigen kann der Sachverständige naturgemäß nur die Erkrankungen feststellen, die nach der ihm zugänglichen Aktenlage dokumentiert sind. Schließlich waren die physischen Erkrankungen für das vom >Sachverständigen einzuschätzende Suizidrisiko erkennbar nur am Rande relevant, nämlich soweit die aus den physischen Erkrankungen folgende Immobilität der Schuldnerin zu 1) dieses weiter reduzierte.
44b) Schuldner zu 2) - Herr Z.
45Der Sachverständige L. hat festgestellt, dass eine akute Suizidgefahr beim Schuldner zu 2) in einem geringen Ausmaß bestehe; die quantitative Auswertung weise ein mäßiges Suizidrisiko aus. Für die Vergangenheit sei zwischenzeitlich die Symptomatik von Suizidfantasien beschrieben worden. Es ergebe sich jedoch kein Hinweis auf deren konkrete Durchführung oder Vorbereitung.
46In der Gesamtbewertung sei festzustellen, dass eine Zwangsräumung ausweislich der Untersuchung durch den Sachverständigen mit einer vernachlässigbaren Erhöhung eines Suizidrisikos einhergehe. Der Schuldner zu 2) habe auch konkret als Konsequenz Selbsttötungsabsichten im Falle der Zwangsräumung verneint. Dennoch ergebe sich eine, hierher als leichtgradig zu bewertende, Risikoerhöhung bezüglich des Einflusses einer empfundenen Hilflosigkeit des Schuldners zu 2) im Hinblick auf die unklare Perspektive.
47In der Bewertungsfrage, inwiefern eine Gewöhnung und neue Eingewöhnung an ein Lebensumfeld eine schwere affektive Belastung bedingen kann, geht der Sachverständige auch im vorliegenden Kontext von einer zumutbaren Situation aus.
48Es ergäben sich auch Aspekte, welche für eine symptomatische Verbesserung bezüglich der Auflösung der aktuellen Gesamtsituation sprächen. So sei durch den Schuldner zu 2) die dortige Wohnungsumgebung mehrfach als offensichtlich stark belastet und teils auch feindselig bewertet worden. Auch führe das Räumungsverfahren an sich zu einer affektiven Belastung.
49Der Sachverständige L. ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Das Beschwerdegericht hat keinen Anlass, seine Sachkunde für die Beurteilung der Frage der Suizidgefahr anzuzweifeln. Der Sachverständige hat die ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen ausgewertet, den Schuldner zu 2) sorgfältig exploriert und die Erkenntnisse auch für das Beschwerdegericht in jeder Hinsicht nachvollziehbar bewertet.
50Zur Feststellung des Krankheitsbildes sei in der Gesamtbewertung auf ein depressives Syndrom zu verweisen. Es lägen hierzu Angaben über Kernsymptome im Sinne einer auch wiederholt beschriebenen Antriebsstörung wie auch hiermit assoziierter Kraftlosigkeit ebenso vor wie offenbar Angaben einer bedrückt ausgelenkten Affektlage. Akzessorisch werde auf Schlafstörungen und einen sozialen Rückzug verwiesen. Symptome einer Angststörung oder auch eine darüber hinausgehende, psychiatrisch relevante Störung könnten hierher nicht gesichert werden.
51Zur quantitativen Einschätzung eines Suizidrisikos hat der Sachverständige die Fremdbeurteilungsskala gemäß NGASR zugrunde gelegt. In dieser ergebe sich aus dem aktuellen Befund eine Gesamtpunktzahl von acht Punkten. Das Suizidrisiko sei entsprechend dem Spektrum eines „mäßigen Risikos“ bei dem hierfür vorgesehenen Intervall zwischen 5-8 Punkten zuzuordnen.
52In der inhaltlichen Prüfung von Krankheitsfaktoren, welche in einem besonderen Ausmaß die Prognose hinsichtlich einer Suizidalität des Schuldners zu 2) im Falle der Zwangsräumung beeinflussen, hätten sich allenfalls mäßig relevante Faktoren ergeben, welche zu einem erhöhten Suizidrisiko führen würden.
53Dabei ergebe sich aus der Untersuchung durch den Sachverständigen, dass keine persönliche Beziehungskonstellation zur bewohnten Wohnung vorliege. Einzig habe der Schuldner zu 2) eine Gewöhnung an sein Lebensumfeld formuliert. Vielmehr verhalte es sich, dass gemäß wiederholter Angaben die Wohnungsumgebung als belastender Faktor wahrgenommen wurde. Dies habe der Schuldner zu 2) auch eindeutig mit der konkret bewohnten Wohnung assoziiert, welche er mit dem Beginn seiner seelischen Problemlage assoziierte. Vorfälle seien konkret seinerseits als belastend betreffend die dortige Lebensumgebung angegeben worden. Als Ergebnis der hiesigen Untersuchung müsse auch festgestellt werden, dass die fortlaufende Unsicherheit aufgrund des Verfahrens eine Belastung des Schuldners zu 2) bedinge.
54c) Schuldner zu 3) - Herr Y.
55Der Sachverständige L. hat eine akute Suizidgefährdung des Schuldners zu 3) als sehr gering bewertet. Es lägen keine konkreten Hinweise auf eine drohende Suizidgefährdung oder auch entsprechender Vorbereitung vor. Es ergäben sich auch keine Risikofaktoren diesbezüglich für die bisherige Vergangenheit. Zu verweisen sei bereits auf eigene Sachvorträge des Schuldners zu 3), in denen er sich hierzu ausdrücklich distanziert habe.
56Im Rahmen einer Zwangsräumung sei mit einer vernachlässigbar geringen Wahrscheinlichkeit eine Erhöhung des Suizidrisikos zu erwarten. Dies begründe sich mit der damit einhergehenden Aufhebung der territorialen Autonomie des Schuldners zu 3), wozu ein störungsspezifischer Kontext erkennbar sei. Mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit sei jedoch anzunehmen, dass eine diesbezügliche affektive Reaktion in einer Fremdaggression münde und nicht in einer Suizidgefährdung, welche entsprechend als sehr geringgradig selbst im Falle einer Zwangsräumung bewertet werden müsse.
57Der Sachverständige L. ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Das Beschwerdegericht hat keinen Anlass, seine Sachkunde für die Beurteilung der Frage der Suizidgefahr anzuzweifeln. Der Sachverständige hat die ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen ausgewertet, den Schuldner zu 3) sorgfältig exploriert und die Erkenntnisse auch für das Beschwerdegericht in jeder Hinsicht nachvollziehbar bewertet.
