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Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Essen vom 17.10.2022 wird aufgehoben.
Die Sache wird zu erneuter Entscheidung über den Antrag des Verurteilten auf Strafaufschub an die Staatsanwaltschaft Essen zurückgegeben.
Gründe:
2I.
3Der Verurteilte ist mit Urteil des Landgerichts Essen vom 15.12.2020, rechtskräftig seit dem 24.11.2021, wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, wegen unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt worden. Von der Strafe gelten zwei Monate als Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer als vollstreckt.
4Mit Schreiben vom 25.01.2022 wurde der Verurteilte zum Strafantritt binnen vier Wochen seit Zustellung der Ladung in die Justizvollzugsanstalt K. (Bl. 13 d. Vollstreckungshefts) geladen. Mit Schriftsatz vom 02.02.2022 beantragte sein Verteidiger, Herr Rechtsanwalt T., Strafausstand wegen Vollzugsuntauglichkeit i.S.v. § 455 Abs. 2 und 3 StPO festzustellen bzw. bis zur endgültigen Klärung der Frage des Strafausstands Strafaufschub zu gewähren. Zur Begründung führte er aus, dass der Verurteilte schwer herzkrank sei und an Niereninsuffizienz Stufe III leide. Zudem sei er aufgrund eines Bauchaortenaneurysmas fortlaufend in ärztlicher Behandlung und bedürfte ständiger Schonung und Ruhe. Eine Operation des Aneurysmas solle im Frühjahr 2022 erfolgen.
5Unter dem 04.02.2022 wurde zunächst Strafaufschub bis zum 31.03.2022 bewilligt (Bl. 27 d.VH.) und um Übersendung aktueller ärztlicher Atteste gebeten. Mit Schreiben vom 17.03.2022 legte der Verteidiger des Verurteilten weitere Unterlagen vor und teilte mit, dass aktuelle Arztberichte hinsichtlich des kardiologischen Leidens erst nach einem Kardiologie-Termin am 26.04.2022 vorgelegt werden könnten. Unter dem 21.03.2022 (Bl. 40 d.VH.) wurde der Strafaufschub daher bis zum 30.04.2022 verlängert. Mit Schreiben vom 27.04.2022 (Bl. 48 ff. d. VH.) und 27.05.2022 (Bl. 78 ff. d. VH.) reichte der Verteidiger weitere ärztliche Unterlagen ein. Unter dem 07.06.2022 wurde der Strafaufschub erneut bis zum 07.08.2022 verlängert (Bl. 82 d. VH.). Mit Schreiben vom 28.06.2022 (Bl. 91 d. VH) teilte der Verteidiger des Verurteilten sodann mit, dass dieser notfallmäßig stationär in eine Klinik aufgenommen worden sei. Eine Anfrage der Staatsanwaltschaft Essen, in welche Klinik die Aufnahme erfolgt sei und wie lange der Verurteilte voraussichtlich in der Klinik verbleiben müsse, blieb unbeantwortet. Unter dem 13.07.2022 übersandte der Verteidiger des Verurteilten jedoch weitere ärztliche Bescheinigungen (Bl. 102 ff. d. VH.).
6Mit Verfügung vom 09.08.2022 (Bl. 118 d. VH.) beauftragte die Staatsanwaltschaft Essen eine amtsärztliche Untersuchung des Verurteilten zu dessen Haftfähigkeit. In ihrem Gutachten vom 11.10.2022 (Bl. 131 f. d. VH.) teilte Frau G., Ärztin des Gesundheitsamtes des Kreises P., mit, dass bei der vorliegenden Erkrankung des Verurteilten keine nahe Lebensgefahr zu verzeichnen sei. Das Risiko des Fortschreitens der Erkrankung in der Justizvollzugsanstalt sei mit dem Risiko des Fortschreitens der Erkrankung in Freiheit gleichzusetzen. Die Vollstreckung in einer Justizvollzugsanstalt sei daher vertretbar. Auch seien durch eine sofortige Vollstreckung keine gesundheitlichen Nachteile zu erwarten. Der Einsatz körperlicher Gewalt müsse jedoch zu jedem Zeitpunkt vermieden werden, ebenso körperlich schwere Tätigkeiten und Tätigkeiten, die das Herz-Kreislauf-System stark belasten. Anstehende Kontrolltermine sowie eine mögliche Operation müssten dem Verurteilter ermöglicht werden.