58Die Aktenlage gebe Auskunft über die offensichtlichen Schwierigkeiten der in der Vergangenheit beteiligten Personen das zugrundeliegende syndromale Erscheinungsbild des Schuldners zu 3) im Rahmen einer psychiatrischen Diagnosestellung zu erfassen. Oftmals fänden sich Angaben einer Depression oder auch Angststörung, welche insbesondere durch den Schuldner zu 3) selbst für seine Person reklamiert, jedoch symptomatisch nicht beschrieben worden sei. Vielmehr ergäben sich Hinweise auf eine im Kontext einer depressiven Störung oder auch eine Angststörung nicht vereinbaren Symptomatik in Form eines unangepassten Interaktionsverhaltens, wozu in der Akte Beleidigungen und in seltenen Fällen auch tätliche Aggressivität vorgetragen worden seien.
59Auch in der neuerlichen Untersuchung des Unterzeichners verbleibe es bei der Gesamtbewertung einer zu diagnostizierenden schizotypen Störung. (Soweit der Sachverständige hier von einer neuerlichen Untersuchung spricht, ist anzumerken, dass der Sachverständige L. bereits im Betreuungsverfahren beim Amtsgericht Schwelm ein Gutachten betreffend den Schuldner zu 3) erstattet hatte.) Diagnostisch sei hierzu auf ein langfristig bestehendes, kontinuierliches exzentrisches Verhalten und Anomalien des Denkens und der Stimmung, welche schizophren wirkten, ebenso hinzuweisen wie auf eine ausgeprägte Tendenz zu sozialem Rückzug und sensitiv-paranoide und bizarre Ideen. Auch könnten Beziehungsideen und ein wiederholt vorgetragener Argwohn als krankheitswertige Kriterien bewertet werden. Auch der weiterhin vorgetragene soziale Rückzug werde am ehesten mit paranoiden Befürchtungen bewertet. Beschrieben wurde für den bisherigen Verlauf teilweise auch ein reizbares und aggressiv anmutendes Verhaltensbild.
60Zur quantitativen Einschätzung eines Suizidrisikos hat der Sachverständige die Fremdbeurteilungsskala gemäß NGASR zugrunde gelegt. In dieser ergebe sich aus dem aktuellen Befund eine Gesamtpunktzahl von fünf Punkten. Das Suizidrisiko sei entsprechend dem Spektrum eines „mäßigen Risikos“ bei dem hierfür vorgesehenen Intervall zwischen 5-8 Punkten zuzuordnen.
61In der inhaltlichen Prüfung von Krankheitsfaktoren, welche in einem besonderen Ausmaß die Prognose hinsichtlich einer Suizidalität des Schuldners zu 3) im Falle der Zwangsräumung beeinflussen würden, ergäben sich mäßig relevante Faktoren, welche zu einem erhöhten Suizidrisiko führen würden.
62Dabei ergebe sich aus der Untersuchung durch den Sachverständigen, dass keine persönliche Beziehungskonstellation zur bewohnten Wohnung vorliege. Der Schuldner zu 3) habe sich auf die Wahrnehmung eines persönlichen Schutzraumes bezogen, was auch im Rahmen einer störungsspezifischen Beeinträchtigung bewertet werde. Es könne hieraus jedoch kein direkter Zusammenhang mit der konkreten Wohnung hergestellt werden, sondern vielmehr mit einer entsprechenden Funktion eines autonomen Raumes als solchem. Es ergäben sich auch hier Hinweise auf Belastungen des aktuell bewohnten Wohnraumes, wo der Schuldner zu 3) Konflikte in der Nachbarschaft als Ursache innerer Unruhe bewertet habe.
63Es müsse auch in der weiterführenden inhaltlichen Bewertung auf ein als sehr niedrig zu bewertendes Risiko einer Suizidgefährdung des Schuldners hingewiesen werden. Der Sachverständige nahm insoweit Bezug auf mehrfache Angaben, in denen der Schuldner zu 3) sich ausdrücklich von Suizidgedanken oder einer diesbezüglichen Handlungsplanung distanziert habe. Dies sei auch während des laufenden Räumungsverfahrens als solches unzweifelhaft zu Protokoll gegeben worden und sei ausweislich der aktuellen Befragung auch weiterhin nicht erkennbar.
642. Anderweitige räumungsbedingte Gefahr schwerster gesundheitlicher Beeinträchtigungen
65Soweit die Schuldner ausführen, ihnen würde durch die Räumung infolge ihrer sonstigen Erkrankungen schwerste gesundheitliche Beeinträchtigungen drohen, sieht das Beschwerdegericht ebenfalls nicht, dass die Räumung bei einer Gesamtabwägung (hierzu unten zu Ziffer 6) eine sittenwidrige Härte darstellt.
66Richtig ist, dass eine Gefährdung des ebenfalls unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 2
67Satz 1 GG stehenden Rechts des Schuldners auf körperliche Unversehrtheit im Vollstreckungsschutzverfahren nicht nur bei der konkreten Gefahr eines Suizids gegeben sein kann. Die Vollstreckung kann auch dann eine mit den guten Sitten unvereinbare Härte im Sinne von § 765a ZPO darstellen, wenn sie aus anderen Gründen eine konkrete Gefahr für das Leben des Schuldners bedeutet und zu einem schwerwiegenden Eingriff in die körperliche Unversehrtheit führt.
68Zugleich stehen auch schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen einer Räumung nicht grundsätzlich entgegen. Transportfähige Schuldner können geräumt werden, auch wenn sie körperlich nicht mehr imstande sind, den Umzug eigenständig zu planen und durchzuführen. Denn es ist ihnen zuzumuten, für den Umzug die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen.
69a) Schuldnerin zu 1) – Frau D.
70Vor dem Hintergrund der letzten Ausführungen sieht das Beschwerdegericht in den zahlreichen physischen Erkrankungen der Schuldnerin zu 1) wie auch in dem ihr zuerkannten Pflegegrad 4 keinen Umstand, der dazu führen kann, den Umzug als sittenwidrige Härte einzuordnen.
71Dabei ist dem Beschwerdegericht bewusst, dass ein Umzug für Menschen mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen beschwerlicher ist als für gesunde Menschen. Es ist aber nicht im Ansatz erkennbar, dass der Wohnungswechsel für die Schuldnerin zu 1) wegen dieser Erkrankungen unmöglich wäre oder diese Krankheiten durch eine Räumung verstärkt würden. Dies wird auch in der Stellungnahme nicht substantiiert vorgetragen, sondern nur pauschal behauptet. Die Versorgung der Schuldnerin zu 1) kann nach den Feststellungen des Sachverständigen auch in einem Pflegeheim erfolgen. So hat der Sachverständige am Ende der Begutachtung der Schuldnerin zu 1) festgestellt, dass die körperlich und psychiatrisch pflegebedürftige Schuldnerin zu 1) einer ständigen Fürsorge und Leitung auch im Alltag bedürfe, welche entweder durch ständige Anwesenheit einer gegebenenfalls auch familiären oder professionellen Präsenzkraft, alternativ durch eine stationäre Heimunterbringung gewährleistet werden müsse.
72Konkret ist der Vortrag der Schuldner nur hinsichtlich der Gefahr einer erheblichen Verschlechterung der Demenzerkrankung der Schuldnerin zu 1). Das Beschwerdegericht sieht die Gefahr einer Verschlechterung der gesundheitlichen Situation der Schuldnerin zu 1) durch eine Beschleunigung des Fortschreitens der Demenzerkrankung durch eine Räumung. In der Abwägung mit den Interessen der Gläubigerin sieht das Beschwerdegericht aber im Ergebnis darin keine sittenwidrige Härte (dazu unten zu Ziffer 6).
73Zunächst geht das Beschwerdegericht davon aus, dass die Demenz der Schuldnerin zu 1) bereits ein fortgeschrittenes, schwergradiges Stadium erreicht hat, das ihr ein eigenständiges Leben unmöglich macht. Diese Feststellung des Beschwerdegerichts beruhen auf den auch insoweit sorgfältigen und in jeder Hinsicht nachvollziehbaren Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen L.. Der Sachverständige L. hat sich in seinem Gutachten vom 16.10.2023 vertieft mit der Demenzerkrankung der Schuldnerin zu 1) auseinandergesetzt und hierzu auch auf Grundlage seiner sorgfältigen Exploration weitreichende Feststellungen getroffen:
74Im Rahmen der Untersuchung habe die Schuldnerin zu 1) eine ungewöhnlich hohe Antwortlatenz gezeigt. Der Untersuchungsverlauf sei zudem weitreichend erschwert durch ein vorbeiredendes Verhaltensbild der Betroffenen gewesen, welche wiederholt ihre persönlich empfundene Problemlage geschildert habe und teilweise hierzu wenig zu unterbrechen gewesen sei, andererseits nur verzögert und auch vorbeiredend auf seine Fragestellungen geantwortet habe, sodass eine Anamneseerhebung und Befunderhebung nur ausgesprochen mühsam habe umgesetzt werden können.
75Das symptomatische Bild einer auch durch die Betroffene selbst benannten Vergesslichkeit habe sich heterogen dargestellt. So habe sie teilweise selbst basale Angaben nicht mehr erinnern können (z.B. fehlende Erinnerung an den Namen der eigenen Kinder), was auf ein bereits im Endstadium befindliches Bild einer Demenzerkrankung verweise. In Teilen habe sie wiederum relational differenzierte Erinnerungen zu einzelnen Ereignissen herzustellen vermocht. Überwiegend sei aus der Untersuchung eine weitreichende Störung der Gedächtnisleistung abzuleiten gewesen. Eine situative Orientierung habe aber zum Teil hergestellt werden können, wenn sich die Schuldnerin zu 1) zunächst auf Nachfrage auch auf Aussagen des Sohnes habe beziehen können, wenn sie z.B. erinnert habe, dass man die Familie aus der Wohnung herausholen wolle. Eine autobiografische Anamnese sei nicht ausreichend einzuholen gewesen, Zugleich seien der Schuldnerin zu 1) vergleichsweise differenzierte Angaben zu ihrer medizinischen Anamnese möglich gewesen.
76Wegen des während der Befragung gewonnen Eindrucks führte der Sachverständige L. eine MMST Testuntersuchung zur kognitiven Beurteilung durch. Mithilfe dieses Verfahrens ist es möglich, die zuvor postulierte demenzielle Symptomatik quantitativ zu bestimmen. Das Testverfahren überprüft alle höheren kognitiven Funktionen. Die Auswertung erfolgt anhand einer vorgegebenen Punktetabelle. Hinweise auf eine prämorbide Intelligenzminderung lägen nicht vor. Es hätten durch die Übersetzung keine verbalen Verständigungsschwierigkeiten bestanden.
77Die Untersuchung sei umfassend pathologisch verlaufen. Die Schuldnerin zu 1) habe eine zeitliche Desorientierung gezeigt, wo sie einen unzutreffenden Wochentag wie auch letztlich den 12. Mai 2004 als Untersuchungsdatum formuliert habe. Auch ihr Lebensalter habe sie nicht mehr sicher angeben können; dies war sei auch nicht mehr herleitbar gewesen. Sie habe die Stadt, in der sie lebt, schließlich auf Nachfragen zutreffend benennen können, nicht aber die seit langem bewohnte Straße.
78Störungen im Arbeitsgedächtnis lägen weit fortgeschritten vor. So habe die Schuldnerin zu1) bei Aufgaben betreffend die Bearbeitung von Subtraktionsreihenfolgen wie auch Buchstabierreihenfolgen auch nicht mehr ansatzweise eine Bearbeitung vornehmen können. Zudem habe ein Unvermögen im Bereich des Abstraktionsvermögens imponiert. Im Vordergrund der Untersuchung hätten zudem schwergradige Beeinträchtigungen in der Gedächtnisleistung gestanden. Dabei habe sich bereits ein stark vermindertes sensorisches Ultrakurzzeitgedächtnis gezeigt, das Erinnerungsvermögen sei erloschen und die Betroffene habe keine Angaben zu den wenige Minuten zuvor genannten Begriffen machen können. Auch erleichterte Abrufbedingungen hätten keine Abhilfe gebracht.
79Aufgrund der teilweise nicht durchführbaren Testbereiche sei eine quantitative Auswertung nicht sicher möglich gewesen. Es habe sich jedoch ein Leistungsspektrum im Bereich einer schwergradigen demenziellen Beeinträchtigung bei insgesamt homogenen Leistungsprofil und schweren Störungen über alle relevanten höheren kognitiven Funktionsbereiche hinweg gezeigt.
80Aus der durchgeführten psychiatrischen Untersuchung stellte der Sachverständige das Vorliegen einer Demenzerkrankung fest. Rein aus dem Untersuchungsbefund sei bereits ein fortgeschrittenes, schwergradiges Stadium einer solchen Erkrankung zu postulieren. Dabei entsprächen aufgehobene Leistungen der primär zeitlichen Orientierung sowie umfassende Beeinträchtigungen aller Gedächtnisleistungen dem auch klinischen Erscheinungsbild eines symptomatischen weit fortgeschrittenen demenziellen Syndroms. Hierzu sei auch eine symptomatische Progredienz festzustellen, da die Betroffene im Jahre 2022 noch über eine erhaltene Orientierung verfügt haben solle.