7Mit Schreiben vom 17.10.2022 wurde der Verurteilter zum Strafantritt binnen zwei Wochen seit Zustellung der Ladung in die Justizvollzugsanstalt K. (Bl. 137 d. VH.) geladen. Ausweislich des Vermerks der Staatsanwaltschaft Essen vom gleichen Tag bestehe in Ermangelung entsprechender Anhaltspunkte aus der Akte oder entsprechenden Sachvortrags des Verurteilten kein Anlass vom Vollstreckungsplan abzuweichen.
8Mit Schriftsatz vom 02.10.2022 erhob der neue Verteidiger des Verurteilten, Herr Rechtsanwalt B., die Einwendung gemäß § 458 Abs. 2 StPO. Diesem wurde mit Verfügung vom 15.11.2022 das Vollstreckungsheft für eine Woche zur Akteneinsicht übersandt und zugleich um Mitteilung ebenfalls binnen einer Woche gebeten, ob der Verurteilte sich zeitnah einer Operation unterziehen müsse bzw. aus welchen Gründen ein weiterer Haftaufschub erfolgen solle. Die Zustellung des Vollstreckungsheftes nebst Schreiben vom 15.11.2022 erfolgte am 24.11.2022. Eine Stellungnahme des Verurteilten oder seines Verteidigers erfolgte nicht.
9II.
10Der Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 458 Abs. 2 StPO ist zulässig und begründet.
11Der Antrag ist zulässig. Die Zuständigkeit der VII. Strafkammer des Landgerichts Essen als Gericht des ersten Rechtszuges ergibt sich aus § 462a Abs. 2 Satz 1 StPO.
12Der Antrag gemäß § 458 Abs. 2 StPO hat in der Sache einen zumindest vorläufigen Erfolg.
13Zwar ist es nicht zu beanstanden, dass die Vollstreckungsbehörde davon abgesehen hat, die Vollstreckung gemäß § 455 Abs. 2 StPO aufzuschieben. Danach ist Vollstreckungsaufschub zu gewähren, wenn von der Vollstreckung eine nahe Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen ist. Dies ist ausweislich des amtsärztlichen Gutachtens des Gesundheitsamtes des Kreises P. vom 11.10.2022 nicht der Fall. Die begutachtende Ärztin kommt nach Durchführung der amtsärztlichen Untersuchung sowie Einsicht in sämtliche zur Akte gereichten Arztbriefe und Atteste zu dem Ergebnis, dass bei der vorliegenden Erkrankung des Verurteilten keine nahe Lebensgefahr zu verzeichnen sei. Das Risiko des Fortschreitens der Erkrankung in der Justizvollzugsanstalt sei mit dem Risiko des Fortschreitens der Erkrankung in Freiheit gleichzusetzen.
14Die Aufforderung der Staatsanwaltschaft Essen zum Strafantritt musste auf den Einspruch des Verurteilten hin hier aber schon deshalb der Aufhebung unterliegen, weil sie nicht erkennen lässt, ob und in welcher Weise die Vollstreckungsbehörde ihr das bei der Entscheidung über einen (weiteren) Vollstreckungsaufschub zustehende Ermessen ausgeübt hat.
15Nach § 455 Abs. 3 StPO kann Strafaufschub wegen Unverträglichkeit der sofortigen Vollstreckung von der Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen bewilligt werden. Gemeint ist insoweit ein körperlicher Zustand des Verurteilten, der einen Strafaufschub sowohl im Interesse der Vollzugsanstalt, der Schwierigkeiten beim Vollzug erspart werden sollen, als auch in seinem eigenen geboten erscheinen lassen, etwa wenn die nötige ärztliche Behandlung im Vollzug nicht möglich wäre. Der Strafaufschub nach Abs. 3 setzt voraus, dass die sofortige Vollstreckung unverhältnismäßig ist (vgl. BGHSt 19,148; OLG Köln, Beschluss vom 7. August 2012 – III-2 Ws 575 - 576/12 –, Rn. 9, juris).