81In Kenntnis der Diagnose einer bereits fortgeschrittenes, schwergradigen Demenz hat sich der Sachverständige auch mit künftigen Lebensumständen der Schuldnerin zu 1) beschäftigt. Dabei hat er festgestellt, dass die körperlich und psychiatrisch pflegebedürftige Schuldnerin zu 1) einer ständigen Fürsorge und Leitung auch im Alltag bedarf, welche entweder durch ständige Anwesenheit einer gegebenenfalls auch familiären oder professionellen Präsenzkraft, alternativ durch eine stationäre Heimunterbringung gewährleistet werden müsse.
82Auch wenn der Schwerpunkt der Ausführungen des Sachverständigen entsprechend seinem Auftrag im Bereich der Einschätzung der Suizidgefahr lag, können die ausführlichen und umfassenden Ausführungen zum Stadium der Demenz der Entscheidung zugrundegelegt werden.
83Das Beschwerdegericht geht– wie auch die Schuldner im Schriftsatz vom 08.11.2023 - davon aus, dass sich die demenzielle Erkrankung der Schuldnerin zu 1) auch ohne äußere Einflüsse quasi von selbst verschlechtern wird. Zugleich sieht auch das Beschwerdegericht die Gefahr, dass sich das Fortschreiten der Demenz durch einen Verlust des vertrauten Umfeldes beschleunigen kann. Insoweit geht es davon aus, dass der Wechsel der Wohnungsumgebung für die Schuldnerin zu 1) mit einer erhöhten Belastung und voraussichtlich auch mit einer Verschlechterung ihres geistigen Zustands verbunden ist. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass eine solche durch den Umfeldwechsel begründete Verschlechterung eine konkrete Gefahr für das Leben der Schuldnerin zu 1) bedeutet und zu einem schwerwiegenden Eingriff in deren körperliche Unversehrtheit führt, haben die Schuldner selbst nicht vorgetragen. Sie ergeben sich auch nicht aus dem Akteninhalt einschließlich der Feststellungen des Sachverständigen L.. Die demenzielle Erkrankung ist ohnehin so weit fortgeschritten, dass der Schuldnerin zu 1) ein eigenständiges Leben nicht mehr möglich ist. Ein vollständiger Wechsel der Bezugsperson muss mit der Räumung nicht verbunden sein. Selbst wenn die Schuldnerin zu 1) im Rahmen der Räumung in einem Pflegeheim unterzubringen sein mag, wäre den Schuldnern zu 2) und 3) zwar eine Rund-um-die-Uhr-Begleitung nicht mehr möglich. Aber es stände ihnen frei, die dann ja grundsätzlich versorgten Schuldnerin zu 1) umfangreich zu besuchen und so zur bestmöglichen Stabilisierung ihres Zustands beizutragen.
84b) Schuldner zu 2) – Herr Z..
85Hinsichtlich einer räumungsbedingten Gesundheitsbeeinträchtigung des Schuldners zu 2) ist nicht substantiiert vorgetragen. In der Stellungnahme zum Gutachten des Sachverständigen L. im Schriftsatz vom 08.11.2023 wird konkret nur auf gesundheitliche Gefahren für die Schuldnerin zu 1) und den Schuldner zu 3) abgestellt.
86Auch aus dem sonstigen Akteninhalt bestehen für das Beschwerdegericht keine Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr für das Leben des Schuldners zu 2) oder einem schwerwiegenden Eingriff in dessen körperliche Unversehrtheit durch die Räumung und den Wohnungswechsel.
87Der Vortrag und die vorgelegten Unterlagen betreffen Bluthochdruck und psychische Leiden (u.a. Schlafstörungen, Ängste und Depressionen). Diese Leiden wurden auch vom Sachverständigen wahrgenommen. Auch die Feststellungen des Sachverständigen geben keinen Anlass zur Annahme, dass sich diese durch den Verlust der Wohnung verschlechtern werden. Vielmehr führt der Sachverständige aus (S. 42 seines Gutachtens), dass gemäß wiederholter Angaben des Schuldners zu 2) die Wohnungsumgebung als belastender Faktor wahrgenommen werde. Dies habe der Schuldner zu 2) auch eindeutig mit der konkret bewohnten Wohnung assoziiert, welche er mit dem Beginn seiner seelischen Problemlage assoziiert habe. Vorfälle seien konkret seinerseits als belastend betreffend die dortige Lebensumgebung angegeben worden.
88Der Sachverständige rät dem Schuldner zu 2) zu einer zielführenden Therapie der depressiven Störungen, die eine symptomatische Verbesserung erwarten lasse. Es ist aber nicht zu erkennen, dass eine Therapie erforderlich ist, um eine Räumung überhaupt zu ermöglichen bzw. gravierende räumungsbedingte Beeinträchtigungen abzufedern. Es ist nunmehr Sache des Schuldners zu 2), sich im Sinne der Selbstfürsorge, um eine Therapie zu bemühen, um die Last seiner depressiven Erkrankung zu verringern.
89c) Schuldner zu 3) – Herr Y..
90Hinsichtlich des Schuldners zu 3) behaupten die Schuldner im Schriftsatz vom 08.11.2023 schwerste gesundheitliche Folgen einer Räumung. Das Beschwerdegericht versteht die dortigen Ausführungen dahingehend, dass durch die Räumung krankheitsbedingt fremdaggressives Verhalten auftreten könne, das ggf. zu einer geschlossenen Unterbringung führen könne. Diese stelle eine besondere Härte für die gesamte Familie dar.
91Dass im Falle einer Räumung Fremdaggression und daraus folgend eine Unterbringung droht, hält auch das Beschwerdegericht auf Grundlage der Feststellungen des Sachverständigen L. für denkbar. So hat der Sachverständige – wie bereits zu Ziffer 1 c) wiedergegeben – ausgeführt, dass mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sei, dass eine affektive Reaktion auf eine Zwangsräumung in einer Fremdaggression münden werde. Insoweit hat der Sachverständige auch ausgeführt, dass bei einer relevanten Zunahme affektiver Symptome im Kontext der Zwangsräumung hinsichtlich des Schuldners zu 3) eine geschlossene Unterbringung zur Gefahrenabwehr zu prüfen sei.
92Allerdings besteht für das Beschwerdegericht kein Anhaltspunkt für ein räumungsbedingtes schwerwiegendes gesundheitliches Risiko im Sinne einer lebensbedrohenden Situation. Die Gefahr der Unterbringung stellt eine solche nicht dar und ist mit einer solchen auch nicht zu vergleichen.
933. Fehlen einer Ersatzwohnung
94Die Schuldner führen aus, dass ihnen im Fall der Zwangsräumung die Obdachlosigkeit drohe, da sie keinen Ersatzwohnraum fänden.
95Hat der Mieter noch keinen adäquaten Ersatzwohnraum gefunden, so kann sich eine Härte grundsätzlich daraus ergeben, dass dem Mieter im Falle der Räumung kein Wohnraum zur Verfügung stünde, er also obdachlos würde. Um die Einstellung der Zwangsvollstreckung zu rechtfertigen muss aber die Obdachlosigkeit auf anderem Wege nicht vermeidbar sein. An dieser Voraussetzung fehlt es regelmäßig, weil die Ordnungsbehörden gehalten sind, einen Schuldner ohne Ersatzwohnung entweder in die bisherige Wohnung wieder einzuweisen oder in einer Obdachlosenunterkunft unterzubringen. Der Schuldner muss insoweit auch die Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft grundsätzlich hinnehmen.
96Für das Beschwerdegericht ist es auch nicht zu erkennen, dass es den Schuldnern unmöglich gewesen wäre, eine Ersatzwohnung zu finden. Den Schuldnern wurde bereits im Juli 2020, also vor mehr als 3 Jahren, fristlos gekündigt. Spätestens nach dem Urteil der Berufungskammer aus April 2022 war für die Schuldner klar, dass sie die Wohnung nach Ablauf der Räumungsfrist (31.10.2022) würden räumen müssen. Die vorgetragenen Bemühungen um Ersatzwohnraum überzeugen das Beschwerdegericht nicht davon, dass kein Ersatzwohnraum zu finden ist.
97Das Beschwerdegericht kann keine konkreten Bemühungen um Ersatzwohnraum bis einschließlich Januar 2023 feststellen. Seit Februar 2023 werden entsprechen der Auflage des Gerichts Bemühungen um eine Ersatzwohnung dokumentiert. Es ist positiv, dass sich die Schuldner nunmehr überhaupt mit der Suche einer Ersatzwohnung befassen. Die dokumentierten Bemühungen sind allerdings erkennbar bei weitem nicht ausreichend.
98Mehr als die Hälfte der dokumentierten Bemühungen beziehen sich auf wiederholte Anfragen bei zwei Wohnungsgenossenschaften. Bemühungen um Wohnungen von Privatvermietern erfolgen im Verhältnis dazu eher selten. 36 Anfragen in den neun Monaten (Februar bis Oktober 2023) entsprechend monatlich vier Anfragen. Das ist für Mieter, die dringend auf eine Ersatzwohnung angewiesen sind, sehr wenig. Zudem ist nicht nachvollziehbar, weshalb auf Anzeigen aus einer wöchentlich erscheinenden Zeitung nur jeweils einmal gegen Monatsende reagiert wird. Es ist nicht einmal nachvollziehbar, dass die Anzeigen, auf die die Anrufe erfolgten, zeitnah vor den Anrufen geschaltet waren. Es ist allgemein bekannt und entspricht auch den eigenen Erfahrungen des Beschwerdegerichts, dass es angesichts der großen Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt erforderlich ist, stets zeitnah auf Anfragen zu reagieren, um noch die Möglichkeit zu haben, in die erste engere Auswahl der Mietinteressenten aufgenommen zu werden. Die Schuldner hätten daher jeweils wöchentlich unmittelbar nach Erscheinen der WAP versuchen müssen, Kontakt mit den Vermietern der dortigen Immobilien aufzunehmen.
99Zudem ist es für eine so dringende Wohnungssuche, wie sie für die Schuldner veranlasst war und ist, nicht ausreichend, sich allein mit den Veröffentlichungen in einer einzigen Wochenzeitung zu beschränken. Bekanntlich werden viele Wohnungen von Privatvermietern heute über Onlineportale wie zum Beispiel immobilienscout 24 vermittelt. Es war für die Schuldner erkennbar, dass die von ihnen betriebene Wohnungssuche nur einen Teilbereich des örtlichen Wohnungsmarktes umfasste. Die Schuldner hätten daher ihre Suche von vornherein, spätestens aber nach den ersten erfolglosen Versuchen über die WAP, auch auf andere Medien, in denen Mietwohnungen angeboten werden, ausweiten müssen.
100Eine sittenwidrige Härte gem. § 765a ZPO kann ausnahmsweise auch dann bestehen, wenn der Umzug mit einem ganz erheblichen Nachteil verbunden wäre. Ein besonderer Nachteil der Räumung liegt für die Schuldner hier darin, dass sie bei einer Zwangsräumung voraussichtlich getrennt würden. Die Schuldnerin zu 1) könnte wegen des vorgetragenen und insbesondere auch hinsichtlich der Demenz vom Sachverständigen L. eindrucksvoll bestätigten Krankheitsbild nicht allein in eine Obdachlosenunterkunft eingewiesen werden. Allerdings käme in ihrem Fall der Einzug in eine Pflegeeinrichtung in Betracht.
101Das Beschwerdegericht sieht, dass der durch einen Umzug in ein Pflegeheim verbundene Verlust des familiären Zusammenlebens für die Schuldnerin zu 1) wegen ihrer Demenz (vgl. oben zu 2a) eine besondere Belastung darstellt. Zugleich geht das Beschwerdegericht davon aus, dass die mit einem Umzug der Schuldnerin zu 1) in ein Pflegeheim verringerte Möglichkeit für die Schuldner zu 2) und 3), diese umfassend zu umsorgen, für diese ebenfalls eine Belastung darstellt. Bei der Bewertung dieser Härte kann allerdings die unzureichende Suche nach einer Ersatzwohnung (vgl. oben) nicht außer Acht bleiben. Denn beim Vorhandensein einer Ersatzwohnung (das durch eine intensivere Wohnungssuche hätte befördert werden können und müssen) würde sich die Problematik der Trennung der Familie erst gar nicht stellen.