16Die Entscheidung über die Gewährung von Vollstreckungsaufschub steht damit im Ermessen der Vollstreckungsbehörde (KG 5 Ws 4/94 v. 5.1.1994 - NStZ 1994, 255) und kann gerichtlich auch nur auf Ermessensfehler überprüft werden (OLG Koblenz 2 Ws 24/14 v. 11.2.2014), also darauf, ob sie von einem rechtlich zutreffenden Begriff des Versagungsgrundes ausgeht und auf einer nachvollziehbaren Abwägung der entscheidungserheblichen Umstände beruht (OLG Celle 1 Ws 424/11 v. 26.10. 2011 - StraFo 2011, 524). Die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde muss deshalb eine für das Gericht nachvollziehbare Darlegung und Abwägung dieser Umstände enthalten (OLG Koblenz 1 Ws 387/03 v. 25.6.2003 - StraFo 2003, 434).
17Wird ein Antrag auf Aufschub der Strafvollstreckung wegen Vollzugsuntauglichkeit gestellt, muss die Entscheidung der Strafvollstreckungsbehörde Ausführungen enthalten über die Schwere der Erkrankung, die Dauer und die Art und Weise einer erforderlichen Behandlung, die Möglichkeit der Behandlung in einer Vollzugsanstalt oder einem Anstaltskrankenhaus sowie über die Erwartung des Fortbestands der Erkrankung für eine erhebliche Zeit (OLG Jena 1 Ws 340/03 v. 7.11.2003 - ZfStrVo 2004, 298 f.). Zu berücksichtigen ist auch, welche konkreten Maßnahmen und Rücksichtnahmen im Vollzug aufgrund der gesundheitlichen Beeinträchtigung des Verurteilten unerlässlich und ob die damit verbundenen Belastungen für alle Beteiligten in Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer baldigen Strafvollstreckung zumutbar sind (OLG Celle 1 Ws 424/11 v. 26.10.2011- StraFo 2011, 524). Fehlt es daran, unterliegt die Entscheidung der Strafvollstreckungsbehörde bereits deshalb der Aufhebung (OLG Koblenz 1 Ws 387/03 v. 25.6.2003 - StraFo 2003, 434; OLG Koblenz, Beschluss vom 17. Februar 2014 – 2 Ws 22/14 –, Rn. 9 - 10, juris).
18Dies ist vorliegend der Fall. So führt die Amtsärztin in ihrem Gutachten aus, dass dem Verurteilten die anstehenden ärztlichen Kontrolltermine und die Operation des Bauchaortenaneurysmas, sofern er sich für diese entscheide, ermöglicht werden müssen. Ob dies seitens der Justizvollzugsanstalt, insbesondere der für den Verurteilten vorgesehen Justizvollzugsanstalt K., geleistet werden kann, ist nicht ersichtlich. Auch Erwägungen dazu, ob die eine adäquate medizinische Versorgung des Verurteilten in der Justizvollzugsanstalt oder im Justizvollzugskrankenhaus I. erfolgen kann, fehlen. Als wesentliche Umstände wären hier unter anderem die vorliegenden Arztbriefe, die mit der anstalts-internen medizinischen Betreuung verbundenen Belastungen für alle Beteiligten sowie der mit zunehmender Dauer auch stärker zu gewichtende staatliche Anspruch auf Vollstreckung der mehrjährigen Freiheitsstrafe zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen gewesen. Dies ist nachzuholen, und zwar von der Vollstreckungsbehörde.
19Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst (BeckOK StPO/Coen, 45. Ed. 1.10.2022, StPO § 458 Rn. 8).