102Zudem ist hier noch Folgendes zu berücksichtigen: Es ist nicht zu erkennen, dass zwingend alle drei Schuldner auch künftig zusammen wohnen müssen. Fest steht allein, dass die Schuldnerin zu 1) nicht allein in einer Wohnung leben kann. Bislang hat das Beschwerdegericht keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Schuldner zu 3) dringend in einer gemeinsamen Wohnung mit seinen Eltern, den Schuldnern zu 1) und 2) wohnen muss. Soweit er angesichts seiner Deutschkenntnisse für seine Eltern administrative Angelegenheiten erledigt, erfordert dies sicher nicht das Zusammenwohnen. Auch gewisse Unterstützungsleistungen im Haushalt können ohne eine gemeinsame Wohnung geleistet werden. Die Schuldner müssten daher angesichts ihrer Verpflichtung, die Wohnung zu räumen, auch alternative Wohnmodelle, z.B. getrennte Wohnungen für die Schuldner zu 1) und 2) auf der einen und den Schuldner zu 3) auf der anderen Seite in Betracht ziehen. Dass sie dies nicht wollen bzw. das gemeinsame Wohnen zu dritt vorziehen, spielt angesichts der erheblichen Interessen der Gläubigerin an der Räumung keine Rolle. Die Schuldner zu 1) und 2) haben ihre jetzige Situation, die aktuelle Wohnung räumen zu müssen, auch dadurch mit verursacht, dass sie ein Angebot der Gläubigerin, die Schuldner zu 1) und 2) könnten in der Wohnung wohnen bleiben, wenn sie zusichern würden, dass der Schuldner zu 3) die Wohnung verlasse, ausgeschlagen haben. Die erkennende Einzelrichterin erinnert sich aus ihrem Vorsitz in der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren daran, dass ein solches Angebot auch im Berufungsverfahren noch Thema war. Ein entsprechendes Angebot war auch erstinstanzlich erfolgt (vgl. Protokoll vom 11.05.2021, Bl. 127 der Gerichtsakte 1 S 127/21).
1034. Zusammenfassung der räumungsbedingten Härten für die Schuldner
104Zusammenfassend kann zu den für die Schuldner aus einer Räumungsvollstreckung folgenden Härten Folgendes formuliert werden:
105(1)
106Es kann nicht festgestellt werden, dass eine relevante räumungsbedingte oder räumungsbedingt erhöhte Suizidgefahr bei einem der Schuldner besteht.
107(2)
108Es kann festgestellt werden, dass die Räumung die Gefahr erhöht, dass sich das Fortschreiten der bei der Schuldnerin zu 1) bestehenden, bereits fortgeschrittenen schwergradigen Demenz beschleunigt.
109Räumungsbedingte schwerwiegende gesundheitliche Risiken zum Nachteil des Schuldners zu 2) kann das Beschwerdegericht nicht feststellen.
110Hinsichtlich des Schuldners zu 3) kann das Beschwerdegericht ebenfalls keine räumungsbedingten schwerwiegenden gesundheitlichen Risiken im Sinne einer lebensbedrohenden Situation feststellen, aber das Risiko einer geschlossenen Unterbringung wegen möglicher Fremdgefährdung.
111(3)
112Es kann festgestellt werden, dass die Zwangsräumung – wenn bis dahin nicht doch Ersatzwohnraum gefunden wird – zu einer Trennung der Familie führen wird, was bei der Schuldnerin zu 1) die Gefahr des beschleunigten Fortschreitens der Demenzerkrankung erhöhen dürfte und bei den Schuldnern zu 2) und 3) mit einer Sorge um die anderen Familienmitglieder verbunden sein dürfte.
1135. Räumungsinteresse der Gläubigerin
114Zur Feststellung, ob diese Härte als sittenwidrig im Sinne von § 765a ZPO einzustufen sind, bedarf es einer Abwägung der für die Schuldner durch die Räumung entstehenden Härten mit dem Interesse der Gläubigerin an der Zwangsräumung. Wie bereits eingangs ausgeführt hat das Vollstreckungsinteresse der Gläubigerin nach dem Willen des Gesetzgebers nur dann zurückzutreten, wenn ganz besondere Umstände dazu führen, dass die Vollstreckungsmaßnahme für den Schuldner zu einem untragbaren Ergebnis führen würde.
115Zugunsten der Gläubigerin sind zunächst die bereits eingangs beschriebenen Gesichtspunkte zu berücksichtigen, dass nach dem Willen des Gesetzgebers grundsätzlich das Vollstreckungsinteresse des Gläubigers vorrangig ist und eine Einstellung der Zwangsvollstreckung die Grundrechte des Gläubigers aus Eigentum und auf effektivem Rechtsschutz beeinträchtigt.
116Das Interesse der Gläubigerin aus Eigentum und an effektivem Rechtsschutz wird verstärkt durch die bereits lange Zeit von mehr als einem Jahr, in der die Schuldner trotz rechtskräftigen Räumungsurteils und Ablaufs der Räumungsfrist mit Ablauf des 31.10.2022 der Gläubigerin die Wohnung vorenthalten.
117Ebenfalls wird das besondere Interesse der Gläubigerin verstärkt durch den Anlass der Kündigung und das unstreitige Verhalten insbesondere des Schuldners zu 3) auch nach der Kündigung nebst den Auswirkungen auf die gesamte Situation im Haus.
118Die zum Räumungsanspruch führende Kündigung vom 16.07.2020 erfolgte wegen einer Störung des Hausfriedens. Wie bereits oben zu Ziffer I ausgeführt, stellte das Berufungsgericht insoweit eine körperliche Grenzüberschreitung des Schuldners zu 3) zum Nachteil einer Nachbarin fest, wobei der Schuldner zu 2) diese Grenzüberschreitung unterstützte: Der Schuldner zu 3) drückte die Zeugin am Abend des 10.07.2020 mit dem Gewicht und der Kraft seines Körpers derart an die Wand, dass die Zeugin sich nicht mehr bewegen konnte. Dabei kam der Schuldner zu 3) der Zeugin so nahe, dass sich ihre und seine Stirn fast berührten. Er schrie die Zeugin laut an, sodass seine Spucke auf ihrem Gesicht und Arm landete; ein bewusstes Anspucken der Zeugin durch den Schuldner zu 3) hat die Berufungskammer nicht festgestellt. Der Beklagte zu 2) kam hinzu und hielt die Zeugin an deren linken Arm zusätzlich fest.
119Soweit die Schuldner nunmehr (Schriftsatz vom 08.11.2023) wohl in Abrede stellen wollen, dass der Schuldner zu 3) bei dem Vorfall schuldhaft gehandelt hat, gilt Folgendes:
120Es ist bereits nicht zu erkennen ist, dass sich der Schuldner zu 3) bei dem Vorfall vom 10.07.2020 im Zustand der Schuldunfähigkeit befand. Dies ergibt sich auch nicht aus dem Gutachten des Sachverständigen L.. Dieser beschreibt bei Gesamtbewertung die Diagnose einer schizotypen Störung. Diagnostisch sei hierzu auf ein langfristig bestehendes, kontinuierliches exzentrisches Verhalten und Anomalien des Denkens und der Stimmung, welche schizophren wirken, ebenso hinzuweisen wie eine ausgeprägte Tendenz zu sozialem Rückzug und sensitiv-paranoider und bizarrer Ideen. Auch könnten Beziehungsideen und ein wiederholt vorgetragener Argwohn als krankheitswertige Kriterien bewertet werden. Auch der weiterhin vorgetragene soziale Rückzug werde am ehesten mit paranoiden Befürchtungen hierher bewertet. Beschrieben worden sei für den bisherigen Verlauf teilweise auch ein reizbares und aggressiv anmutendes Verhaltensbild. Hieraus folgert der Sachverständige, dass mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sei, dass eine räumungsbedingte affektive Reaktion in einer Fremdaggression münde. Aus dieser Beschreibung lässt sich nicht schließen, dass sich der Schuldner zu 3) beim Vorfall vom 10.07.2020 krankheitsbedingt in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand befand, es ihm also krankheitsbedingt nicht möglich war, von der Grenzüberschreitung gegenüber der Zeugin abzusehen.
121Letztlich kann dies aber dahinstehen: Die Kündigung konnte auch wegen einer Störung durch einen Schuldunfähigen erklärt werden. Das Berufungsgericht hat in seinem Urteil bei der Gesamtabwägung der Berechtigung der fristlosen Kündigung die Möglichkeit berücksichtigt, dass eine psychische Erkrankung des Beklagten zu 3) zu dem festgestellten Verhalten geführt, jedenfalls beigetragen haben mag. Trotzdem kam das Berufungsgericht in seiner Gesamtabwägung dazu, dass der Klägerin die Fortsetzung des Mietverhältnisses nicht mehr zuzumuten war.
122Dass der Hausfrieden zwischenzeitlich auch ohne die Räumung wieder hergestellt wurde, wird von keiner Seite vorgetragen und ist für die erkennende Einzelrichterin angesichts ihrer eigenen Wahrnehmungen in der mündlichen Verhandlung vor der Berufungskammer am 08.04.2022 zum Verhältnis zwischen den Schuldnern und ihren Nachbarn auch schwer vorstellbar. Im laufenden Beschwerdeverfahren hat die Gläubigerin zudem unwidersprochen vorgetragen, dass es zu weiteren Störungen durch den Schuldner zu 3) in Form von Bedrohungen gegenüber Mitmietern und Handwerkern gekommen ist (Schriftsatz vom 03.02.2023, Bl. 148 eA). Unwidersprochen trägt die Gläubigerin im Schriftsatz vom 27.02.2023 weiter vor, dass andere Anwohner im Haus enorme Ängste vor den Vollstreckungsschuldnern hätten, die Lage sei unzumutbar. Die Gläubigerin versuche, Ersatzwohnraum für diese anderen Mitbewohner zu finden (Bl. 223 eA). Nach ebenfalls unwidersprochenen Angaben der Gläubigerin im Schriftsatz vom 03.02.2023 (Bl. 148 eA) ist eine Neuvermietung von Wohnungen in dem Haus, in dem die Schuldner wohnen, nahezu unmöglich (Bl. 148).
123Die Eigentumsbeeinträchtigung durch den Verbleib der Schuldner in der Wohnung geht also deutlich über die von den Schuldnern bewohnte Wohnung hinaus. Dass die Schuldner, wie ihrerseits im Schriftsatz vom 14.02.2023 vorgetragen die Nutzungsentschädigung im Wege eines Dauerauftrags regelmäßig überweisen, kann diese Beeinträchtigung nicht ausgleichen und letztlich nur unerheblich abmildern.
124Dass die Schuldnerin zu 1) an der kündigungsbegründenden Hausfriedensstörung nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht beteiligt war, führt nicht zu einer Verringerung von deren Gewicht im Rahmen der erforderlichen Interessenabwägung. Richtig ist, dass die Schuldnerin zu 1) an der Störung des Hausfriedens nicht beteiligt war. Vielmehr wurde diese Störung nach den Feststellungen des Berufungsurteils sogar durch ein Einschreiten der Schuldnerin zu 1) beendet, die die Schuldner zu 2) und 3) vom höher gelegenen Treppenabsatz anschrie. Dies ändert aber nichts daran, dass die Störung des Hausfriedens auch die Beendigung des Mietverhältnisses gegenüber der Schuldnerin zu 1) rechtfertigte und deshalb auch sie zur Räumung verpflichtet. Auch insoweit ist zudem zu berücksichtigen, dass die Schuldnerin zu 1) nicht bereit war, die Konsequenz aus dem Vorfall dahingehend zu ziehen, dass sie ihren Sohn, den Schuldner zu 3) der Wohnung verwies, um mit ihrem Mann, dem Schuldner zu 2) in der Wohnung wohnen zu bleiben.
125Auch hinsichtlich der weiteren Störungen und Beeinträchtigungen der Gläubigerin nach der Kündigung besteht kein Anhaltspunkt dafür, dass sich der Schuldner zu 3) insoweit krankheitsbedingt in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand befand. Zudem kann auch hier das Beschwerdegericht nicht erkennen, dass die Gläubigerin verpflichtet wäre, nachhaltige Störungen durch einen Schuldunfähigen hinzunehmen.
1266. Gesamtabwägung
127a)
128In der Abwägung des vom Gesetzgeber schon im Ausgangspunkt stark gewichteten und hier wie gezeigt noch verstärkten Gläubigerinteresses an der Vollstreckung des Räumungsanspruchs mit den für die Schuldner zu 2) und 3) mit einer Räumung verbundenen Härten kann das Beschwerdegericht nicht erkennen, dass die Vollstreckung für diese Schuldner zu einem untragbaren Ergebnis führen und damit eine sittenwidrige Härte darstellen würde.
129Hinsichtlich des Schuldners zu 2) bestehen die Gefahr der Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft und die Härte, die Schuldnerin zu 1) nicht so versorgen zu können, wie er es gern täte. Das erste ist ein allgemeines Risiko der Zwangsräumung, das grundsätzlich hinzunehmen ist. Das zweite ist eine persönliche Härte, die allerdings hinter der dem besonderen Interesse der Gläubigerin zurücktritt. Dabei hat das Beschwerdegericht auch die unzureichende Wohnungssuche berücksichtigt.
130Hinsichtlich des Schuldners zu 3) besteht die Gefahr der Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft oder auch wegen möglicher Fremdgefährdung in einer geschlossenen Einrichtung und die Härte, die Schuldnerin zu 1) nicht so versorgen zu können, wie er es gern täte. Insoweit gelten zunächst die zum Schuldner zu 2) erfolgten Ausführungen entsprechend. Auch die Gefahr der Unterbringung begründet nach der Abwägung keine sittenwidrige Härte im Sinne von § 765a ZPO. Dabei hat das Beschwerdegericht zusätzlich berücksichtigt, dass der Schuldner zu 3) die kündigungsbegründende Störung verursacht hat und auch im Folgenden die Nachbarn durch sein Verhalten verunsichert hat. Es erscheint nicht untragbar, dass der Schuldner zu 3) zum Zwecke der Räumung und der Beendigung der schwierigen Situation im Haus ggf. vorübergehend geschlossen untergebracht werden muss, statt die Hausgemeinschaft langfristig Bedrohungen und einer hierdurch entstehenden Verängstigung (vgl. die unstreitigen Schilderungen der Gläubigerin in den Schriftsätzen vom 03.02.2023 und vom 27.02.2023) auszusetzen.
131b)
132Hinsichtlich der Schuldnerin zu 1) besteht die Gefahr einer Beschleunigung des weiteren Fortschreitens ihrer bereits fortgeschrittenen Demenz durch den Wechsel des persönlichen Umfelds. Zugleich ist zu berücksichtigen, dass die Schuldnerin zu 1) sich nicht allein versorgen kann und aus gesundheitlichen Gründen nicht in einer Obdachlosenunterkunft untergebracht werden kann, da sie der dauernden Pflege und Betreuung bedarf, die dort nicht gewährleistet ist. Zudem ist die Gefahr einer Verschlechterung der demenziellen Erkrankung besonders groß, wenn die Schuldnerin zu 1) allein und hilflos in eine Obdachlosenunterkunft gerät und nicht aus der Wohnung geordnet in eine versorgende Pflegeeinrichtung übersiedeln kann. Mit Blick auf dieses erhebliche Risiko erscheint dem Beschwerdegericht für die Gläubigerin das Abwarten um weitere drei Monate trotz des erheblichen Räumungsinteresses noch vertretbar, in denen eine Heimunterbringung der Schuldnerin zu 1) nach Einschätzung des Beschwerdegerichts organisiert werden kann. Eine Räumung vor dem möglichen Erreichen einer Heimversorgung der Schuldnerin zu 1) stellt aus Sicht des Beschwerdegerichts eine sittenwidrige Härte gem. § 765a ZPO zum Nachteil der Schuldnerin zu 1) dar.
133Soweit die Folgen des Wohnungswechsels dadurch abgemildert werden können, dass die Schuldnerin zu 1) in ein Pflegeheim ziehen kann, in dem sie versorgt wird und in ruhigen Umständen, also ohne die ständige Sorge um eine Zwangsräumung und die Konflikte in der aktuellen Nachbarschaft leben kann, erscheint die Härte der verbleibenden Gefahr einer Beschleunigung der demenziellen Erkrankung in Abwägung zu dem erheblichen Räumungsinteresse der Gläubigerin, wegen derer auf die obigen Ausführungen Bezug genommen wird, nachrangig. Insoweit hat das Beschwerdegericht insbesondere auch berücksichtigt, dass die Schuldner selbst nicht davon ausgehen, dass das Fortschreiten der Demenz an sich, sondern dass allein die Zügigkeit des Fortschreitens von der Veränderung des Wohnumfelds abhängt. Eine gewisse Beschleunigung des Fortschreitens der Erkrankung der Schuldnerin zu1) müssen die Schuldner angesichts des erheblichen Räumungsinteresses der Gläubigerin hinnehmen. Zugleich hat das Beschwerdegericht berücksichtigt, dass es der Gläubigerin angesichts ihres dargestellten erheblichen Räumungsinteresses nicht zuzumuten ist, über den völlig unbestimmten Zeitraum abzuwarten „bis die Demenz der Frau G. so weit fortgeschritten ist, dass der Wechsel von Umgebung und Bezugsperson für sie keinen Unterschied mehr macht“ (Schriftsatz vom 08.11.2023). Das Beschwerdegericht versteht, dass die Schuldner eine solche Beschleunigung des Fortschreitens der Krankheit gern verhindern würden, angesichts des erheblichen Vollstreckungsinteresses muss dieses menschliche Bedürfnis allerdings hier zurücktreten.
134Es ist nun Aufgabe der Schuldner, sich umgehend um eine solche besondere Unterbringungsmöglichkeit für die Schuldnerin zu 1) zu kümmern. Da aus den Feststellungen des Sachverständigen L. klar folgt, dass die Schuldnerin zu 1) insoweit ihre eigenen Interessen nicht mehr wahrnehmen kann, wird insoweit noch einmal die Einrichtung einer Betreuung beim Amtsgericht Schwelm angeregt. Dabei geht das Beschwerdegericht davon aus, dass ein Heimplatz für die Schuldnerin zu 1) binnen drei Monaten, also bis zum 29.02.2024 gefunden werden kann. Dabei ist nach der Abwägung durch das Beschwerdegericht grundsätzlich auch in Kauf zu nehmen, dass ggf. zunächst eine vorläufige Lösung gefunden wird, die den zeitlichen Raum verschafft, eine passgenaue dauerhafte Einrichtung für die Schuldnerin zu 1) zu finden.
135Nach der Abwägung der Interessen durch das Beschwerdegericht würde die Räumung vor diesem Datum, bis zu dem ein Heimplatz für die Schuldnerin zu 1) nach derzeitiger Einschätzung zu finden ist, zu einem für die Schuldnerin zu 1) untragbaren Ergebnis führen. Da die Schuldnerin zu 3) nicht allein in der Wohnung verbleiben kann, wird die Räumungsvollstreckung insgesamt bis zu diesem Datum gem. § 765a ZPO einstweilen eingestellt.
136III.
137Die Kostenentscheidung beruht, soweit die sofortige Beschwerde zurückgewiesen wurde, auf § 97 Abs. 1 ZPO, im Übrigen auf § 788 ZPO. Im Verhalten der Gläubigerin liegende Gründe, aus denen es der Billigkeit entspräche, die Kosten insoweit gem. § 788 Abs. 4 ZPO der Gläubigerin aufzuerlegen, kann das Beschwerdegericht nicht erkennen.
138Die Festsetzung des Gegenstandswerts orientiert sich am Jahreswert der Nettomiete für die zu räumende Wohnung.
139Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen, da die Voraussetzungen gem. § 574 Abs. 3 S. 1, Abs. 2 ZPO nicht vorliegen: Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Zudem erfordert weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts.